Theater der Zeit

Machen

Wer ist mein Gegenüber?

von Carena Schlewitt

Erschienen in: Recherchen 114: Fiebach – Theater. Wissen. Machen. (06/2014)

Meine fast erste „Amtshandlung“ als Künstlerische Leiterin der Kaserne Basel in der Schweiz war die Teilnahme an dem sogenannten Bäremähli in der Kaserne im Januar 2008. Dem ging eine Anfrage der damaligen Kantonsparlamentspräsidentin im Herbst 2007 voraus.

Ich bin zur Zeit die amtierende baslerische Kantonsparlamentspräsidentin und möchte Sie gerne als Mitglied der Bärengesellschaft anfragen, ob ich Sie evtl. an unserer Feier, dem Bärenmahl, am Abend des 11.1.08 in der Kaserne als Ehrengast zu einem Sofagespräch empfangen dürfte.

Zum historischen Hintergrund und den aktuellen Anliegen der Bärengesellschaft: Der alljährliche Vogel-Gryff-Umzug der Drei Ehrenzeichen, der seit 1797 im regelmäßigen Turnus im Januar abgehalten wird, gehört zu den eindrücklichen Bräuchen, die eine schweizerische Stadt in unserer Zeit zu bieten hat. Die Hauptakteure dieses Kleinbasler Volksfestes sind die Wappenhalter der Drei Ehrengesellschaften: der Vogel Gryff der Gesellschaft zum Greifen, der Wilde Mann der Gesellschaft zum Hären und der Leu der Gesellschaft zum Rebhaus. – Bis heute werden nur Männer in den Ehrengesellschaften als Mitglieder aufgenommen.

Vor vielen Jahren zog zusammen mit dem Vogel Gryff, dem Wilden Mann und dem Leu noch ein viertes Wappentier am Vogel-Gryff-Tag durchs Kleinbasel. Begleitet von seinen schwarz-weißen Uelis marschierte ein großer schwarzer Bär im Umzug mit. Er war das Wappentier der Gesellschaft zum Bären und die Symbolfigur für das freie, offene und unabhängige Kleinbasel. Vor zehn Jahren wurde dem vierten Wappenzeichen wieder Leben eingehaucht. In der Bärengesellschaft werden selbstverständlich Frauen als Mitglieder zugelassen. Ihr Ziel ist ein Beitrag [sic] an die gesamtgesellschaftliche Integration im Quartier zu leisten. Die Gesellschaft macht in diesem Sinne auch entsprechende Vergabungen für Quartiersprojekte. Als zukünftige Kasernenleiterin werden Sie auch für das Quartier eine wichtige Rolle einnehmen. Unsere Gäste werden also sicher sehr gespannt auf Sie sein und Sie gerne näher kennenlernen.

Ich hatte mich für den Wechsel nach Basel auf einiges eingestellt – andere Sprache, Kulturstadt, Chemiestadt, Fasnacht, Dreiländereck, der Rhein, aber dass die erste Begegnung einen Bogen zum Thema meiner Diplomarbeit am Institut für Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin schlagen würde, hatte ich nicht erwartet. Nun konnte ich mit meinem noch marginalen Wissen über den Wilden Mann & Co zwar etwas beim „Sofagespräch“ des Bäremähli punkten, aber Ivan Ergić, der damalige Starfußballer des FC Basel, der mit mir auf dem Sofa saß, hatte beim Publikum eindeutig die besseren Karten – vor allem bei den Kindern.

Das Thema meiner Diplomarbeit lautete „Maskenbrauchtum vorkapitalistischer Kulturen in Mittel- und Westeuropa“. Professor Rudolf Münz war mein Betreuer, damals bereits von der Theaterwissenschaft/Universität Leipzig aus. Aber – und das war ein zeitlicher Glücksfall – ich konnte noch knapp vor Fertigstellung meiner Arbeit das Manuskript Die Toten als die Macht der Lebenden. Zur Geschichte und Theorie von Theater in Afrika1 von Professor Joachim Fiebach lesen. Diese Lektüre war damals für mich enorm wichtig, weil sie unter anderem eine außereuropäische Sicht auf Maskenphänome in vorkolonialen afrikanischen Kulturen untersuchte und damit eine ganz neue Welt eröffnete, auf die ich im Kontext meiner Diplomarbeit zwar nur einen kurzen Blick werfen konnte, die mir jedoch Fragen der theatergeschichtlichen Forschung für diesen Moment sehr nahebrachte. Der zweite Aspekt, der mich bei der Lektüre von Fiebachs Buch stark bewegte, waren seine Beschreibungen, Analysen und Auseinandersetzungen mit dem damaligen afrikanischen Gegenwartstheater. Dieses „andere Theater“ – eigentlich ein Terminus, den Fiebachs Kollege Münz erfand und zum Titel eines Buches2 machte, wirkte auf mich wie ein Korrektiv meiner damaligen Seh-Erfahrungen im Theater. Hier ging es um Formen wie Concert Partys, Guerilla-Theater, Wandertheater, die anders als das (ost)deutsche Stadttheater ihre starken gesellschaftlichen Inhalte – im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte und deren Folgen – in unterschiedlichste mobile (!) theatralische Formen übertragen haben und die immer auch mit einem sehr direkten Verhältnis im Austausch mit dem Publikum verbunden waren.

Die Geschichte meines Einstieges mit dem Bäremähli in Basel soll nun nicht als Beweis dafür dienen, dass und wie das Studium der Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und seine Hochschullehrer, insbesondere Joachim Fiebach, mich auch heute noch, dreißig Jahre später, für die Praxis ausgerüstet haben. Das wäre selbstverständlich zu kurz gegriffen. Wenn ich darüber nachdenke, was mir der Lehrer Joachim Fiebach in seinen Vorlesungen, Seminaren, Büchern und in Gesprächen mit ihm mir für mein Verhältnis zum Theater mitgegeben hat, so könnte ich das wie folgt zusammenfassen: Entscheidend an meiner Ausbildung war, ein persönliches Verhältnis von Wissen, prozesshaftem Denken und Praxiserfahrung aufzubauen. Die beiden Aspekte der Prozesshaftigkeit und Kontextualisierung auf einer zeitlichen Achse, weit in die Theatergeschichte zurückgehend, sowie auf einer räumlichen Achse über die DDR und die sozialistischen Länder hinaus, eröffneten ein riesiges Feld von Theatermöglichkeiten und Denkansätzen für das Theater. Mit dieser Grundausstattung meines Studiums glaube ich, die letzten dreißig Jahre Theatergeschichte begleitet zu haben und partiell auch reflektieren zu können.

In den „Thesen zu theoretisch-methodischen Fragen der Theatergeschichtsschreibung“ von Rudolf Münz und Joachim Fiebach heißt es:

Der Gegenstand einer solchen Theatergeschichte muss unseres Erachtens sein das gesellschaftlich-künstlerische Phänomen Theater als Einheit von Kunstkonzeption, Kunstpraxis, Kunstinstitution und Kunstrezeption in seiner konkreten historischen Entwicklung. […] eine Geschichte von künstlerischen Konzeptionen, ihrer Verwirklichung in bestimmten organisatorisch-institutionellem Rahmen (als Verankerung) und ihrer Wirksamkeit auf die Gesellschaft (in Wechselbeziehung).3

Aber was hieß das praktisch für meine Arbeit? Die wesentlichste Zäsur war sicher mit dem Verschwinden der DDR der Wechsel des Gesellschaftssystems – für mein Leben und für das Theater. Das Referenzsystem der DDR-Gesellschaft, einer sozialistischen Gesellschaft, prägte meine Jugend, meine Ausbildung und auch meine Theatersozialisation. Aus dieser Perspektive war meine Arbeit an der Akademie der Künste der DDR in Ost-berlin rückblickend für mich fast „einfach“. Denn obwohl wir am Theaterinstitut der Humboldt-Universität eine für DDR-Verhältnisse umfassende, historisch-kritische und perspektivisch international ausgerichtete Ausbildung erfuhren, war unser Denken doch in gewisser Weise dual ausgerichtet, was dem Umstand der damaligen Blocksysteme – Ost und West – geschuldet war. Es gab den Sozialismus in seinen verschiedenen Ausprägungen und den Kapitalismus in seinen verschiedenen Formen, bis hin zur sozialen Marktwirtschaft. Und dann gab es für beide Systeme noch den „Rest“, die sogenannte Dritte Welt. Das war die Folie, vor deren Hintergrund ich das Theater, soweit ich es gesehen habe, reflektieren konnte, kritisch, enthusiastisch, befragend. Und das war die Folie, vor deren Hintergrund ich mich an der Akademie der Künste mit Heiner Müller, Wole Soyinka, Anatoli Efros, Tadeusz Kantor, Robert Wilson und mit Themen wie der Legitimierung von Freien Theatergruppen – unter anderem am Beispiel der Gruppe Zinnober –, mit der Gründung eines Autorentheaters und vielem anderem befasste. Die Veranstaltungen oder auch Publikationen – von „Projekten“ hat man damals noch nicht gesprochen – waren äußerst intensiv an kulturpolitische Prozesse gebunden, sind zum Teil gescheitert oder konnten überraschenderweise ohne größeren Widerstand stattfinden.

Nach dem Fall der Mauer und dem sowohl schnellen wie auch langsamen Verschwinden der DDR, des sozialistischen Systems, der anderen, (ost) deutschen Sprache und Gesten, verschwand zumindest partiell auch das Referenzsystem, das die Frage zu stellen erlaubt hätte, was das Theater in dieser „neuen“, praktisch unbekannten Gesellschaft kann und wie es diesen gesellschaftlichen Umbrüchen mit seinem Live-Charakter gerecht werden kann. In den neunziger Jahren und den Folgejahren begann für mich eine spannende Zeit der Suche nach einer neuen, anderen Relevanz von Theater.

Die plötzlich errungene Freiheit schaffte zunächst für die lang erhoffte Freie Szene Ostdeutschlands ein Vakuum, ebenso wie an den ostdeutschen Stadttheatern die noch vorhandene, aber entmachtete alte Gesellschaft und die bereits installierte, aber noch nicht verankerte neue Gesellschaft ein Vakuum der Referenz – für wen spielen wir eigentlich Theater? – erzeugte. Hinzu kam, dass auch die Bundesrepublik Deutschland ins Rutschen kam. Mit dem Verschwinden der DDR verschwand auch die alte Bundesrepublik. Auch dort kam – zwar viel langsamer als in der DDR – ein Prozess der gesellschaftlichen Veränderung ins Rollen, der vielleicht erst zwei Jahrzehnte später wirklich sichtbar wurde.

Aber neben all den deutsch-deutschen Prozessen und Veränderungen, die auch biografisch eine große Rolle spielen, fand fast parallel ein umfangreicherer Prozess statt, der die eigene kleine Verwurzelung in Ost oder West und das damit verbundene Unrecht oder Recht oder beides aus den Angeln hob. Gemeint ist die Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien im großen Stil, die unser Leben umfassend verändert hat und nun gestaltet, egal ob im Alltag, in der Arbeit oder in unseren Beziehungen. Und gemeint ist die Globalisierung von Produktionsprozessen, die den individuellen, emotionalen Bezug zu Herkünften, zu Territorien zweitrangig erscheinen lassen, obwohl man hier bereits wieder von einer Gegentendenz der Regionalisierung und Lokalisierung sprechen könnte. Darauf komme ich noch zurück, wenn es um die spezifische Ansprache von Milieus im Theater geht.

Diese hier nur sehr grob skizzierten Veränderungen sind der Rahmen, in dem sich meine theaterpraktische Suche als Dramaturgin abgespielt hat. Nach meiner Arbeit an der Akademie der Künste habe ich ausschließlich im Kontext des freien Theaters und seiner Produktionssysteme gearbeitet und nach Theaterformen der Gegenwart gesucht, die im Spannungsverhältnis von Produktion und Rezeption etwas aussagen und/oder bewirken. Ich möchte und kann hier nicht im Einzelnen auf Erfahrungen, Begegnungen, Inszenierungen, Projekte und Festivals eingehen, die im Zusammenhang mit meinen Stationen Podewil Berlin, Theater der Welt Berlin und Düsseldorf, Forum Freies Theater Düsseldorf, Hebbel am Ufer Berlin und nun Kaserne Basel stehen. Aber ich möchte versuchen, zwei Grundtendenzen meiner Arbeit zu skizzieren, die ich immer wieder beobachte und die vielleicht einen Rückschluss auf meine Ausbildung erlauben.

Neben einzelnen Theaterereignissen, die für den einzelnen Theater-besucher, auch für mich, in der Intensität des Erlebnisses eine enorme Rolle spielen, ist für mich als Dramaturgin, auch als Leiterin eines Produktionsund Gastspielhauses, die Kontextualisierung von Theater immer noch ein wesentliches Ziel meiner Arbeit. Dabei muss ich festhalten, dass dieser Aspekt meiner Arbeit, die Reflexion und die Kontextualisierung, im Zuge der Veränderung der Arbeit einer Dramaturgin oder, wie man in den letzten Jahren immer häufiger sagt, Kuratorin immer wieder neu erobert werden muss. Dieses Ringen um Zeit für die inhaltliche Auseinandersetzung und die Reflexion unserer Arbeit steht im Zusammenhang mit der Veränderung von Theaterinstitutionen und deren Arbeitsweise. Das Theater findet nicht nur auf der Bühne statt, es ist auch eine soziale Organisationsform beziehungsweise Institution, die selber Zeit kostet. Auch das ist ein wichtiger Punkt in Fiebachs und Münz’ Thesen zur Theatergeschichtsschreibung.

Zurück zur Kontextualisierung: Ich hatte in den Jahren 2003 bis 2008 als Kuratorin für das HAU in Berlin die Möglichkeit, mich mit den Transformationsprozessen ehemaliger und noch existierender sozialistischer Gesellschaften auseinanderzusetzen. Ich konzipierte und organisierte zwei Ausgaben des Festivals Polski Express (2004 und 2006), entwickelte ein thematisches Produktionsfestival zum Thema deutsch-deutsche Wendeverarbeitung im Rahmen von Poker im Osten (2005, zusammen mit Barbara Gronau) und begab mich schließlich mit ebendiesen Fragen nach gesellschaftlicher Transformation und deren künstlerischen Verarbeitung nach China. Entstanden ist das Festival Umweg über China (2007, zusammen mit Anselm Franke und Anja Goette). Während die polnischen Theaterproduktionen sehr fokussiert die Auseinandersetzung mit der „neuen Zeit“ führten, indem sie sich auf die polnische Geschichte bezogen und in eine Vorahnung von europäischer Zukunft mündeten, war der Arbeitsprozess für Poker im Osten zwar sehr intensiv, aber die Theater-arbeiten wurden eher als Zwischenergebnisse einer Auseinandersetzung wahrgenommen, die gerade erst begonnen hatte.4 Auffallend im Arbeitsprozess zu Poker im Osten war, dass sich die westsozialisierten Gruppen sehr konkret mit Erscheinungen, Beispielen der Wendezeit auseinandersetzten und die ostsozialisierten Gruppen eher nach Übersetzungen von Themen, Erscheinungen suchten – bei ihnen fand eine assoziative Verarbeitung des Themas Transformation allgemein statt. So hat sich beispielsweise Hans-Werner Kroesinger intensiv mit den Dokumenten der Treuhandanstalt auseinandergesetzt und Gesine Danckwart hat sich mit dem ostdeutschen Ort Neuruppin und dem westdeutschen Travemünde beschäftigt, während sich norton.commander.productions aus Dresden dem Frankenstein-Stoff gewidmet hat und das Theaterhaus Weimar der Idee des Hündischen und Fragen von Treue und Unterwerfung nachgegangen ist. Jahre später und sogar nach dem groß angelegten Jubiläum des 20-jährigen Mauerfalls stellte ich sowohl bei etablierten freien Gruppen wie She She Pop als auch bei jüngeren Gruppen wie zum Beispiel Dramazone ein großes Interesse an dem Thema der Ost-West-Sozialisation fest. She She Pop hat mit ihrer Produktion Schubladen einen gedanklichen Erinnerungsort geschaffen, der mittels ihrer Spielkonstruktion dem Theaterzuschauer einen permanenten Ein- und Austritt in die Erinnerungsschleifen ermöglicht und somit einen erstaunlich freien Umgang mit den beiden Geschichten der DDR und der BRD – über den Nostalgiebonus hinaus – erlaubt.

Das China-Festival stellte eine größere Herausforderung dar, nicht nur wegen der Entfernung, Größe und kulturellen Andersartigkeit des Landes. Die Schwierigkeit bestand darin, viele Erscheinungen des noch existierenden Sozialismus chinesischer Prägung zu eigenen Erfahrungen in einem sozialistischen Land ins Verhältnis setzen zu können und gleichzeitig auch wieder nicht. Diese Ambivalenz, gekoppelt an die junge zeitgenössische und kleine Szene der performing arts machte das Problem der künstlerischen Darstellbarkeit von Transformationsprozessen deutlich. Und noch viel stärker wurde dieses Problem überlagert von Fragen der globalen Rolle Chinas in Wirtschafts- und Finanzprozessen und der damit verbundenen allgemeinen Herausforderung, China zu verstehen. In diesem Annäherungsprozess, der auch ein Unsicherheitsprozess war, setzten wir François Jullien mit einem Eröffnungsvortrag „Umweg über China“ an den Beginn des Festivals. Das Ziel war, ein Bewusstsein darüber herzustellen, wie wir uns anderen Kulturen nähern und was ein solcher Annährungsprozess mit unserem gesellschaftlichen Umfeld, unserem Tun verbindet. Künstlerisch hat das Festival neben den bekannten Exponenten der chinesischen zeitgenössischen Theater- und Tanzszene Living Dance Studio, Zuhe Niao und Cao Kefei insbesondere mit Erinnerungsräumen bildender Künstler gearbeitet, die den Zuschauer für Momente in andere Welten eintauchen lassen, die teilweise auch körperlich zu einer Herausforderung wurden. Als Beispiel sei hier die Installation Chinese Confession Room von Zhao Liang genannt, eine mit roten Samtvorhängen gebaute Kammer für einen Zuschauer, der allein einem Video-Triptychon gegenüberstand. Drei Bauern, die Holz gestohlen haben, um für ihre Familien Feuerwerk zum Neujahrsfest kaufen zu können, werden während eines Verhörs von der Polizei geschlagen – eine Sequenz, die Zhao Liang während der Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm aufgenommen hat. Parallel dazu werden Wander-arbeiter während ihres Mittagsschlafs auf einer Großbaustelle gezeigt. Das körperliche Unbehagen, dieser Szenerie beizuwohnen und nichts tun zu können, vergrößert sich durch die Einzelsituation des Zuschauers. Der Künstler Wang Jianwei zeigte eine speziell für das Festival produzierte Video-Arbeit, Symptom, auf der Bühne des Hebbel Theaters, projiziert auf eine riesige Leinwand zwischen den Portalseiten. Dafür baute er in seinem Studio in Beijing die Bühnenfläche des Hebbel-Theaters nach und installierte auf vier Abschnitten charakteristische Attribute aus vier Phasen der chinesischen Geschichte. Sein Thema war der neue Materialismus in China im Kontext der alten Frage, sich satt essen zu können. Die Bildende Künstlerin Cao Fei wiederum präsentierte die Installation Utopia Factory, die sich auf ein Kunstprojekt mit den Arbeitern von OSRAM China Lighting für den Standort Foshan beschäftigte.

Die anwesende chinesische Künstlercommunity beschrieb uns immer wieder den für sie enormen Wert des Festivals, ihres so ermöglichten interdisziplinären Diskurses, für den es in China damals in dieser Form keinen Ort gab. Die Beziehungen zu einigen Künstlern sind geblieben und so konnte ich zu einem späteren Zeitpunkt unter anderem die Produktion Memory des Living Dance Studios nach Basel einladen, eine achtstündige Performance zur Aufarbeitung der Kulturrevolution in China. Wen Hui, Tänzerin und Choreografin, bewegt sich in diesen acht Stunden sehr langsam mit ständig leicht nach hinten gebeugtem Rücken vorwärts und wieder zurück, während Dokumentaraufnahmen aus der Zeit der Kulturrevolution und von Interviews sowie kleine räumliche Veränderungen hinter der Projektionsfläche des Moskitonetzes stattfinden. Die Brisanz, Stärke und Verwundbarkeit des einzelnen Körpers im Umfeld der Ereignisse und Nachwirkungen der Kulturrevolution öffneten den Erinnerungsraum zum Publikum.

Ich komme zu einem zweiten Punkt des Rückblicks Ausbildung und Theaterpraxis. Wenn man über den viel beschworenen Prozesscharakter des Theaters, sein konstituierendes Element, nachdenkt, haben insbesondere die letzten zwanzig Jahre inhaltlich, ästhetisch und strukturell auf der Ebene der Reflexion und Ausbildung einen enormen Schub bekommen. Ich möchte an dieser Stelle aus dem Buch Inseln der Unordnung von Joachim Fiebach aus dem Jahr 1990 zitieren:

Kann heute eine Kunst, deren Darstellungs- und Kommunikationsstrukturen denen des Alltäglichen nahe oder fast identisch sind, besondere, störende, kreativ-befreiende Impulse geben? Wie weit würde sie das wiederholen, in günstigen Fällen variieren, was in den Geschwindigkeiten, den Rhythmen übergreifender Verkehrsweisen und besonders der audiovisuellen Medien fast vertraut, ein eingeschliffener Code geworden ist? Wo lägen in den partikulären Kunstbereichen, speziell auch des Theaters, jene Freiräume für das Kreative, für Phantasieproduktion, für das Experimentieren mit dem Anderen, die für die Avant-garde höchstens Stellenwert haben? Er sähe eine Möglichkeit, so [Heiner] Müller 1981, das Theater für ganz kleine Gruppen zu benutzen, „um Phantasieräume zu produzieren, Freiräume für Phantasie – gegen diesen Imperialismus der Besetzung von Phantasie und Abtötung von Phantasie durch die vorfabrizierten Klischees und Standards der Medien.“ […] Als Müller 1981 Theater einen möglichen Freiraum und indirekt eine der notwendigen „Inseln der Unordnung“ nannte, gebrauchte er schon lange nicht mehr die alte schöne, blauäugige Formel vom „Laboratorium sozialer Phantasie“.5

Die Vorstellung von Kunst ist generell profaniert; der Umgang mit ihr kann realistischer werden. Zugleich sind dadurch mögliche Grenzen fließend geworden zwischen den Tätigkeiten, die nur blind das allgemeine Bewegungsspektakel mitvollziehen und solchen mit emanzipativen Aspekten.6

Ohne im Einzelnen die Frage des Verhältnisses von Stadttheatersystem und dem System vernetzter Produktionshäuser und Festivals zu untersuchen, ist doch rückblickend auf die Zeit seit Beginn der neunziger Jahre festzuhalten, dass allein die explosiv gewachsene freie Szene und deren – im Verhältnis noch nicht adäquat ausgestattete – Produktionsstruktur die These von den Inseln der Unordnung belegen. Das heißt nicht, dass es in diesem Produktionssystem keine großen Produktionen und Events gibt, und dass es auch hier mit der künstlerischen Etablierung zu einer strukturellen Etablierung kommt, die sich bereits wieder institutionalisiert – und somit dem Stadttheater als Institution in Form ihrer Institution gegenübersteht. Es hat sich ein international vernetztes Theatersystem entwickelt, mit Protagonisten aus unterschiedlichsten künstlerischen und anderen gesellschaftlichen Bereichen, die aus ihren Kontexten heraus auch unterschiedlichste Inhalte mitbringen, Formen entwickeln und Formate ausprobieren.

Für jede Gruppe, jedes Theater bedeutet diese Entwicklung ganz praktisch einerseits die Spiegelung einer enorm ausdifferenzierten Gesellschaft und andererseits die Ansprache vieler einzelner, großer und kleiner Publikumsgruppen mit je spezifischen Interessen – sei es künstlerisch und ästhetisch oder inhaltlich, politisch und kommunikativ. In Berlin stellten sich diese Fragen auf der Produktions- und Rezeptionsseite für mich anders dar als in Basel, was mit der Geschichte, aber auch mit der jeweils gegenwärtigen Stadtgesellschaft zu tun hat.

In jedem Fall ist die junge künstlerische Szene, die Nachwuchsszene neben ihren Experimenten mit Formen und dem Finden von eigenen künstlerischen Sprachen immer auch ein Seismograph für das Entstehen neuer Publika. Das ist sicher ein Grund, warum gegenwärtig viel stärker als noch vor Jahren das Interesse an den Jungen als Interesse an einem „Humus“ für die verschiedenen Häuser und Festivals zu verstehen ist. Parallel dazu gibt es andere Szenen, Milieus, Publika, die in den Fokus des Theaters gerückt sind – allen voran die migrantisch geprägten Gesellschaftsschichten, aber auch die Kreativszenen, die popkulturell geprägten Milieus, temporär politische Aktionsgruppierungen, verschiedene Milieus bis hin zu den virtuell ausdifferenzierten und wechselnden Gemeinschaften. Wenn das Theater gegenwärtig eine gesellschaftliche Relevanz erreichen will, so kann es diese nur mit einem „Komplexauge“ in alle Richtungen erreichen. Die Inseln der Unordnung sind keine Einzelfälle, sie befinden sich auf einer riesigen Insellandkarte. Zu der anfangs erwähnten Zeit- und Raumachse, die während unseres Studiums größtmögliche Räume für ein theatrales Denken eröffnet hat, kommt jetzt die konstituierende Dimension des vernetzten Denkens hinzu.

Ich hoffe und wünsche den heutigen Studenten der Theaterwissenschaften, dass sie Hochschullehrer haben, die so wie unsere damaligen Lehrer, so wie Joachim Fiebach, die Zeichen der Zeit aufnehmen, in die Theatergeschichte einbauen, sie neu denken und gleichzeitig wesentliche theatertheoretische Fragen stellen, die eine Orientierung im Inselmeer der immer noch spannenden alten Kunst Theater möglich machen.

Ich bedanke mich bei Joachim Fiebach für die vielen Anregungen, die mich direkt und indirekt in meiner Arbeit bis heute begleiten.

1 Fiebach, Joachim: Die Toten als die Macht der Lebenden. Zur Geschichte und Theorie von Theater in Afrika, Berlin 1986.

2 Münz, Rudolf: Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit, Berlin 1979.

3 Fiebach, Joachim/Münz, Rudolf: „Thesen zu theoretisch-methodischen Fragen der Theatergeschichtsschreibung“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin 3/4 (1974), S. 359–367, hier S. 361.

4 Schlewitt, Carena: Polski Express. Ein Streifzug durch Geschichte und Gegenwart des polnischen Theaters, in: Import, Export. Arbeitsbuch zum HAU Berlin, hrsg. v. Kirstin Hehmeyer und Matthias Pees (=Arbeitsbuch 21), Berlin 2012, S. 100–109.

5 Fiebach, Joachim: Inseln der Unordnung. Fünf Versuche zu Heiner Müllers Theatertexten, Berlin 1990, S. 216 f.

6 Ebd., S. 220.

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