Theater der Zeit

Rückblick

Sechzig Jahre Theater der Zeit

von Friedrich Dieckmann

Erschienen in: Theater der Zeit: 60 Jahre Theater der Zeit – Theater im Glück (05/2006)

Assoziationen: Dossier: TdZ-Geschichte Harald Müller Martin Linzer

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Als der emeritierte Siegener Germanistik-Ordinarius Helmut Kreuzer in den neunziger Jahren daran ging, mit seinem Mitarbeiter Karl-Wilhelm Schmidt die „Dramaturgie der DDR“ zu ergründen, standen am Ende der Arbeit zwei großformatige Sammelbände von zusammen 1304 Seiten, mit Texten aus vielen publizistischen Bereichen, vor allem aber aus Theater der Zeit. Zu ihrem 60. Gründungstag macht es die Zeitschrift ihren Abonnenten, sofern sie einen neueren PC besitzen, um einiges leichter: eine dünne, blinkende Scheibe enthält die ausgebreitete Blütenlese, die Martin Linzer aus allen jemals erschienenen Heften dergestalt unternommen hat, daß er jedem von ihnen einen Text entnommen hat, sei er kurz oder lang, sei er Werkstattgespräch, Aufführungskritik, kulturpolitische Verlautbarung oder eine Annotation von Wohnungstauschregelungen.

Martin Linzer ist der Altgeselle, Altmeister der Zeitschrift, vor zwei Jahren konnte er etwas wie die goldene Hochzeit seiner Verbindung mit ihr begehen: er ist seit zweiundfünfzig Jahren mit nur einer Unterbrechung (von 1963 bis '67) dabei, in allen nur denkbaren Funktionen: als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Redakteur, Redaktionssekretär, Chefredakteur, Mitherausgeber, Beiratsmitglied. Nicht die Dramaturgie in der DDR war sein Thema, die von der Dramaturgie der DDR zu unterscheiden ist; auch sie wäre ein reizvolles Thema, in sofern sich zeigen ließe, daß di e Geschichte dieses Landes mit einiger Präzision dem klassischen Muster des fünfaktigen Dramas folgte, mit Aktschlüssen 1953, 1961, 1971, 1981 und 1990. Was der Theater-der-Zeit-Elektor im Sinn hatte, war mehr als Dramaturgie: das kaleidoskopisch vielgestalte Porträt einer Zeitschrift, die lange Zeit das Theaterleben eines ganzen Landes widerspiegelte, wie die Realismus-Anforderung lautete, doch fehlt es nicht, daß seine Auswahl sich nicht nur betreffs der Autorennamen, sondern auch in vielen einzelnen Texten mit der Sammlung von Kreuze r und Schmidt überschneidet. Linzers silbern schimmernder Blütenkorb erweist sich als eine theatergeschichtliche Fundgrube ersten Ranges, einschließlich des die Geschichte der Zeitschrift selbst erschließenden Kommentars, den der Editor sein er 750-teiligen Anthologie vorangestellt hat. Er erschließt die Wendungen und Windungen einer Journal-Geschichte, die sich mit einem Verlag (dem von Bruno Henschel), einer Organisation (dem Theaterverband der DDR) und etwas zwischen beiden verbindet, das seit 1993 Interessengemeinschaft Theater der Zeit e. V. heißt; ein Name, ein Titel hat sich selbständig gemacht. 

Die Technik ist weit gekommen in diesen sechzig Jahren, aber doch nicht so weit, daß digitale Magie uns die Hefte schon in ihrer Gegenständlichkeit vorzustellen vermöchte, als dreidimensionale Reproduktion, bei der man das Heft per Cursor aus dem Regal nimmt, um es aufzuschlagen und darin zu blättern. Bis es soweit ist (es ist nur eine Frage der Zeit, bis alles um uns imaginär geworden sein wird), müssen wir noch selber in den Keller gehen, um nach alten Jahrgängen Ausschau zu haIten. Tatsächlich, einige liegen griffbe reit im Regal, und die staubigen Plastikhüllen sind schnell entfernt; was zutage tritt, ist der Jahrgang 1966: 24 Hefte mit je 42 engbedruckten, durch zahlreiche Abbildungen aufgelockerten Seiten. Die Hefte finden sich, in starkem Gegensatz zu ihrer schlichten Fasson, in einer goldgeprägten, mit blauem Leinen überzogenen Einbanddecke, die man damals beim Verlag bestellen konnte; so etwas h at es später nicht mehr gegeben. Diese dünnen, vierzehntägig erschein enden Hefte sind die Gestalt, in der mir die Zeitschrift entgegentrat, als ich 1965 als Beiträger bei ihr tätig wurde, überwiegend im Bereich der Oper und gleich am Anfang (da ging es um Bühnenwerke von Wagner-Regeny und Caspar Neher: „Deutsche Oper unterm Faschismus“) in eine Kollision mit Dieter Härtwig, dem Biographen des Komponisten, geratend. Er entgegnete einige Hefte weiter, und Manfred Nössig, der Chefredakteur, gab mir Gelegenheit zu unmittelbarer Erwiderung; das war in solchen Fällen wichtig. 

Martin Linzer hat darauf hingewiesen: die Oper kommt zu kurz in seiner Blütenlese, diese beschränkt sich fast ganz auf das Schauspiel, auch Sprechtheater genannt. Eine wie große Rolle das musikalische Theater in den DDR-Jahrgängen von Theater der Zeit spielte, zeigt der Jahrgang 1966 exemplarisch, mit zahlreichen Aufführungskritiken ebenso wie mit Beiträgen von Carl Ebert und Walter Felsenstein, Joachim Herz und Götz Friedrich, von Hans Pischner, Peter Gülke und Horst Seeger; es war das Jahr eines großen, fabelhaft besetzten Opern-Kolloquiums des International en Theater-Instituts in Leipzig. Die DDR war ein Opernland par excellence, auf dem Feld der Regie war sie damals das führende Opernland der Welt, und nicht nur dieser eine Jahrgang zeigt, wie reich in den alten Heften das Feld für weitere Anthologien bereitet ist. 

1970 stellte sich Theater der Zeit auf monatliches Erscheinen und eine Grotesk-Type um, die keinen Fortschritt an Lesbarkeit bedeutete; statt geheftet waren die Bögen nun geleimt, was auf eine einigermaßen brüchige Beschaffenheit hinauslief. Es war das letzte Jahr eines kulturpolitischen Repressionskurses, der nach Chruschtschows Sturz unter sowjetischem Einfluß installiert worden war, und das bekam den „Fidelio“-Dialogen nicht gut, die ich für Theater der Zeit geschrieben hatte, die Handlung der Oper im Blick auf das Frankreich vor 1789 in das „Verfallsstadium des feudal-absolutistischen Militärstaats“ versetzend. Das Neue Deutschland bemerkte mit Entsetzen, daß der am Ende erscheinende Minister als Chef ein es fri sch ernannten „liberalen Ministeriums“ ein geführt war, und Horst Gebhardt, der wagemutige Chefredakteur, bekam in jenen Kulissen, die dem freischaffenden Autor verborgen blieben, zweifellos einen Rüffel für den Abdruck dieses Textes, dessen Bühnenrealisierung den Opernhäusern des Landes durch das Kulturministerium untersagt wurde. Ich erfuhr das erst achtzehn Jahre später, und erst aus Linzers Kommentar habe ich erfahren, daß Horst Gebhardt, der am Ende des Jahres 1970 in die Unterhaltungskunst versetzt wurde, vormals in der Leipziger Pfeffermühle mitgemacht hatte. 

Wolfgang Lange war zu dieser Zeit der Musiktheaterredakteur des Blattes und blieb es mehr als zwei Jahrzehnte lang; mit ihm wie mit seinem Vorgänger, Hans-Gerald Otto, gab es eine freundschaftlich- ungetrübte Zusammenarbeit. Nach 1992 trat die Oper – zumeist durch Nora Eckert – nur noch sporadisch ins Blickfeld der Redaktion. Die deutsche Vereinigung hatte das Feld des Theaters unabsehbar erweitert; das nötigte zur Beschränkung, als die Zeitschrift 1993 als ein allseits begrüßter Phönix aus der Asche des alten Henschelverlags erstand. Diese Neugründung, zunächst als Zweimonatsschrift, war vor allem das Werk Harald Müllers, der 1987 (zuvor war er Redakteur bei der Zeitschrift „Temperamente“ gewesen) in DDR-Berlin einen Untergrundverlag namens Autorenkollegium gegründet hatte; das war ein Bühnenvertrieb für die Stücke kaum oder gar nicht gespielter Autoren wie Jochen Berg und Werner Buhss, Jo Fabian, Peter Brasch, Jörg Michael Koerbl. 1990 hatte ihm Herbert Schirmer, der letzte Kulturminister der DDR, das Gebäude der aufgelösten Hauptverwaltung Verlage als „Haus Drama“ überlassen, und die von Martin Linzer, Ingeborg Pietzsch und vielen andern an ihn herangetragene Renaissance von Theater der Zeit stellte ihn vor eine schwierige Entscheidung, als die Autoren des Autorenkollegiums zu dem Schluß kamen: Wir oder sie! Müller entschied sich für Theater der Zeit, und zeitweilig glaubte er, einen Verleger gefunden zu haben; der saß in Essen, hörte auf den Namen Felidae und schrieb sich im Mai 1993 in das Impressum des ersten Hefts ein. Bei dem zweiten war er wieder abgesprungen, seither fungiert die Interessengemeinschaft Theater der Zeit als ein kollektiver Herausgeber, mit Harald Müller als ihrem Geschäftsführer in der Personalunion von Verlagsleiter, Cheflektor, Vertriebschef und PR-Manager. 

Es war ein langer, manchmal dornenreicher Weg von diesem ersten Heft im neuen, das frühere leicht variierenden Format (1991 hatte ein unglückliches Großformat Raum gegriffen) mit der schönen, aber all zu großzügigen Typographie von Rudolf Grüttner bis zu der ausgereiften Layout-Gestalt, die die Zeitschrift unter der graphischen Ägide erst von Sibyll Wahrig, dann von Avenir gewonnen hat; Theater der Zeit war nie schöner als heute. Mit der Zeit gelang es sogar, Inhaltsverzeichnisse herzustellen, die nicht nur vollständig, sondern auch lesbar – die nicht nur lesbar, sondern auch vollständig waren; für Zeitschriften von reichhaltigem Innenleben ist das ebenso ein Problem wie die Entwicklung sinnvoller Rubriken. Für Psychologen wäre es ein fesselndes Thema, die gruppendynamischen Prozesse nachzuzeichnen, die zwischen einem Verleger, der seit der Wiedergeburt des Blattes Säule und Tragbalken des Unternehmens ist, und der sich im Lauf der Jahre immer wieder verjüngenden Redaktion wie auch innerhalb dieser selbst abliefen. Intensive Frauen, würde sich bei einer solchen Untersuchung ergeben, waren für die balance of power unersetzlich. Die Rückumstell ung auf monatliches Erscheinen gelang nach einigen Jahren ebenso wie die Erweiterung des verlegerischen Programms; Theater der Zeit ist heute schon lange nicht mehr nur eine Monatsschrift, sondern ebenso ein Verlag für Bücher aus allen Bereichen des Theaters, zu Geschichte, Wissenschaft und Praxis der Bühne. Dies alles funktioniert durch eine Hingabe aller Beteiligten, die von Selbstausbeutung nicht zu unterscheiden ist. Ich erinn ere mich des tiefen Erstaunens des Verlagsleiters, als dieser von dem Besuch eines alteingesessenen westdeutschen Verlags mit der Kunde zurückkam: Die haben feste Zeiten für Frühstück und Mittagessen. 

Theater der Zeit, das ist die Kennmarke einer mit Tatkraft und Spürsinn behaupteten Bohrinsel im wogenden Meer des deutschen Medienwesens. Man geht in jenem Podewils-Palais, dem irgendjemand das s geraubt hat, ni cht gerade im Südwester auf die Plattform, aber der Wind pfeift manchmal lebhaft durchs Gestänge; mit Lust und Elan stemmt die junge Mannschaft sich ihm entgegen. Die Zeitschrift, eine Berliner Gründung aus jener Zeit, da die deutsche Zoneneinteilung von allen außer Adenauer noch für provisorisch angesehen wurde, hat die DDR-Ära durchmessen, ohne in ihr steckenzubleiben; sie ist heute eine gesamtdeutsche Unternehmung, in der sich Erfahrungen aller Zo nen und mehrerer Generationen bündeln – nicht die größte, schon gar nicht die reichste, aber unstreitig die älteste deutsche Theaterzeitschrift, am Ende ihres sechsten Jahrzehnts ein gänzlich unabgeschlossenes Sammelgebiet. Es glückwünscht sich am bes ten auf lateinisch: Vivat, crescat,jloreat, sowie: Ad multos annos!

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