Figurentheater
Wir sind die Figur
Vom Drama zum Hypertext – zeitgenössische mexikanische Dramatik
von Rocío Galicia
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)
Assoziationen: Nordamerika Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Den zahlreichen Formen der zeitgenössischen Dramatik eines Landes mit über 120 Millionen Einwohnern in einem einzigen Artikel gerecht zu werden, ist schwer. Es ist wohl das Beste, ein Panorama der dramatischen Strömungen zu zeichnen, die heute die mexikanische Theaterlandschaft bestimmen. Auf den Bühnen sind zahlreiche Theatersprachen vertreten; hinter manchen stehen mehrere Autoren, hinter anderen nur ein einziger. Dennoch sind drei große Kernbereiche zu verorten, die das Wesen der mexikanischen Dramatik ausmachen.
Beginnen wir mit der Landeshauptstadt. Dort findet sich eine Gruppe von Dramatikern, in deren Schreiben sich Dramatik und Epik verbinden. Diese Tendenz ist allgemein als narraturgia bekannt (Wortschöpfung, in etwa: Epidrama, narrative Dramatik). Geprägt wurde dieser Begriff von dem Spanier José Sanchis Sinisterra, um die Überschneidung des epischen und des dramatischen Genres zu erfassen. Historisch betrachtet gilt die Inszenierung des Stückes „Carta al artista adolescente“ (1994, Brief an den halbwüchsigen Künstler) von Luis Mario Moncada und Martín Acosta als Beginn der narración escénica (narratives Theater) in Mexiko. Doch erst 2006 etablierte sich der Begriff im Theaterbereich, mit der Publikation des Dossiers „¿Narraturgia o dramativa?“ (Wortschöpfungen, in etwa: Narrative Dramatik oder dramatisierte Narration?) in der Theaterfachzeitschrift Paso de Gato.
In dieser dramatischen Tradition steht auch Edgar Chías, dessen Stück „El cielo en la piel“ (Himmel auf der Haut) aus dem Jahr 2004 als eines der gelungensten in diesem Bereich gilt. Die mehrstimmige Erzählung meidet eine klare Figurenzeichnung und setzt sich mit dem Thema häusliche Gewalt auseinander. Verschiedene Geschichten werden scheinbar unabhängig voneinander erzählt; der narrative Ansatz begünstigt die Bildung von Verknüpfungen zwischen eigenständigen Geschichten, die sich gegenseitig ergänzen. Ein weiteres Vorzeigestück des narrativen Theaters ist „Odio a los putos mexicanos“ (Ich hasse die Scheißmexikaner) von Luis Enrique Gutiérrez Ortiz Monasterio. Das Stück ist als Monodrama für vier oder fünf Stimmen angelegt und handelt vom Hass, den die farbige Bevölkerung der USA den mexikanischen Einwanderern entgegenbringt. Es gibt keine Figuren, Regieanweisungen oder Dialoge, aber sehr wohl einen kraftvollen Diskurs, der den dramatischen Konflikt zum Ausdruck bringt. Unter den jungen Autoren, die sich diesem Stil verschrieben haben, sticht besonders Alejandro Ricaño hervor.
Wichtig zu erwähnen ist: Diese narrativen Tendenzen auf der Bühne hatten weitreichende Auswirkungen auf das Bühnenbild und andere Elemente des Theaters, denn das Wort selbst schafft Räume, Objekte und Effekte und macht so einen großen Bühnenapparat überflüssig.
Eine zweite in der Hauptstadt anzutreffende Strömung ist aus der unmittelbaren Wechselwirkung mit den Vorgängen auf der Bühne entstanden. Hier finden sich Künstler, die mit dem szenischen Schreiben und mit der Bühne gleichermaßen vertraut sind. Einige Autoren sind sogar bei der Theatertheorie angelangt und beziehen hybride Texte mit ein, die im Grunde ästhetische Manifeste sind. Diese Autoren bewegen sich selbstverständlich in diesen beiden Bereichen; daraus sind prozesshafte Texte und Betrachtungen zu Darstellung, Körper, Bühnenraum und Schauspieler entstanden. Diese dramatischen Texte machen sich das Wort an und mit seinen Bruchstellen zu eigen, sie thematisieren Sinnlosigkeit und Sinnleere. Aus dem Bruch mit dem Realismus soll ein Raum der Widersprüchlichkeit entstehen, die Kraft der bewegten Bilder soll vermehrt werden. Diese Texte werden zu szenischen Partituren, die tatsächliche Präsenz und die Herstellung räumlicher Bezüge erfordern. Implizit oder explizit werden dabei die traditionellen Koordinaten des Theaters infrage gestellt und Verbindungen mit den Zuschauern eingegangen. Das Bühnengeschehen soll nicht wiederholbar sein.
Zu den herausragenden Vertretern dieser Strömung gehört Alberto Villarreal, der Autor und Regisseur von „El Lado B de la materia“ (2013, Die B-Seite der Materie). Man könnte diesen Text als Amalgam zerrissener Worte bezeichnen. Aus diesen entsteht ein Spiel der Kräfte, das sich direkt in den Körpern der Schauspieler entfaltet, auf die Zuschauer abstrahlt und sie aufrüttelt. So sollen die Zuschauer letztlich den Sinn von ihrer eigenen Warte aus finden.
Einer solchen Forschungsarbeit, wie sie Villarreal betreibt, widmen sich auch David Gaitán und David Jiménez, beide Autoren und Regisseure der neuen mexikanischen Theatergeneration. Und auch weitere jüngere Künstler haben eigene experimentelle Theater- und Schreibwerkstätten gegründet.
Schließlich ist mit der sogenannten dramaturgia hipertextual (in etwa: hypertextuelle Dramatik) eine Strömung zu nennen, die die Dramatik außerhalb der Hauptstadt bestimmt. Diese Bezeichnung wurde von dem mexikanischen Dramatiker, Regisseur und Wissenschaftler Enrique Mijares geprägt. Er bezog sich dabei vor allem auf Stücke, die im Grenzgebiet zu den Vereinigten Staaten entstanden. Diese Strömung hat ein herausragendes Merkmal: Ausgehend von einer winzigen Anekdote werden Anknüpfungspunkte geschaffen, die eine Vielzahl von Richtungen und Möglichkeiten eröffnen und auf eine aktive Teilhabe der Zuschauer aus sind.
In diesem Sinne zielt die dramaturgia hipertextual darauf ab, ausgehend von der Subjektivität des Zuschauers einen kritischen Blick zu entwickeln. Zwar wird dabei der Konflikt als Motor des Dramas außer Kraft gesetzt, aber die Dialogform bleibt bestehen. Manche Ansätze greifen auf Begriffe aus Technik und Wissenschaft zurück: virtuelle Realität oder Relativitätstheorie, Chaos oder Fraktal. Inhaltlich hat sich diese Strömung vor allem folgenden Themen gewidmet: soziale Ungleichheit, Migration, Drogenhandel, Frauenmorde, Rechtlosigkeit und die Grenze als Konfliktzone. Zu den bekanntesten Vertretern zählen zwei Autoren, denen der lateinamerikanische Theaterpreis Premio de Teatro Iberoamericano Tirso de Molina verliehen wurde: Hugo Salcedo und der bereits genannte Enrique Mijares. Jüngere Autoren wie Antonio Zúñiga und Alejandro Román zählen ebenfalls dazu.
In Mexiko entsteht eine Vielzahl von Theatertexten. Dennoch werden zwei große Herausforderungen deutlich: Die künstlerischen Ansätze müssen ästhetisch gefestigt werden, und sie gehören nicht aufs Papier, sondern auf die Bühne. Nur so kann das mexikanische Theater im internationalen Vergleich bestehen. //