thema naturtheater
Landschaft und Erhabenheit
Reflexionen zum „Lulleli“-Theater in Norwegen
von Knut Ove Arntzen und Carlsen Tormod
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Europa

Am 13. August 2016 wurde im hohen Norden Norwegens auf Fruholmen der 150. Jahrestag der Einweihung des nördlichsten Leuchtturms der Welt begangen. Das Künstlerkollektiv Norwegian Landscape Theatre veranstaltete zu diesem Anlass eine Kunstaktion in dieser entlegenen Landschaft, zu der etwa 600 Leute kamen, die zusammen mit den Akteuren als Zuschauer auch Teilnehmer waren.
Das Norsk Landskapsteater (Norwegisches Landschaftstheater) war ursprünglich eine Verbindung von Tormod Carlsen und drei jungen Choreografen und wurde später von Tormod Carlsen allein fortgeführt. Das „Lulleli“-Konzept wurde von der damaligen Gruppe 2016 entwickelt, und Knut Ove Arntzen wurde bei dem Projekt mit der Aufgabe betraut, die Teilnehmer aus Berlin zu begleiten und ein Seminar im hohen Norden Norwegens in Havøysund, in der Nähe von Ingøy, zum Thema Landschaftstheater zu organisieren. Dabei waren Hans-Thies Lehmann, Eleni Varoupolou, Arnd Wesemann, Helena Waldmann und Dan Mihaltianu. Zuzanna Skiba war indes zu einer Residence auf Ingøy und die kleine Fruholmen-Insel nebenan eingeladen.
Das Norsk Landskapsteater verfolgte mit diesem Projekt die Absicht, das Interesse für die Landschaft in eine szenische Dimension umzusetzen und herauszufinden, welche ästhetischen Dimensionen zu einer Landschaftserfahrung in ihrer kulturhistorischen Einordnung gehören. Und außerdem zu erforschen, welche Erfahrungen und Interpretationen bei dieser „Lulleli“-Aktion aktuell dazukommen. Ein Landschaftstheater bezieht sich auf das Interesse an der Landschaft – wie sie sich als szenische Erfahrung zeigen könnte.
Im Allgemeinen könnte man sagen, dass ein Landschaftsparadigma zunehmend zum Verständnis und zur Beschreibung des Dramas und Theaters der Moderne angewandt werden kann, da die Dramatik, im Unterschied zum traditionellen handlungsbasierten Drama mit klaren thematischen Strukturen, mehr mit dem Symbolischen und Atmosphärischen arbeitet, wie in Maurice Maeterlincks drame statique oder in Gertrude Steins landscape plays. In der Folge dieser paradigmatischen Perspektive geschah eine Umorientierung weg vom klassischen Linearen und Handlungsorientierten hin zu einem Drama, das marginal oder „anders“ ist und mit Zuständen, Situationen und Atmosphäre arbeitet. Szenische Tableaus und Landschaftsdialoge sind dabei wiederkehrende Techniken.
Der Terminus „Landschaftstheater“ muss in diesem Zusammenhang verstanden werden. Er beschreibt das Verhältnis von seelischer Landschaft und dialogischem Raum von der Romantik bis zum Symbolismus und weiter bis hin zum freien Theaterverständnis in einem postdramatischen Text wie etwa Heiner Müllers „Hamletmaschine“ oder „Bildbeschreibung“. Der geschlossene textuelle Raum der klassischen „einrahmenden“ Tradition öffnet sich also in eine szenische Landschaft, geprägt vom Spektralen und Durchsichtigen.
Durch die Neoromantik, den Symbolismus und den Impressionismus wurde die Naturerfahrung zu einem Bild oder einer Spiegelung innerer Zustände, und die seelische Landschaft wurde in Korrespondenz mit der urbanen Landschaft sichtbar gemacht. Die arktische oder im Allgemeinen die nördliche Naturerfahrung wurde von den Künstlern und Intellektuellen seit den 1880er Jahren in besonderem Grad mit Extremität und Vitalismus verbunden. Das war der Ausgangspunkt für eine Erlebniskultur von Sankt Petersburgs Weißen Nächten bis zum arktischen Licht im höchsten Norden.
Wenn wir uns die Geschichte von Theater und Drama als Landschaft vorstellen, können wir sehen, dass Natur, Landschaft und kulturelle Räume zusammenkommen. Und wenn menschliche Triebkräfte ein Teil der Natur sind, ist es möglich, eine Analogie zu sehen zwischen der Natur als Triebkraft und der menschlichen Psychologie als einer Kraft im Menschen selbst. Dann können wir uns vorstellen, dass dies die Triebkraft für die menschliche Entfaltung im Dialog mit den Naturkräften ist, etwas, das metaphorisch betrachtet als szenische Landschaftsdialoge aufgefasst werden kann.
Kunst und Wissenschaft gingen bei einigen dieser Fragen Hand in Hand, so zum Beispiel in „Den litterære Grønlandsekspeditionen“ 1902–1904 („Die literarische Grönlandexpedition“) unter der Leitung des dänisch-grönländischen Polarforschers Knud Rasmussen und des Autors Ludvig Mylius-Erichsen. Letzterer rüstete 1907 selbst eine Expedition nach Nordostgrönland aus, bei der er ums Leben kam. In das arktische Drama gehen Erfahrungen von Polarexpeditionen, Fischfang und Bergsteigen ein, zusammen mit der Vorstellung von der Natur als Spiegel einer seelischen Landschaft. Was ist dann Landschaftstheater?
Landschaft entspricht einer Weise, Land zu sehen, durch eine ästhetische Relation zwischen uns als Betrachter und dem Land an sich. Aber das Land kann nicht vom Blick geschieden werden. Schaut man sich eine Landschaft an, sieht man in erster Linie, wie schön sie ist: das Erhabene.
Der Punkt ist also, dass eine Landschaft für uns Menschen entscheidend sein kann für eine Auffassung von Handlung und performativem Potenzial. Landschaftstheater erinnert außerdem daran, dass das Theater ursprünglich mit der Natur verbunden war und in seiner Geschichte ist Theater mehr draußen gespielt worden ist als in geschlossenen Räumen. Ein Landschaftstheater ist also ein Theater, das als metaphorische Landschaft durch Text, Bühnenbild, Musik und Dramaturgie erforscht wird. Das ist nichts Neues, denn das Theater war häufig direkt an Natur und Landschaft geknüpft, durch Freiluft-Inszenierungen, wie in der griechischen Antike oder in Tableaus in der Renaissance. Open-Air-Theater hat immer Landschaft einbezogen. Himmel, Wälder, Meer und Garten oder das Pastorale wurden erst im Barocktheater durch Perspektivwirkung und Bühnenmaschinen gezeigt.
Das war der größere Kontext für das Fruholmen-Kunstprojekt. Das gemeinsame Erwandern der Insel Ingøy führte zunächst zum Erleben der Gegend als „Landschaftspark“, der in seiner natürlichen Erscheinung als Gestaltung erfasst wird. Darauf folgte die künstlerische Gestaltung der Landschaft mit gelb gewandeten Performern, gelben Rauchschwaden und in die Landschaft gesetzten gelben Objekten wie Leitern, Liegestühlen oder einer mit gelben Bändern gestalteten „Choreographic tombola“.
Der insgesamt spielerische Kunstcharakter der Aktion wie auch die Tatsache, dass man noch keine festen Begriffe dafür hatte, führen dazu, dass mit „Lulleli“ ein Wort erfunden wurde, das dem Ganzen einen Namen geben sollte, für eine Kunst, die es bislang nicht gab, die aber durchaus eine Zukunft haben könnte. „Lulleli“ könnte auf den Bühnenkünstler und Komponisten des französischen Barocks Jean-Baptiste Lully zurückgehen, aber andererseits auch von dem einlullenden Geräusch der nahen Meereswellen mit ihrer beruhigenden Wirkung stammen. In letzterem Fall wäre so die enge Beziehung mit der Insellandschaft des hohen Nordens betont. //