Theater der Zeit

Für ein Theater als soziale Therapie

Ein Vorwort

von Lutz Hillmann und Günther Heeg

Erschienen in: Recherchen 134: Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen – Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten (10/2017)

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Im Oktober 2016 machte die Stadt Bautzen mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen jungen Geflüchteten und „besorgten Bürgern“ auf dem Kornmarkt, der sogenannten Platte, überregional von sich reden. (Und bis jetzt ist keine Ruhe eingekehrt.) Das war der entscheidende Impuls für das Deutsch-Sorbische Volkstheater, das Festival Willkommen Anderswo III – sich spielend begegnen zu initiieren. Es sollte sich speziell an geflüchtete und einheimische Jugendliche unterschiedlicher Nationalität richten und das Potential des Theaters für Annäherung und Selbstbestimmung nutzen.

An acht renommierten Theatern Deutschlands wurden prozess- und ergebnisorientierte theatralische Workshops mit diesen jungen Leuten als Teilprojekte initiiert und durchgeführt. Die Ergebnisse waren Theateraufführungen bzw. Werkschauen mit den und über die beteiligten Jugendlichen. Inhaltlich wurden keine Vorgaben gemacht. Alle Theatergenres und Ausdrucksformen waren möglich. Ziel war die Selbstdefinition der eigenen Kultur, Kennenlernen der jeweils anderen Kultur, deren Austausch.

Von Anfang an waren die Studierenden des Centre of Competence for Theatre am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig unter Leitung von Günther Heeg in das Projekt eingebunden. Dabei konnte an die Erfahrungen beim 9. Sächsischen Theatertreffen im Mai 2016 angeknüpft werden, wo erstmals in einer Bestandsaufnahme die Aktivitäten und Projekte der sächsischen Theater in Reaktion auf die sogenannte Flüchtlingskrise zusammengetragen und vorgestellt wurden. Die beiden Veranstaltungen Willkommen Anderswo I und II zeigten damals beeindruckend, dass sich alle sächsischen Theaterhäuser dem Thema stellen und es keinesfalls als Krise auffassen. Willkommen Anderswo III sollte nun einen Schritt weiter gehen und den Fokus auf die deutsche Stadt- und Staatstheaterszene als Ganzes und deren Arbeit mit Amateur_innen richten.

Die Bereitschaft, Teilprojekte auszurichten, war riesengroß. Dank an die Intendantenkolleg_innen, die die Idee unkompliziert aufgriffen und an ihren Häusern ermöglichten! Es wurde Bestehendes weiterentwickelt und Neues erfunden. Diese Vielfalt der theatralischen Wege und Methoden bewusst zu machen, ist ein weiteres Anliegen des Gesamtprojekts und dieses Buches.

Dass das Projekt schon zwei Monate nach Entwurf des Konzepts beginnen konnte, ist in erster Linie dem Bundesministerium für Kultur und Medien und seiner Staatsministerin Monika Grütters zu verdanken. Ebenso unkompliziert beteiligten sich die Stadt und der Landkreis Bautzen sowie der Landesverband des Deutschen Bühnenvereins. Danke!

Und dann war es soweit. Als Höhepunkt trafen sich vom 4. bis 7. Mai 2017 alle Beteiligten in Bautzen zum Theaterfestival Willkommen Anderswo III – sich spielend begegnen und stellten sich und der interessierten Öffentlichkeit die Arbeitsergebnisse der letzten fünf Monate vor. Neben dem Besuch der Aufführungen des Festivals waren die Akteure_innen eingeladen, Workshops zu verschiedenen Theaterformen im Laientheaterbereich zu besuchen. Ziel der Workshops war es, den jungen Leuten die vielfältigen Möglichkeiten und Mittel des Theaters aufzuzeigen, mit denen man lustvoll etwas über sich und seine Träume erzählen kann und damit bei anderen und sich selbst Vorurteile und Klischees zerstreut werden. Theater als soziale Therapie. Dieses Buch soll auch eine Ahnung davon geben, welch wunderbare Stimmung das Festival von Anfang an trug. Die gesetzten Erwartungen wurden weit übertroffen. Der Tatort, die Platte wurde bunt bemalt, man begegnete sich spielend und feierte. Junge Leute aus ganz unterschiedlichen Kulturen trafen sich ohne Ressentiments; Rassismus und Fremdenfeindlichkeit waren abwesend. Darüber hinaus führten diese vier Tage in Bautzen beeindruckend vor Augen, welche bedeutende Rolle die Theater unseres Landes beim dringend notwendigen transkulturellen Dialog in der zukünftigen Gesellschaft spielen können.

Diese Publikation herauszugeben und damit eine Partnerschaft mit dem Verlag Theater der Zeit und seinem Leiter Harald Müller einzugehen, war von Beginn an Teil des Gesamtkonzepts. Wir wollen die Gelegenheit geben, an unseren Erfahrungen zu partizipieren, sie für weitere Projekte, die dringend notwendig sind, nutzbar zu machen. Das Buch will somit einem breiten Publikum aus Theaterleuten, in der kulturellen Bildung und Sozialarbeit Tätigen und allen am Thema Interessierten Einblick geben in den gegenwärtigen Stand einer Theaterpraxis „von allen und für alle“. Theaterspielen als kulturelle Praxis, die nicht nur Profis, sondern auch und vor allem nichtprofessionelle Akteure_innen adressiert, ist von größter Bedeutung für die Konvivenz mit und unter Fremden in der Migrationsgesellschaft, in der wir leben. Dies zu zeigen ist der Zweck des Buchs.
Im Zentrum steht daher die Dokumentation, Beschreibung und Analyse der acht in Bautzen gezeigten Theaterprojekte. Verfasst sind sie von den Studierenden der Leipziger Theaterwissenschaft, die diese Projekte beratend begleitet haben. Ihre Berichte informieren über die jeweiligen Theater, die beteiligten Institutionen und gegebenenfalls Kooperationen, das soziale Umfeld sowie über das Leitungsteam und die Akteure_innen. Sie beschreiben und analysieren die einzelnen Projekte, ihr Zustandekommen und die Essentials der Probenarbeit. Parallel dazu wurden die Projektleiter_innen eingeladen, aus ihrer Sicht den Entstehungsprozess der Projekte und die Grundzüge ihrer Theaterarbeit darzulegen. Erfreulicherweise sind die Projektleiter_innen aller Häuser bis auf eines dieser Einladung gefolgt. Ein wichtiger Fokus liegt auf den Stimmen der Akteure_innen. Die Projektbeschreibungen geben ihren Aussagen Raum, zum Teil mit Auszügen aus den Geschichten, die sie in die Aufführungen eingebracht haben. Unvollkommen wäre die Dokumentation ohne die Bilder. Neben den Fotos aus der Probenarbeit sind es vor allem die Bilder, die der Fotograf David Baltzer während des Festivals gemacht hat, die einen anschaulichen Eindruck vermitteln vom Engagement aller und von ihrer Intensität und Lust am Spiel in den Tagen von Bautzen.

Die Dokumentation der Projekte in diesem Band wird gerahmt von weiterreichenden Überlegungen zum Ort der Veranstaltung und zur Einbettung in die gegenwärtige Theaterlandschaft sowie von theoretischen Reflexionen über die Herausforderung des Theaters in der Migrationsgesellschaft und die Zukunft der in Bautzen aufgenommenen transkulturellen Theaterpraxis.

In der Einleitung heben Lutz Hillmann, Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen, und die Regisseurin des Bautzener Projekts Romeo und Julia – auf Platte, Michelle Bray, die Bedeutung von Bautzen als Veranstaltungsort des Festivals hervor. In Form von Reportagen stellen Gunnar Decker (Theater der Zeit), Dimo Rieß (Leipziger Volkszeitung) und Stefan Petraschewsky (MDR) im dritten Teil das Bautzener Festival aus journalistischer Sicht in den Kontext aktueller Theaterpraktiken. Abgerundet wird dieser Teil durch einen Fotoessay von David Baltzer. „Theater in der Migrationsgesellschaft“, der Titel des vierten Teils, war das Thema des Kolloquiums, das Studierende der Leipziger Theaterwissenschaft im Rahmen von Willkommen Anderswo III veranstaltet haben. Es ging drei entscheidenden Fragen nach: 1. Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben? 2. Warum ist Theater prädestiniert dafür, dem Fremden zu begegnen? 3. Welche kulturpolitischen Weichen müssen dafür gestellt werden? Die Vorträge werden hier thesenhaft wiedergegeben. Am Ende des Bands analysiert Günther Heeg den Paradigmenwechsel in der Theaterarbeit von und mit Geflüchteten, der in Bautzen zu erfahren war, und nennt die kultur- und bildungspolitischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterführung des Projekts.

Herzlich danken möchten die Herausgeber allen Autor_innen und dem Verlag, die das rasche Erscheinen des Buchs möglich gemacht haben. Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit sei sehr herzlich für das Lektorat des Bandes gedankt. Besonderer Dank geht an Claudius Baisch, Henrike Schmidt und Dana Soubh, Studierende der Leipziger Theaterwissenschaft, für ihr ausdauerndes Engagement und ihre Initiative, ohne die das Buch nicht zustande gekommen wäre.

Bautzen und Leipzig im August 2017

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