Profanes und Heiliges im europäischen Mittelalter
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
In wesentlichen gesellschaftlichen Praktiken des Mittelalters durchdrangen sich Profanes und Heiliges, „Fleischlichkeit“ und „Geistigkeit“. Geistige Grenzen zwischen Sakralem und Profanem waren bis zu den Reformen des 16. und 17. Jahrhunderts fließend. Einer „Kultur des Sichtbaren und des Auges“ gemäß war die Gerichtsverhandlung ein Spektakel, das hinter geistlichen Mauern aufgeführt wurde. Schon in karolingischer Zeit (vor 900 n. Chr.) fanden Freilassungen der Sklaven in der Kirche statt und der Tauschhandel wurde nahe dem Atrium durchgeführt, dort, wo sich die Gemeinde versammelte.275
Besonders im Umgang mit dem Tod und den Toten zeigte sich dieses gleichsam dialektische Verhalten. Laien und Kleriker waren kanonischen Verboten zum Trotz nicht überzeugt, dass es eine Unverträglichkeit zwischen der heiligen Stätte und der Nachbarschaft der Toten gab. So diente bis ins späte Mittelalter der Friedhof als Zentrum der Begegnung und des gesellschaftlichen Umgangs, als Korso und als Promenade.276
In mittelalterlichen Kirchen befinden sich Drôlerien, groteske bildnerisch-ornamentale Elemente, zusammen mit und zugleich im Kontrast zu den hoch-ernsten, sakralen Reliefs und Bilddarstellungen.277 Die Komik der Drôlerien durchbrach die Schranken des Ernstes und Maßes. Was in der ernsthaften, normsetzenden Öffentlichkeit als das Ausgegrenzte galt, wurde am Rande der Bildprogramme wieder ins Spiel gebracht. Das Andere, das...