Ambivalente Haltungen zur Welt
Italienischer Futurismus
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Radikal den antinaturalistischen Umbruch weiter treibend, brachen die italienischen Futuristen zugleich mit wesentlichen weltanschaulichen und ästhetischen Positionen seiner bisherigen Aktivisten, drehten diese, scheinbar paradox ein Hauptanliegen des modernen Naturalismus der 1880er Jahre wieder aufgreifend, in einem entscheidenden Punkt um: In die Kunstlandschaften der westlichen Länder weithin wirkend, suchten sie Kunst mit neuen industrialisierten urbanen Realitäten zu verschmelzen. Dabei rissen sie die seit der Renaissance beherrschende Grenzziehung zwischen „hochkultureller Kunst“ und „niedrigen, trivialen“ Praktiken ein und rückten mit öffentlichen Performances ihrer Texte und Kunstobjekte das Theatrale ins Zentrum kultureller Kommunikation.
Kunst müsse sich nicht nur direkt „einlassen“ mit der Industrialisierung/den technologischen Umwälzungen, den neuen Raum-Zeit-Verhältnissen und ihren Geschwindigkeiten, sondern diese affirmativ thematisieren und in ihre Gestaltungs- und Kommunikationsweisen einschreiben. „Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosse große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen […] ist schöner als die Nike von Samothrake“, schwärmte 1909 Marinettis Manifest. Man besinge die „vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten“, die nächtliche „vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden“, die „gefräßigen Bahnhöfe“, die Fabriken und „die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf...