Auftritt
Potsdam: Bühne für neue Stücke
Hans Otto Theater: „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ von Sibylle Berg; „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer. Regie Marlene Anna Schäfer
von Erik Zielke
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Brandenburg Hans Otto Theater

Potsdam, diese etwas verschlafene, kleine Großstadt, ist für kurze Zeit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gelangt, als hier im vergangenen Herbst mit Annalena Baerbock und Olaf Scholz zwei prominente Kandidaten um ein Direktmandat für den Bundestag rangen. Hier, so hatte man den Eindruck, wird über die Zukunft des Landes entschieden. Nun beheimatet die Havelstadt also Kanzler und Außenministerin. So viel Aufmerksamkeit ist man hier nicht gewohnt. Und auch auf das Potsdamer Hans Otto Theater richtet sich der überregionale Blick nur selten. Zu stark ist scheinbar die Konkurrenz aus Berlin, wo man – allzu oft zu Unrecht – davon überzeugt ist, Weltkunst zu produzieren. Wie soll sich ein kleines Haus da mit seinem Spielplan bemerkbar machen?
Dem Angebot aus Brandenburg ist ein klares und überzeugendes Konzept anzusehen: Man wagt sich an die neue Dramatik. Die Öffentlichkeitsgaranten Ur- und Erstaufführung überlässt man dabei der Hauptstadt und spielt eifrig nach, was andernorts bereits funktioniert hat. Ist das mutlos? Keineswegs. Das Haus verhilft der neuen Dramenliteratur damit erst wirklich zu ihrem Recht. Denn Texte werden unaufhörlich produziert, allerdings müssen sie den Weg auf die Bühnen finden, auch jenseits der großen Häuser und mehr als nur ein Mal. So wirkt man hier mit an der Durchsetzung eines neuen Kanons. Dabei übt man sich in Potsdam nicht im pseudoavantgardistischen Gehabe, lässt die Postdramatik in den Geschichtsbüchern und vertraut auf figurenbasierte Geschichten. Nis-Momme Stockmann, Philipp Löhle und Sibylle Berg sind die Namen der bekannten Autoren, deren Stücke hier unter anderem gespielt werden.
Von Sibylle Berg stammt auch der bissig- komische Text „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“. Aus einer – vielleicht nicht so fernen – Zukunft sprechen Frauen zu uns, sie bewohnen den Planeten Erde, nachdem das männliche Geschlecht bereits ausgestorben ist. In einem szenischen Edutainment-Programm führen sie dann zusammen mit atavistischen Männern vor, wie das eigentlich war: das Zeitalter des Patriarchats – also die Gegenwart. Die Szenenfolge entlässt das Publikum vom „Vorspielgarten“ in den „Liebesgarten“, von wo es weitergeht in „Prä-Sexgarten“, „Missionarsgarten“, „Erwachsenen-Garten“, „Kindergarten“ und schließlich in den „Friedensgarten“, wo die scheinbar wohltuende Entmannung der Gesellschaft bereits stattgefunden hat. Der bitterböse Text zeigt die Stupidität des Geschlechterdauerkampfs. Erkenntnisbringenden Schmerz ruft er, anders als frühere Werke von Sibylle Berg, allerdings nicht hervor. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass weibliches Dummchen und heimwerkender Mann mit immenser Fleischlust, wie sie hier vorgeführt werden, anderen Geschlechterklischees längst Platz gemacht haben. Und auch Orgasmusschwierigkeiten sind kein so neues Thema. In den letzten sechzig Jahren wurde auch darüber sowohl klüger als auch lustiger gesprochen.
2019 am Theater Basel uraufgeführt, wurde das Stück nun von Anna-Elisabeth Frick für die Potsdamer Spielstätte Reithalle in Szene gesetzt. Der Regisseurin gelingt es, dem sehr heutigen Text etwas Rituelles zu verleihen. Weihrauchgaben und Opferzeremonien unterbrechen die Textvorlage, die in ihrer thematischen Beschränktheit auf der Bühne schnell zu einem Nummernstück zu werden droht. Ein Die bitterböse Stupidität des Geschlechterdauerkampfs in Potsdam: Sibylle Bergs „In den Gärten oder Lysistrata Teil 2“ in einer Inszenierung von Anna-Elisabeth Frick. Foto Thomas M. Jauck übergroßer Schrein zeigt Adam und Eva. Die Fliesen, die die Bildnisse umgeben, sind von Vulven geziert. Das Matriarchat hat sich durchgesetzt, aber es bleibt etwas nur Symbolisches, wenn nicht die widrigen Verhältnisse umgestürzt, statt nur übertüncht werden. In diesen Details kommt Frick dem Potenzial des Textes sehr nahe. Aber in dieser gut eineinhalbstündigen Inszenierung wird sie dem Umschlagen von feministischer Utopie in die Dystopie einer klinischen Existenz nicht völlig gerecht. Immer dort hingegen, wo die drei Spielerinnen und Spieler über das Wort hinausgehen, mit Choreografien und Bildern eine weitere Ebene eröffnen, gewinnt die Inszenierung merklich an Spannung. Dass hier nicht alles zu überzeugen vermag, einige Kalauer abgedroschen wirken, liegt wohl vor allem an dem Text einer Autorin, die durch Sprachkraft überzeugt, aber ein szenisch unterkomplexes Werk vorgelegt hat. Immerhin hat Berg gewissermaßen eine Fortschreibung der Aristophanesʼschen „Lysistrata“ versprochen, einem Stück, in dem Frauen, scheinbar machtlos, ihre Waffen erst finden müssen, weil ein politischer Widerstand zwingend wird. Und an diesem Abend? Die Männer ziehen den Schwanz ein – und die Frauen zucken mit den Schultern.
Keine Fort-, sondern eine Überschreibung – und zwar eine äußerst populäre – ist Ewald Palmetshofers Aktualisierung von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“, der sich in Potsdam die Regisseurin Marlene Anna Schäfer angenommen hat. Das soziale Drama zeigt die gesellschaftlichen Zwänge zwischen Machterhalt, Aufstiegswünschen und Durchhalteversuchen. Auch dass die gesellschaftliche Spaltung, von der seit vergangenem Jahr unaufhörlich die Rede ist, kein so neues Phänomen ist, wird uns eindrücklich vorgeführt. Die Politisierung der Figuren in die eine oder andere Richtung wirkt dabei nicht schablonenhaft. Palmetshofers sprachliche Überführung des Textes in das 21. Jahrhundert ist überaus gelungen – und wohltuend. Szenisch bleibt er nah an der Vorlage, er verliert aber doch die soziale Herkunft der Figuren etwas aus den Augen oder verabschiedet sie zumindest als zentralen Punkt. Den Alkoholismus der Martha ersetzt er durch die neue Volkskrankheit in der spätkapitalistischen Gegenwart: Depression. Und den Frauensuizid im fünften Akt lässt er getrost beiseite, beraubt seinen Text damit aber auch einer inszenatorischen Herausforderung.
Mit einem projizierten Blick in den Kosmos beginnt die zweieinhalbstündige Inszenierung. Nichts kann an diesem trostlosen Abend darüber hinwegtäuschen: Wir wie die auf der Bühne sind allesamt kleine Lichter, und die Sterne interessiert unsere mitleidige Existenz wohl kaum. Ein großes Wasserbecken nimmt einen großen Teil der Szene ein, darum versammeln sich die neobiedermeierlich gekleideten Spieler, daran nehmen sie Platz. Ein dankbares Bühnenbild, das die Kluft zwischen den Figuren zu zeigen vermag – oder ihre Nähe zum Abgrund. Allerdings hätte ein etwas dynamischerer Umgang damit dem Abend gutgetan.
Schäfer konzentriert sich auf eine genaue Figurenzeichnung, das allmähliche Auseinanderbrechen aller Sicherheiten. Ernsthaft geht sie den Beziehungsgeflechten und den Entwicklungen darin nach. Die ehemaligen Freunde und politischen Antipoden Thomas und Alfred (Paul Wilms, Jan Hallmann) sind keine symbolisch aufgeladenen Platzhalter für simple Vorstellungen von den Personen hinter einer politischen Position, sondern plastisch gezeichnet. Sie werden je auch in ihrer Widersprüchlichkeit erkennbar. Familienkonflikte werden nicht jedes Mal aufs Neue durch große Worte, große Gesten ausgestellt, sondern werden in Feinheiten erkennbar. Uneitel stellt sich die Regisseurin in den Dienst eines Textes und zeigt aufrichtiges Interesse für die darin aufgeworfenen Problemlagen. Und so verzeiht man auch einen gewissen inszenatorischen Schematismus, der bei den Auf- und Abgängen deutlich wird. Kein falscher Witz fällt, wo es gilt, das schwer Erträgliche betrachtend auszuhalten. Dieses Stück ist, wenn es so gespielt wird, durchaus eine Zumutung. //