Thema
Theater für alle
Der Regisseur Simon Stone betreibt eine Renaissance des Populären – mit außerordentlichem Erfolg
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Assoziationen: Theater Basel
Vielleicht ist er ja der Shakespeare unserer Tage. Allein schon was den Output betrifft, kann Simon Stone mit dem Vielschreiber aus Stratford durchaus mithalten. Seit zehn Jahren macht der 32-Jährige nun Theater, vier bis fünf Produktionen im Jahr. Da kommt einiges zusammen. Vor allem wenn man bedenkt, dass Stone als „writerdirector“ (wie er sich selbst nennt) nicht nur inszeniert, sondern oft alte Stücke neu schreibt. Das Überschreiben vertrauter Stoffe war schon im elisabethanischen Theater gängige Praxis. Für „Hamlet“ beispielsweise bediente sich Shakespeare beim dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus. Stones Vorlagengeber heißen Seneca, Tschechow und immer wieder: Ibsen.
Noch eine Parallele: Shakespeares Theater war das Popcornkino seiner Zeit (nur dass die Zuschauer statt Puffmais Nüsse knabberten), ein Volksvergnügen, das vom Handwerksgesellen bis zur Queen alle lockte. Auch Stones Ziel ist: ein Theater für alle. Der in Basel geborene Australier mit dem einnehmenden Sonnyboy-Charme behauptet von sich selbst: „Ich bin besessen von Kunst.“ Als Teenager in Melbourne war er ein in sich gekehrter Eigenbrötler, der lieber daheim Bücher verschlang, als zur Schule zu gehen. Heute sagt er: „Ich möchte nicht Theater nur für Leute machen, die so ticken wie ich. Ich will Abende schaffen, die für Menschen, die den Namen Ibsen noch nie gehört haben, genauso funktionieren wie für Ibsen-Kenner.“ Letztere freilich wandten sich, zumindest teils, mit Grausen ab von seiner Adaption des Ibsen-Dramas „John Gabriel Borkman“ am Wiener Akademietheater. Und manchem Tschechow-Liebhaber erschienen die Basler „Drei Schwestern“ als trivial. Die Aufführung aber ist in diesem Monat zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Wie schon der „Borkman“ im Vorjahr.
Stones Kritiker sehen oft nur die flotte Oberfläche seiner Arbeiten, die den rasanten Fluss von Spielfilmen haben. Popcornkino eben. Stone beherrscht schnelle Cuts. In „Rocco und seine Brüder“ (nach dem Film von Luchino Visconti, Münchner Kammerspiele 2015) reichten wechselnde Ortsangaben in roter LED-Schrift über der Bühne, um bei oft gleichbleibender Kulisse zwischen verschiedenen Schauplätze hin- und herzuspringen. In „Drei Schwestern“ thront ein Designerhaus mit großflächigen Glasfronten auf der Drehbühne und rotiert beständig um die eigene Achse, was nicht nur immer neue Einblicke in Küche, Klo, Wohn- und Schlafzimmer ergibt, sondern auch für fließende Szenenübergänge sorgt. Wie Blenden im Film.
Der Kinovergleich macht Simon Stone dennoch nicht glücklich. Er ist keiner jener Theaterregisseure, die viel lieber Bilder für die Kamera komponieren würden. Theater als Ersatzbefriedigung? Hat er nicht nötig. Er hat ja schon fürs Kino gearbeitet. Im vergangenen Jahr lief sein Spielfilm „The Daughter“ (nach Ibsens „Wildente“) an. Derzeit entwickelt er einen Stoff für Amazon Studios. Vor allem aber sagt Stone: „Außer dass die Figuren bei mir auf der Bühne realistisch reden, gibt es kaum Gemeinsamkeiten mit dem Kino. Theater kann etwas, das kein Film, Fernsehen oder Live-Stream leisten kann. Theater bedeutet Präsenz.“
Die Erkenntnis ist nicht neu. Tatsächlich ist Stones Theaterverständnis im Kern traditionell, beinahe altmodisch. Er begreift das Theater als rituellen Ort, an dem Menschen zusammenkommen zur „kollektiven Reflexion ihrer Existenz auf diesem Erdball“. Und schon lässt sich erneut die Brücke zu Shakespeare schlagen, war doch dessen Globe(!)-Theater nichts anderes als ein Modell der Welt, das Schauspieler und Zuschauer aller Stände und Schichten in einem hölzernen Rund umfasste. Stone selbst geht noch ein gutes Stück weiter zurück in die Geschichte. Er bezieht sich auf die griechische Antike und den Gedanken der Katharsis. Ihm gehe es um den „Moment, in dem die Menschen ihrem eigenen Dasein ins Gesicht blicken“.
„Theater ist ein Spiegel“, sagt Simon Stone. Dass er dabei eher zu Ibsen oder Tschechow greift als zu Sophokles und Euripides, liegt daran, dass er die Wirklichkeit, die ihn umgibt, in den Dramen der Erstgenannten besonders gut wiedererkennt. Spielen sie doch nicht in irgendwelchen „Märchen-Universen“, sondern in der banalen Welt des Bürgerlichen. Allerdings: Was vor über einhundert Jahren so aufregend war – der Einblick in alltägliche Lebenswelten –, sei heute nichts Außergewöhnliches mehr. Und vor allem eine Domäne des Kinos. „Kameras geben uns die Illusion, überall dabei zu sein, in intimste Räume vorzudringen. Aber es bleibt immer auch Distanz. Das Gefühl des Verbotenen, auch Voyeuristischen ist weg.“ Stones Theater erobert dieses Gefühl zurück, durch eine Art Hyperrealismus. In „Drei Schwestern“ belauscht der Zuschauer die Figuren nicht nur bei Allerweltsgesprächen. Er beobachtet zudem, wie sie auf die Toilette gehen, Duschen und Sex haben. Oder wie sie sich heimlich auf dem Treppenabsatz küssen. Live dabei zuzusehen ist ein bisschen so, wie wenn man am Rande einer Party zwei knutschende Menschen ertappt, die gerade fremdgehen.
Stone ist davon überzeugt, dass diese – mitunter peinlich berührende – Teilhabe an einem privaten Moment zu einer ganz anderen Form der Auseinandersetzung beim Zuschauer führt. Nicht immer braucht es dazu die genaue Milieustudie desillusionierter Großstadt-Hipster, wie Stone sie in „Drei Schwestern“ betreibt. Seine Fassung von „John Gabriel Borkman“ etwa lebt weniger von der kleinteiligen Beobachtung alltäglicher Details, die sich zum aussagestarken Gesamteindruck verdichten, als von einem einzigen großen, aber nicht minder schlagkräftigen Bild: einer surrealen Schneelandschaft, in der Ibsens Charaktere knöcheltief versinken. Einige Rezensenten haben das vorschnell als symbolisch für die Kälte zwischen den Figuren gedeutet. Stone mag solche Eins-zu-eins-Entschlüsselungen nicht. Er zieht Metaphern Symbolen vor, denn Metaphern „sind jenseits der Worte und Erklärungen“. Tatsächlich wirkt das Schneegestöber in „Borkman“ eher wie eine Bildstörung, die eine Ahnung von der Gestörtheit zwischenmenschlicher Beziehungen vermittelt, ohne sich aber restlos ausdeuten zu lassen.
Abgesehen davon ist die Aufführung grandioses Schauspielertheater – mit den Granden Birgit Minichmayr, Caroline Peters, Martin Wuttke und, nicht zu vergessen, Roland Koch. Letztgenannter ist auch in den „Drei Schwestern“ dabei sowie in Stones Basler Inszenierung von Tony Kushners Aids-Drama „Engel in Amerika“, einer Abrechnung mit Bigotterie und Ressentiments in den USA, der Stone bei aller Härte mit fast zärtlichem Theaterzauber begegnet. Schauspieler haben wesentlichen Anteil an Stones Klassiker-Updates. „Ich sehe mir genau an, was Schauspieler schon gespielt haben. Aber auch, wie sie sich abseits der Bühne geben.“ Die Rollen entwickelt Stone dann – im Einklang mit der Logik eines Stücks – aus den Persönlichkeiten der Darsteller. Dass er vor seiner Karriere als Regisseur in Australien selbst Film- und Fernsehschauspieler war, dürfte ihm dabei helfen. Muss an dieser Stelle noch eigens erwähnt werden, dass das elisabethanische Theater ebenfalls eines war, das von Schauspielern für Schauspieler geschaffen wurde?
Bei Stone treten die Schauspieler oft wie entfesselt auf. Während der Proben, gesteht er, würde er sie allerdings regelmäßig piesacken. Bei „Drei Schwestern“ habe er das Ensemble wiederholt daran erinnern müssen, sich zurückzunehmen. Schließlich geht es im Stück um Lethargie. Das verträgt sich nicht mit Theatralik. „Viel zu interessant!“, habe er immer wieder reingerufen. Stone, der im Interview Englisch spricht, sagt diesen Satz auf Deutsch. Eine Sprache, die er im Grunde perfekt beherrscht. Immer mal wieder fließen deutsche Wörter in seine Rede ein: „It’s a Herausforderung!“, beschreibt er das, was er den Schauspielern abverlangt. Auch das Wort „Regietheater“ bleibt unübersetzt. Kein Wunder, ist es doch eine deutsche Erfindung. Am Regietheater störe ihn der Hang zur Ironie. Das finde er feige. Und dann folgt ein Satz, der in seiner deutsch-englischen Mischung auch genauso zitiert werden muss: „It annoys the shit out of me, that if you do anything emotionally connected in German-speaking theater, people tell you, dass du wirklich aufpassen musst, dass es nicht kitschig wird!“ Im englischsprachigen Theater erlebt Stone übrigens das glatte Gegenteil. Dort sei nicht Realismus, sondern Abstraktion das Tabu, was er gleichermaßen zum Kotzen findet, aber auch seinen Ehrgeiz anstachelt. Mit Hingabe setzt es sich über die jeweiligen Dogmen beider Theaterkulturen hinweg. Auch Shakespeare hat sich nie sonderlich für Regeln interessiert.
Bisher ist Stone mit dieser Strategie glänzend gefahren. Er inszeniert nicht nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sondern auch in England (Lorcas „Yerma“ in London 2016) oder in Amsterdam, wo er Anfang dieses Monats „Ibsen House“ mit der Toneelgroep Amsterdam herausbringt, eine mehrere Generationen umspannende Saga über eine Architektendynastie. Das Stück bringt verschiedene Ibsen-Motive in einen neuen Zusammenhang. Über Beschäftigungsmangel kann Stone nicht klagen. Unlängst hat er auch die Oper für sich entdeckt. Oder sie ihn. Sein Musiktheaterdebüt mit Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ in Basel liegt kein Jahr zurück, schon haben die Salzburger Festspiele ihn verpflichtet, im Sommer Aribert Reimanns „Lear“ in der monumentalen Felsenreitschule zu inszenieren. Nicht unbedingt die Art von Spielstätte, die man üblicherweise Anfängern anvertraut. Vorlage für Reimanns „Lear“-Oper ist natürlich die Tragödie Shakespeares. Ausgerechnet an dessen Dramen hat sich Simon Stone bisher so gut wie gar nicht versucht. In Sydney hat er den „Hamlet“ gemacht. Aber das war vor langer Zeit, am Anfang seiner Karriere. „Shakespeare lieben die Leute für seine Sprache. Für die poetische Kraft seiner Fantasie.“ Da ranzugehen fällt ihm schwer. Bei Ibsen ist es einfacher. „Kein Mensch läuft rum und zitiert Ibsen!“ Beim Norweger seien die Szenarien spannend, findet Stone und transferiert sie ins Heute. Diese Freiheit würde er sich bei Shakespeare allenfalls in der Übersetzung nehmen. Wenn Shakespeare, dann also nur im deutschsprachigen Raum? Denkbar, sagt Stone. „Die Leute schwärmen von der Poesie der Schlegel-Tieck-Übertragungen. Aber ehrlich gesagt reichen die an das Original nicht mal annähernd heran.“ Wer wäre besser geeignet für eine treffendere Nachdichtung als Simon Stone? //