Theater der Zeit

3.1 Aufführungs- und Inszenierungsanalyse als Szenen- und Situationsanalyse

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Alle in Rede stehenden Produktionen arbeiten mit simultan stattfindenden Szenen, die sich an verschiedenen Orten innerhalb der komplexen Rauminstallationen ereignen. Dies hat zur Folge, dass Zuschauer*innen sich zwischen verschiedenen Szenen entscheiden müssen – was meiner Erfahrung nach gerade bei ersten Aufführungsbesuchen selten bewusste Entscheidungen sind, sondern vielmehr Entscheidungen, die von Zufällen, Intuitionen, Sym- und Antipathien oder affektiven Dissonanzen und Resonanzen abhängen. Für alle Aufführungsbeispiele gilt, dass kein*e Zuschauer*in alle möglichen Szenen, sondern immer nur eine kleine Auswahl pro Besuch mitverfolgen kann.

In aller Regel wird das Publikum in den Aufführungen im Rahmen einer Eröffnungsszene versammelt und danach vermittels verschiedener dramaturgischer Strategien auf die vielen szenischen Räume mit ihren entsprechenden Figurenkonstellationen verteilt. Dies passiert bei Sleep no more durch eine zeitversetzte Fahrstuhlfahrt kleiner Zuschauer*innen-Gruppen, die möglich macht, dass sich das Publikum sukzessive auf allen fünf Etagen ausbreitet. Bei Alma findet die Aufteilung über die parallel beginnenden Szenen statt, die vom Gast einfordern, einer der vorgestellten Figuren in ihre szenischen Konstellationen zu folgen. Bei 3/Fifths leistet die marktplatzförmige Anordnung der verschiedenen Stationen eine Verteilung der Besucher*innen. Und bei den SIGNA-Arbeiten wird man entweder wie in Wir Hunde oder Das Heuvolk einer Familie bzw. einem Schrein zugeordnet oder wie bei Das halbe Leid von einem Leidenden als Kursist*in erwählt und damit sogar für den Rest des Abends einer festen fiktiven Bezugsperson zugeteilt. Die Simultaneität der Ereignisse führt dazu, dass alle Zuschauer*innen die jeweilige Inszenierung in einer unterschiedlichen Reihenfolge und damit auch mit unterschiedlichen fiktionsbezogenen Schwerpunkten erleben. Damit gehen auch je verschiedene Begegnungskonstellationen zwischen Zuschauer*innen und Darsteller*innen sowie zwischen Zuschauer*innen untereinander einher, die hinsichtlich Länge, Gegenstand und Intensität variieren.

Bei allen Beispielen gibt es in sich geschlossene Einheiten wie z. B. die Bankett-Szene in Sleep no more, das Abschlussritual in Das Heuvolk oder die Bühnenshow mit N-Wort-Witzen in 3/Fifths, die wie kleine Aufführungen innerhalb der Aufführung funktionieren, kaum bis gar keinen Spielraum zur aktiven Zuschauer*innen-Beteiligung geben und auch in allen Aufführungen weitestgehend identisch ablaufen. Dazwischen kommt es – seien es die One-on-Ones bei Sleep no more, die Begegnungen an den Schauständen bei 3/Fifths oder die kleinen Rituale in Das Heuvolk – zu Begebenheiten, die man mit dem Begriff der Situation beschreiben müsste. Gerald Siegmund identifiziert im Gegenwartstheater und zeitgenössischen Tanz vier neue »Theater-Typen« (Siegmund, 2020, S. 151) – das dokumentarische Theater, das immersive Theater, Gender Performances und Theater als Ort der Versammlung, für deren jeweiliges Verständnis er die Situation als »Leitkonzept« (ebd., S. 19) vorschlägt. Das, was er als »Situation« bezeichnet, geht insofern über den Begriff der Aufführung hinaus, weil sich Erstere nicht nur durch das physische Zusammenkommen von Zuschauer*innen und Akteur*innen auszeichne, sondern auch dadurch, dass durch sie das »Ethische ins Feld des Ästhetischen ein[ge]tragen« (ebd.) werde.

Situationen, wie sie sich in den in Rede stehenden Aufführungen ereignen, sind im Inszenierungsskript ein- und vorgeplant, realisieren sich dann allerdings je singulär als spezifische, je von den Beteiligten abhängige Begegnungen. Gerade bei den in die Aufführungen eingelassenen One-on-Ones handelt es sich um Situationen par excellence: Sie finden zumeist in abgelegenen Séparées statt und zielen auf ein möglichst unmittelbares und/oder gar intimes physisches Zusammenkommen. Insbesondere bei SIGNA ereignen sich in jeder Aufführung Sequenzen, die Szene und Situation zugleich sind. Eine Sequenz wie die Abrichtung von Hundsch Pax im Zwinger bei Wir Hunde ist eindeutig inszeniert, basiert auf Proben und gemeinsamen Improvisationen der Darsteller*innen, folgt einem festgelegten Ablauf und dramatischen Handlungsbogen und geht dennoch in jeder Aufführung über das Inszenierte hinaus, wird zur Situation, weil ihr Fortgang vom Verhalten der jeweils involvierten Zuschauer*innen mitbestimmt wird. Wird ein*e Zuschauer*in in die z. T. gewaltsamen Aktionen der Abrichtung eingreifen? Wenn ja, wie verhalten sich die anderen Zuschauer*innen? Welche Blickbegegnungen werden ausgetauscht? Motivieren sie zum Einschreiten? Entfaltet sich daraus ein kollektives Aushandeln über die Fortsetzung der geteilten Situation oder werden Einwände zugunsten eines reibungslosen Aufführungsfortgangs stillschweigend akzeptiert? In solchen Situationen manifestiert sich die von Siegmund ins Feld geführte ethische Dimension, insofern ein Akt körperlicher Gewaltausübung zugleich innerdiegetisch begründet und motiviert wird, aber trotz des Wissens, dass es sich um eine Theateraufführung handelt, real vor den eigenen Augen an einem Darsteller*innen-Körper ausagiert wird und die Zuschauenden zu Zeug*innen bzw. Kompliz*innen (vgl. Kap. 4.3) macht.

SIGNAs Mikrokosmen zeichnen sich außerdem dadurch aus, dass sie sich innerhalb einer Aufführung nicht nur simultan ereignen und vom Gast je individuell ausgekundschaftet werden können, sondern dass sie sich auch in realer Zeit entfalten. Alle Begegnungen, Gespräche und Aushandlungen, sowohl zwischen Darsteller*innen/Figuren und Zuschauer*innen als auch von Darsteller*innen/Figuren untereinander, wandern potentiell in den Mikrokosmos ein, können das fiktionalisierte soziale Gefüge beeinflussen und transformieren. Denn SIGNA gewährt ihren Darsteller*innen, respektive den Figuren, sich innerhalb der insgesamt meist um die dreißig Aufführungen pro Produktion im Zeitraum von circa sechs bis acht Wochen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Was die Figuren innerhalb der Diegese miteinander erleben (Streit, Liebeleien, Vertrauensbrüche etc.), entfaltet sich über alle Aufführungen hinweg als Kontinuum. Deshalb wird eine Zuschauerin bei der Premiere, abgesehen vom unterschiedlichen Parcours und den verschiedenen Begegnungskonstellationen, eine signifikant andere Aufführung erleben als ein Zuschauer bei der Derniere. Die Aufführungen von Wir Hunde, Das Heuvolk oder Das halbe Leid reproduzieren zwar pro Aufführungsabend eine bestimmte Empfangs-, Stationen- und Auslassdramaturgie, lassen dazwischen aber Spielraum für innerdiegetische Entwicklungen der Figuren, die auch von den Begegnungen mit Zuschauer*innen beeinflusst werden können. Sie schließen Impulse, die von Gästen in die diegetische Welt hineingetragen wurden, ein, indem sich Figuren daran erinnern und diese wieder aufgreifen.117

Zuletzt kommt es bei SIGNA-Produktionen auch zu Aufführungen außer der Reihe, zu den sogenannten »Special Hours«.118 Im Falle von Das Heuvolk waren dies Treffen außerhalb der Gebäude der Gemeinde mit ausgewählten, mehrfach wiederkehrenden Zuschauer*innen, die sich bereits bei ihrem ersten Besuch durch eine Teilnahme am Abschlussritual für eine Mitgliedschaft in der Gemeinde entschieden hatten und nun gleichsam innerdiegetisch aber außerhalb des Spielortes geprüft wurden, ob sie wirklich im Begriff waren, ihr Leben entsprechend der Vorgaben der Himmelfahrer umzustellen. Bei Wir Hunde ging es darum, die Gastfreundschaft, die man beim Tag der offenen Tür von Canis-Humanus-Mitgliedern erfahren hat, konkret zurückzugeben, indem ausgewählte Zuschauer*innen die Gelegenheit bekamen, Hundsch-Familien in ihren privaten Wohnungen zu Kaffee oder einem Essen einzuladen. Diese fiktionalisierten Situationen bezeugen nicht nur das Stattfinden weiterer, zur Produktion gehörender, entgrenzter Aufführungen. Sie bestätigen auch die signifikante Ausweitung von SIGNA-Produktionen in die private Lebenswelt der Zuschauer*innen und damit einmal mehr das in Kapitel 2.2.2 erläuterte gemeinsame Hervorbringen einer Wirklichkeitssimulation auch über die reguläre Aufführungsdauer hinaus.

So lässt sich zusammenfassen, dass im immersiven Theater »die Aufführung [nicht] existiert« (Kolesch, 2017, S. 34). Im Singular ließe sich von der Aufführung nur noch als organisationale Einheit sprechen, als das jeweilige Zusammenkommen einer bestimmten Zuschauer*innen-Darsteller*innen-Besetzung an einem bestimmten Tag für eine festgelegte Dauer. Was die Reihenfolge der Geschehnisse, die Figuren-Begegnungen, den Einblick in die Diegese der fiktionalen Lebenswelt, den mitwirkenden Anteil individueller Assoziationen bei der Bedeutungsgenerierung und die Wahrnehmungsereignisse betrifft, haben wir es bei jeder Aufführung mit jeweils so vielen verschiedenen Varianten zu tun, wie es mit-wirkende Zuschauer*innen gibt. Damit entziehen sich Inszenierung und Aufführung der Option einer Analyse in toto. Zugänglich bleiben einem*r stets nur diejenigen singulären und partikularen Szenen und Situationen, die man selbst erlebt hat, und damit immer nur ein kleiner Teil des Gesamtgeschehens. Deshalb schlage ich vor, immersive Theateraufführungen analytisch auf einer Mikroebene zu erschließen, indem man sich zuvorderst der Betrachtung ausgewählter, als neuralgisch empfundener Szenen und Situationen verschreibt. Zum einen deshalb, weil diejenige Zuschauer*innen-Involvierung, die eine Situation einfordert, selbst auch situativ verfasst ist und damit nie für die gesamte Aufführung gelten und also auch keinen repräsentativen Anspruch entfalten kann. Zum anderen, weil sich affekttheoretisch gedacht die mit-wirkenden Parameter im relationalen Gefüge der in Rede stehenden Situation nur exemplarisch an einer isolierten szenischen Sequenz in nuce analysieren lassen.

117 Ein Beispiel hierfür wäre ein Gespräch mit Justinus Sohn (Lukas Steimer) im Büro für interne Gesetze bei SIGNAs Söhne & Söhne. Hier habe ich bei meinem Aufführungsbesuch erlebt, wie Steimer in einer Diskussion um eine schwarze körpergroße Schuldpuppe, die von teilnehmenden Zuschauer*innen stellvertretend für ein situatives Vergehen einem Gang der Buße gleich sichtbar durch das Gebäude getragen werden sollte, den Einwand einer Zuschauerin vom Vorabend proaktiv eingebaut und widerlegt hat, vgl. Kolesch/Schütz, 2020, S. 33.

118 Mein Wissen über diese Aufführungen jenseits der regulären Aufführungen basiert auf Zuschauer*innen-Berichten. Da »Special Hours« aus logistischen Gründen nur in der Stadt stattfinden können, in der die jeweilige Arbeit produziert und gezeigt wird, und ich immer nur für die Sichtungen nach Mannheim, Wien oder Hamburg angereist bin, habe ich selbst leider noch keine »Special Hour« miterlebt.

 

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