Theater der Zeit

Kolumne

„Ich schau nie in den Himmel, außer ich habe Wäsche auf der Leine“

von Jenny Erpenbeck

Erschienen in: Theater der Zeit: Bühne & Film – Superstar aus Neustrelitz (01/2023)

Assoziationen: Deutsches Theater (Berlin)

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Zum Deutschen Theater, sage ich dem Taxifahrer, und denke gerade, dass ich diesen Satz schon sehr lange nicht mehr gesagt habe, als der Taxifahrer nachfragt: Wohin? Zum Deutschen Theater, wiederhole ich, während mir dämmert, dass der Taxifahrer diese Ansage vielleicht noch nie gehört hat. Schumannstraße, setze ich sicherheitshalber hinzu und erinnere mich daran, dass ich einmal in einer ganz anderen Zeit gelebt habe. Schumannstraße, ja? Zwerg Nase glaubt, er habe einer alten Frau nur die Einkäufe nach Hause getragen und dort ein halbes Stündchen geschlafen, aber in Wahrheit war er sieben Jahre bei der Hexe im Dienst. Als er, in einen hässlichen Zwerg verwandelt, ahnungslos nach Hause zurückkehrt, kennt ihn seine Mutter nicht mehr und jagt ihn davon. So ungefähr.

Das „Himmelszelt“ von Lucy Kirkwood, inszeniert von Jette Steckel, wollen wir sehen. Wir, das sind mein Mann, unser zwanzigjähriger Sohn und ich. Da drüben, auf der anderen Seite der Reinhardstraße, habe ich als Zwanzigjährige gewohnt. Das war, als der Neubauklotz, der jetzt den Blick auf mein ehemaliges Haus versperrt, noch nicht stand, als da nur ein Parkplatz war, ein paar Sträucher und Bäume und daneben die Mensa Nord, in der ich während meines Studiums die dreckigen Teller vom Transportband in den Geschirrspüler geräumt habe. Damals habe ich im Deutschen Theater Büchner gesehen und Goethe und Euripides und Grabbe und Tschechow. Manchmal rannte ich fünf Minuten vor Beginn noch einmal hinüber zu meinem Haus, weil ich meine Brille vergessen hatte. Manchmal musste ich in der Pause gehen, weil ich Bauchschmerzen bekam von der zu großen Aufregung. Bei „Medea“ zum Beispiel, die von Katja Paryla gespielt wurde. Damals, als ich jung war, war das Deutsche Theater für mich so etwas wie ein zweites Zuhause.

Und nun sitze ich, dreißig Jahre später, zwischen Mann und Sohn, und im Halbdunkel tritt eine auf, die soll gemordet haben, angeklagt wird sie und darf nur mit dem Leben davonkommen, wenn sie schwanger ist. Ist sie denn schwanger? Beurteilen soll das eine Jury aus zwölf Müttern, eingesperrt in einen Raum „ohne Essen, Trinken, Licht und Wärme“, so die mittelalterliche Sitte. Plötzlich ist alles orange und blutrot, zwölf Frauen scheuern den Fußboden, stampfen Butter, dreschen, schrubben, walzen mit ihrer Arbeit auf uns zu wie eine Armee. Die Arbeit macht Lärm und der Lärm fährt uns, den Zuschauern, in die Knochen. Zwölf Frauen mit dem Privileg und der Qual der Entscheidungsfreiheit in einer Welt, die ansonsten von Männern gemacht ist. Eifersucht, Zorn, Liebe, Enttäuschung mal zwölf. Als Kontrapunkt der Stress der liegengebliebenen Arbeit. „Ich habe ein Feld mit Lauch, der muss heute noch gezogen werden. Glaubst du, es wird sehr lang dauern mit dem Urteil?“ Wie schwer Freiheit unter solchen Bedingungen zu machen ist, wie schwer Solidarität. Wie schwer es ist, im Urteil über eine andere sich selbst zu emanzipieren. Die königliche Maren Eggert. Und die wilde Kathleen Morgeneyer, die geschunden ist, aber auch voller Hass. „Gott ist nicht da oben. Er ist in uns, in unseren Körpern. In deinem Körper und in meinem. Er ist in deinem Blut, deinem Fleisch und deinem Gehirn, das übrigens wie ein schmutziger Schwamm aussieht, mit dem man Fenster geputzt hat.“ Zweieinhalb Stunden lang wird das einfache Schema von Gut und Böse zum Teufel gejagt. Zweieinhalb Stunden sitzen wir mit aufgerissenen Augen da. Der Sohn, der Mann und ich, die Frau. Hat sie denn Milch? Ja. Aber dann fällt Asche auf alles und die Milch ist schwarz. Noch nie habe ich so einen Theaterabend gesehen, sagt unser Sohn, als wir auf dem Weg zur Garderobe sind. Mein Mann und ich nicken stumm, weil wir noch nicht wieder sprechen können. Was für ein Text, denke ich. Was für eine Inszenierung. Was für ein grandioses Ensemble. Dreizehn Frauen und zwei Männer, die uns ihre leibhaftige Gegenwart um die Ohren gehauen haben.

Weil ich so lange nicht im Theater war, hatte ich sogar vergessen, wie sehr es mir fehlt.

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schrifststellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

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