VI Helmut Lachenmann
»Mit den Ohren schauen und mit den Augen hören«
Eine Annäherung an Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern«: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
von Klaus Zehelein
Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)
Assoziationen: Mit den Ohren sehen
Nach Gesprächen in Frankfurt und einer von mir versuchten schriftlichen Analyse, besser: Überschreibung von Hans Christian Andersens Märchen, schrieb mir im Sommer 1989 Helmut Lachenmann – acht Jahre vor der Uraufführung an der Staatsoper Hamburg – in einem Brief:
Du versuchst, der Mädchen-Geschichte den Sinn zu entlocken, der ihre Musikalisierung (Veroperung??) rechtfertigt, hast auch, wie immer mehr nun auch ich die gefährlichen, begrenzenden Biederkeiten im Sujet und seiner Strukturierung erkannt. Ich weiß nicht, ob beziehungsweise wie weit ich als Musiker mich um den Symbolgehalt, um alle Ausdeutbarkeiten und vorhandene oder zu konstruierende Bezüge kümmern kann, muss, darf. Ich tu das schon, aber eher als philosophierender Dilettant. Und so wie der Besoffene die verlorene Uhr nachts dort sucht, wo die Straßenlaterne steht, tendiert meine Interpretation dorthin, wo meine kunstphilosophischen Spekulationen sich mit musikalischen Materialtendenzen verkörpern lassen. Das ist meine Form der Vergewaltigung, mit der Gefahr, dass am Ende nicht nur das Mädchen in Folge abhanden gekommener Pantoffeln an den Füßen abstirbt, sondern auch – das Märchen.
Aber nur indem wir dem Märchen selbst die Pantoffeln nehmen, können wir diese musikalisierte, musiktheaterisierte Neubegegnung versuchen, meine ich. […] Das Gespräch mit Dir hat sich bisher weithin um das rechte (?) oder aktuelle Verständnis des Märchens gedreht. […] Für mich ist die Frage, was mache ich mit dem Ding? Wie viel muss ich – sozusagen in »D e i n e m« Sinne wissen, bevor ich als Komponist die Gegend abstecke. Wie kann ich schon anfangen, ohne zu »wissen«, so dass ich dennoch nichts blockiere.
Wieweit kannst Du mir beim Abstecken helfen, beziehungsweise solltest Du mir vorsorglich in den Arm fallen, wo ich auf die Tücken in der Löwenhöhle reinfalle?1
Um die Fragen Lachenmanns hier zu beantworten: Die »Tücken der Löwenhöhle« – damit meint er natürlich die Institution Oper, die Opernhäuser, die ja Pierre Boulez schon 1973 in die Luft sprengen wollte –, diese Bemerkung nahm ich, in Kenntnis der immer wieder behaupteten, vermeintlichen Notwendigkeit der Opernhäuser, die Komponist:innen auf die Belange der Institution einzuschwören, sehr ernst. Schon Verdi hat unter dieser falschen Prämisse gelitten und seine Haltung zu diesem Problem gilt bis heute: Die Komponist:innen und ihre Kunst sollen dem Apparat, der Institution den Weg weisen und nicht umgekehrt.
Bei der eigenständigen Intelligenz des Komponisten und Musikdenkers – was im Folgenden ablesbar sein wird – wäre es vermessen, ihm angesichts der »Tücken der Löwenhöhle« vorsorglich oder fürsorglich in den Arm zu fallen, geht es doch ab einem bestimmten Moment der Arbeit gerade darum, nicht mehr zu wissen, sondern zu entdecken, das Staunen neu zu lernen, die Suche nach Erkenntnis wachzuhalten. Es ging also in meiner Vorarbeit nicht um Umfassung, nicht um richtig oder falsch, sondern um die Begleitung einer Spurensuche, bis hin zu dem Moment, als sich die Frage nach der originären Struktur des musikalischen Materials stellte. Im Übrigen: Lachenmanns Beschäftigung mit Andersen Märchen reichte bis in das Jahr 1975 zurück. Anlässlich der Uraufführung seines Stückes Schwankungen am Rand für die Donaueschinger Musiktage schrieb er den programmatischen Satz: »Ich hasse – nicht nur in der Kunst – den Messias und den Hanswurst. Der eine ist das Zerrbild des Anderen. Dafür liebe ich Don Quichote und ich glaube an das Mädchen mit den Schwefelhölzern.«2
Lachenmann hatte allerdings in der Vergangenheit bittere Erfahrungen in einer anderen Löwenhöhle gemacht. Seine Musik wurde von Seiten der meisten Orchester und vieler Dirigenten für unausführbar erklärt, weil das traditionelle Verständnis ihres Musizierens in Zweifel gezogen schien, sie sich außerstande erklärten, sein musikalisches Denken in der Praxis zu begreifen. Die etablierten Rezeptionsweisen, ein Hören im Nachvollzug von Kadenzen, Perioden und Sätzen, war in Lachenmanns Kompositionen ausgesetzt, vertraute Hörgewohnheiten radikal verletzt. Notturno für kleines Orchester mit Violincello solo von 1968 kann man als Schlüsselwerk bezeichnen, in dem zwei unterschiedliche Ästhetiken zusammentrafen:
Eine ältere, welche den Klang als Resultat und Ausdruck abstrakter Ordnungsvorstellungen versteht, und eine jüngere, in welche jede Ordnung möglichst konkreter, unmittelbarer Klangrealisitik dienen soll.3
Musique Concrète Instrumentale benannte Lachenmann – im Nachklang Pierre Schaeffers Tonband – Geräuschkomposition, »musique concrète« – seine instrumental-konkreten Klangkompositionen. In dem Einführungstext zu Pression für einen Cellisten von 1970 formuliert er seine Komposition der Musique Concrète Instrumentale:
Gemeint ist damit eine Musik, in welcher die Schallereignisse so gewählt und organisiert sind, dass man die Art ihrer Entstehung nicht weniger ins musikalische Erlebnis einbezieht als die resultierenden akustischen Eigenschaften selbst. Klangfarbe, Lautstärke […] kennzeichnen bzw. signalisieren die konkrete Situation. Man hört […], mit welchen Energien und gegen welche Widerstände ein Klang, bzw. ein Geräusch entsteht. Ein solcher Aspekt […] muss durch eine Kompositionstechnik erst freilegt und unterstützt werden, zugleich wird so den üblichen, eingeschliffenen Hörgewohnheiten […] der Weg verstellt. Das Ganze wird zur ästhetischen Provokation: Schönheit als verweigerte Gewohnheit.4
Lachenmann versteht seine instrumentale Musique Concrète als Angebot an die Hörer:innen, anders zu hören, sich diese charakteristische Provokation bewusst zu machen, nicht zustimmend nachzuvollziehen, sondern Rückschlüsse zu ziehen, zu denken. Was Lachenmann bereits 1970 für die Komposition Pression als Grundlagen seiner Komposition formulierte, gilt in nuce für ihn bis heute. Ihre Bestimmungen betreffen unterschiedliche Ebenen, auf denen das Konzept sich entfaltet:
Die Art der Entstehung des Klanges, also Spieltechniken der Instrumente, der Akustik instrumentaler Geräusche, Stellung der Musiker:innen im Raum sowie die akustischen Eigenschaften dieser Klangerzeugung und ihrer Einordnung in eine Klangklassifikation. Im Besonderen kommt gleichwohl die Kompositionstechnik, also die Anordnung der Klänge/Geräusche als Strukturgebung des Werkes in diesem Konzept zum Tragen. Auch die Rezeptionsgewohnheiten der Hörer:innen und die Stellung des Werkes zur Tradition spielen hierbei eine Rolle und last but not least die ästhetische Provokation: damit sind jene Aspekte des Bewusstseins der ausübenden Musiker:innen gemeint, vor allem im Hinblick auf zu hinterfragende Erwartungshaltungen hinsichtlich ihrer Professionalität, damit ihres gesellschaftlichen Lebenszusammenhanges.5
Wenn auch der spätere Lachenmann mit dem Begriff der Provokation weniger argumentierte, so wusste er aus Erfahrung doch, welche inneren Widerstände Musiker:innen überwinden müssen, um die vorgeschlagene Praxis zu akzeptieren. Denn: In ihrer Ausbildung und in ihrem Beruf haben die Musiker:innen mit großem Eifer daran gearbeitet, einen – wie auch immer – ›Schönen Ton‹ als Ergebnis all der Bemühung zu reproduzieren; und nun sollen sie auf einmal die Entstehung und nicht das Ergebnis eines Klangereignisses als musikalisches Erlebnis akzeptieren, sollen den Prozess der Herstellung aushören? Bestand nicht das Ideal jeglicher Kunst gerade darin, das Wie, also die technisch-handwerkliche Arbeit möglichst zum Verschwinden zu bringen, um ein voraussetzungsloses Was der Welt zu offenbaren, wie es z. B. der Altmeister Richard Wagner nicht müde wurde zu propagieren?
Als wir an der Staatsoper Stuttgart, ein Jahr vor der Premiere, mit den Chor- und Orchesterproben begannen, die für eine Aufführung notwendigen Techniken zu vermitteln, wurde zumindest von Seiten des Staatsorchesters Befremden, ja Widerwillen artikuliert. In über hundert Einzel- bis Ensembleproben wurde allerdings die Herausforderung deutlich, die unterschiedlichen Spieltechniken, das wachsame Verfolgen der Klang-Entstehungsprozesse als künstlerische Aufgabe zu begreifen. Und nach der zwölften Aufführung schlugen mir Orchester- und Chorvorstand vor, zur Wiederaufnahme des Werkes jeweils eine Stunde vor den Aufführungen ihre Klangerzeugungskunst als Einführung in das Werk dem Publikum vorzustellen – was dann auch mit überwältigendem Erfolg getan wurde, um im Sinne Lachenmanns die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung zu stimulieren.
In Andersens Das Mädchen mit den Schwefelhölzern gibt es keinen Dialog, also nichts, was sprachlich dialektisch die Narration voranbringen könnte. Das Mädchen ist in der Winterhart zu Neujahr da, es friert, es geht – bedrängt von der kalten Stadtwelt –, es erinnert sich. Dann, in einem Winkel einer Hauswand sitzend, all seine nichtverkauften Streichhölzer nach und nach entzündet, um in den kurzen Phasen der Wärme das Schöne, das Erträumte, das Ersehnte aufscheinen zu lassen. Lachenmann verfolgt den Andersen-Text von Anfang bis zum bitteren Ende, ohne ihn zu vertonen. Er tastet ihn gleichsam ab, nimmt ihn als Prätext auch für zwei Texteinschübe von Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci; er ist Anlass der gesamten Unternehmung. Lachenmanns Klangspektrum ist groß angelegt: zwei Soprane, vier Gruppen von Vokalsolist:innen, großes Orchester, großes Schlagwerk, zwei Konzertflügel, Orgel, ein solistisches Streichoktett, ein Sho (japanische Mundorgel); hinzu kommen Einspielungen über CD. Das große Orchester ist im Orchestergraben platziert, während die Vokalsolist:innen und Instrumentalgruppen im Raum verteilt sind, so dass die Zuhörer:innen gleichsam eintauchen in die Klänge. Dieser große Klangapparat wird selten in voller Gänze eingesetzt, vielmehr ermöglicht er die Vielfalt der Geräusch- und Klangfarben dieser Partitur.
In dem Beginn von »Musik mit Bildern« wirken vor allem jene Teile, die mit »Frier-Arie« und mit »Trio und Reprise« überschrieben sind, überraschend, vielleicht auch irritierend, scheint doch der Zugriff auf die Musik mimetisch: klirrende Kälte, der frierende Körper; das Japsen des nach Luft ringenden Mädchens, Kältezittern, Händereiben – es ist, als müsse der nachfolgende Gesang dieser Kälte abgetrotzt werden. Diese Musik ist Komposition, indem Teilmomente koordiniert und funktional verbunden sind. Die strukturelle Einbindung der mimetischen Artikulation, der physiologische Aspekt macht symbolische oder metaphorische Deutungen zweitrangig. Dies gilt für das ganze Werk. Diese Klang-Bildlichkeit wirkt deshalb nicht anekdotisch-illustrativ, da sie auf Integration von auratischer und materialer Struktur zielt.6
Beim Hören dieser Musik wird die große Schwierigkeit für eine Inszenierung offensichtlich, will sie die Narration der klanglich-mimetischen Ebene nicht einfach verdoppeln. In der gesamten Partitur gibt Lachenmann keine szenischen Anweisungen, keine Kommentare oder Hinweise zur theatralischen Realisation. Diesem Dilemma der Regie entgegnete er: »Musikalisches Theater heißt für mich: Innere Bilder, die das reine Hören evoziert, durch äußere beantworten und umgekehrt.«7
Die strukturell reflektierte musikalische Autonomie bei Lachenmann lässt die Unterscheidung von Abbildendem und Abgebildetem nicht mehr zu. In der Grammatologie schreibt Derrida:
In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprung ungreifbar. Es gibt Dinge […] und Bilder, ein endloses Aufeinander-Verweisen, aber es gibt […] keinen einfachen Ursprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur sein Bild hinzugefügt.8
Die klanglich-mimetischen Momente sind sowohl akustische, ja naturalistische Narrationen, als auch davon losgelöst, kompositorisches Material, sind sowohl Zitation als auch Immanenz. Die Anweisung für die Streichinstrumente »col legno« (d. h. mit dem Holz des Bogens) z. B. ist beides: Verweis auf die Streich-Hölzer als auch die bestimmte Artikulation eines autonomen musikalischen Konzeptes. In einem Gespräch über Fragen zur theatralen Realisation des Mädchens sagte Lachenmann:
Die Frage, die sich mir stellte, war die, ob es möglich ist, ein solches nicht weniger autonom orientiertes kompositorisches Konzept in ein Theaterprojekt hinüber zu retten. Aus dem Grund kamen für mich niemals dramatische Handlungen, Dialoge, das Austragen von Spannungen zwischen Individuen in Frage, zu denen Musik ›hinzu‹ komponiert werden konnte – wohl aber mehr oder weniger komplexe, starre oder sich wandelnde Situationen: Bilder, denen das Schauen – sowie in der Musik das Hören – ›zu sich selbst kommt‹, in denen man mit den Ohren schaut und mit den Augen hört. […] Kann nicht die Tatsache, dass ich das alles in der Musik abbilde, dass ich also den bildhaften erzählenden Bereich so usurpiere, vielleicht gar blockiere, den Regisseur kreativ – und sei es zum Widerstand – herausfordern? Das ist doch auch eine Chance. Das Szenische muss sich dann kategorisch neu definieren – also genau das, was ich kompositorisch von mir selbst verlange!9
Ich denke, dass unserer Stuttgarter Inszenierung von Peter Mosbach, der auch das Bild entwarf, in den besten Momenten dieser Spagat gelang, nämlich, die Musik Lachenmanns nicht hermeneutisch zu befragen, sondern der Musik mit einer autonomen Ebene der Szene zu begegnen, die, jenseits von Beliebigkeit, die Spuren der Musik kreuzt: Der Vielfalt und der unterschiedlichen Dichte der akustischen Ereignisse entgegnet die Szene mit einem kontinuierlich-zeitlichen Vorgang, und, wie im zehnten Bild, dem Finale des ersten Teils, mit einem sukzessiv allmählich sich komplettierenden Bild. Dieses zehnte Bild hat Lachenmann mit »Aus allen Fenstern« benannt. Der erste Teil dieses Bildes mag uns in Momenten an die Glockenspiele einer alten Ladentür, an die schmalzige Rhetorik der Weihnachtszeit und deren Aufruf zum Konsum erinnern. Im zweiten Abschnitt wird ein Sprecher eingespielt, der die Pantoffel-Episode des Märchens wiedergibt, um danach einen Brief von Gudrun Ensslin aus dem Jahre 1975 zu zitieren, der zum Protest gegen den nach innen gerichteten Imperialismus aufruft. Dieser Brief ist bestimmend für das fünfzehnte Bild des zweiten Teils »Litanei.« Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Mit Gudrun Ensslin stellt der Komponist seiner Titelfigur gewissermaßen eine geistesverwandte Schwester zur Seite. Lachenmann schreibt zur Hamburger Uraufführung 1997:
Die Geschichte von dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern selbst steckt voller Botschaften, klaren und verhüllten: Gesellschaftskritik, existenzielle Einsamkeit, ›repressiver‹ Protest – das Kapital des kleinen Mädchens, die Schwefelhölzchen, die es anzündet, um sich zu wärmen, um Vorstellungen von Glück hervorzurufen – wobei es erfriert. In meiner Kindheit habe ich Gudrun Ensslin gekannt, die ebenso wie ich aus einer Pastorenfamilie kam, voller Ideale, protestantisch im radikalsten Sinn; sie schloss sich der Roten Armee-Fraktion an, und zu Beginn ihrer zweifelhaften Karriere in der politischen Protestbewegung steckte sie ein großes Warenhaus in Brand […] [Sie], die Unrecht ausspricht und sich ins Unrecht setzt.10
Der dritte Abschnitt wird bestimmt durch harte Einschnitte, Orchesterschläge, die den Versuch der Artikulation von Protest nach der ersten Silbe zunichte machen. Dazwischen ist zum ersten Male mehrfach »ICH« – die Stimme des Mädchens – zu verstehen. Der letzte Abschnitt nimmt die Farben des Beginns auf: Choralfetzen, ›Stille-Nacht-Rhythmus‹, der Glanz einer schalgewordenen Religiosität, es herrscht die Kälte, in der das Mädchen erfrieren wird. Dieses Bild, eine Videoprojektion, die sich während der Szene sukzessiv aufbaut, wird lesbar als der Sicherheitstrakt des Gefängnisses von Stuttgart-Stammheim, in dem Raspe, (Meins?), Baader und Ensslin inhaftiert waren und starben.
Es erscheint mir notwendig, an dieser Stelle meiner Annäherung an Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, den Materialbegriff Lachenmanns aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Wie schon angemerkt, ist das zentrale Moment seiner Musik aller Klänge und aller Formprozesse doppelt bestimmt: Einmal als syntaktisches und einmal als semantisches Element. Z. B. werden die Guerro-Klänge der Streicher, die Luftgeräusche der Bläser, die Woodblock-Schläge unterschiedlichen Klangfamilien zugeordnet. So nennt er die Guerro-Klänge, die gepressten Töne der Streicher oder die Flatterzunge der Bläser perforierte Klänge; die Luftgeräusche der Bläser sind verwandt mit dem tonlosen Streichen der Streichinstrumente und Woodblockschläge mit dem Col legno-Spiel der Streicher. Ein schier unermessliches Klangvokabular bestimmt Lachenmanns Polyphonie der Anordnungen, deren Komplexität sich als Beziehungsgeflecht (, als Zeitstruktur) beschreiben lässt. Die Idee der Familie ordnet also die Klänge nach ihrem klassifikatorischen und nicht nach dem affektiven Potential.
Der mimetisch-semantische Anteil von Klang und Formprozessen ist auf zwei unterschiedliche Arten zu bestimmen. Eine, die man als die existenzielle bezeichnen könnte und die an elementare Lebensbedingungen oder -erfahrungen geknüpft ist: die Luftgeräusche, die auf das Atmen verweisen, all jene Klangtypen, die an körperliche Vorgänge des Frierens gebunden sind – das Japsen, das Zittern, das Händereiben sowie jene Naturerfahrung des Donners und des Windes. Diese Ebene ist wohl die wesentlich musikalische Entwicklung Lachenmanns, da sie – wie schon gesagt – musikalische Bedeutung, Sinngebung neu zu bestimmen versucht über ihren geradezu ursprünglichen Aspekt, die Koppelung an die Hervorbringung von Klang durch den menschlichen Körper, die noch nicht konventionalvisierte Bedeutung, die aus den geradezu vorsprachlichen, mimetischen Versuchen von Äußerungen entspringt – die Rückkoppelung einer hochkomplizierten Syntax an existenzielle Momente musikalischen Ausdrucks. Die zweite Art der Semantik definiert sich über die Geschichte, die Bestimmung von Klang in seiner kulturellen Konvention. Gerade in dem eben wahrgenommenen zehnten Bild »Aus allen Fenstern«, jenem Finale des ersten Teils, in dem das einsame Mädchen den sie umgebenden herben und auch pathetisch prächtigen Klängen der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, wird diese Ebene der Semantik in den tonalen Bereichen besonders deutlich. Der Versuch, gegen die furchtbare, feindselige Heimeligkeit eine Artikulation des Protestes zu gewinnen, scheitert – wie schon oben gesagt – an den rabiaten Schlägen der Orchesterakkorde. Diese Akkorde, besser Orchesterschläge, sind Zitate aus der historischen Literatur: aus Beethovens Coreolan-Ouvertüre, aus Gustav Mahlers 6-Sinfonie, aus Igor Strawinskys Sacre du Printemps, aus Alban Bergs Wozzeck, aus Arnold Schönbergs Orchestervariationen. Helmut Lachenmann dazu: »[…] alle diese Einsätze unverfremdet, aber bis zur Unkenntlichkeit entfremdet durch ihre Herauslösung aus ihren angestammten Umgebungen und gewaltsame Nachbarschaft, bzw. gegenseitigen Konfrontation – dazwischen […] der Ruf des Mädchens: ›Ich‹«11
War im ersten Teil das Mädchen auf der Straße eine Getriebene, einer ihm feindlichen Welt ausgesetzt – seine Einsamkeit, seine Ausgegrenztheit das bestimmende Motiv –, rückt im zweiten Teil Handlung in das Zentrum des Geschehens. Das Mädchen, mit seinen nicht verkauften Streichhölzern erschöpft in der Nische einer Hauswand sitzend, entzündet jetzt ein Streichholz: »Sie zog eines heraus, ›Ritsch!‹. Wie sprühte es, wie brannte es! […] es war ein wunderbares Licht! Es kam dem Mädchen vor, als sitze es vor einem großen eisernen Ofen«, so Hans Christian Andersen zu Beginn des zweiten Teiles der Komposition.12 Das Mädchen handelt, handelt gegen jede gesellschaftliche Vernunft, indem es beginnt, das Kapital der ihr entfremdeten Familie zu vernichten. Wie erwähnt: die erste Anklage Gudrun Ensslins betraf ihren Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus. So setzt Lachenmann nach diesem Bild, benannt »Ritsch/Ofen«, in dem folgenden Bild »Litanei« den zweiten Text von Gudrun Ensslin.
Der zweite Teil der Komposition ist strukturiert durch drei Momente, wenn das Mädchen die Streichhölzer anzündet: die drei »Ritschs«. Das erste entfaltet sich allmählich: ein japanischer Gong wird angeheizt, durch Reibung werden die Obertöne langsam aktiviert, um in einer dicken harmonischen Schicht die Wärme des Ofens zu evozieren. Am Ende des Bildes »Ritsch/Ofen« legt sich ein Eishauch, das taube Rauschen von aneinander geriebenen Styroporplatten, über die Szene. Dem auf »Ritsch/Ofen« folgenden Bild »Litanei« liegt der Schluss eines Briefes zugrunde, den Gudrun Ensslin Anfang 1975 aus der Stammheim-Haft schrieb. Er beginnt:
der kriminelle, der wahnsinnige, der Selbstmörder - sie verkörpern diesen Widerspruch. sie verrecken in ihm. ihr verrecken verdeutlicht die ausweglosigkeit/ohnmacht des menschen im System: entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere, entweder tot oder egoist.13
Mit »schreibt auf unsere haut« beendet Lachenmann das Zitat. Lachenmann behandelt diesen Text Ensslins nicht im Sinne einer wütenden Proklamation; es ist der Chor, der, silbenmäßig aufgeteilt durch die Vokalgruppen laufend, in tonlosem Fortissimo flüstert – ein drohendes Samidat14. Die Instrumente verstärken die Konsonanten. Dem unmittelbaren Verstehen widersetzt sich diese Komposition; von den Hörer:innen wird eine hohe Konzentrationsleistung verlangt, gleichsam dem geheimen, gestörten Lesen eines verbotenen Buches im öffentlichen Raum. In der Stuttgarter Aufführung wird leider deutlich, wie schwierig es ist, die vom Komponisten geforderte Priorität des semantischen Anteils dieser Komposition zu realisieren, obwohl wir – mit Einverständnis des Komponisten – die Summe des Textes von einer Chorsolistin mitsprechen ließen. Wenn überhaupt, ist diese syntaktisch-semantische Komplexität nachvollziehbar mit der Konzentration der Hörer:innen in einer Live-Situation, die visuell dem Chor bei seiner Artikulation verfolgen.
Ein weiterer, zweiter Einschub in das Andersen-Märchen ist mit Zwei Gefühle überschrieben und stammt von Leonardo da Vinci. Lachenmann beschreibt die Musik mit Leonardo als Pastorale in unwirtlicher Gegend: »aus der Wüste menschlicher Zivilisation in die Einöde mediterraner Felsenklippen über dem tobenden Meer, wo Leonardos Wanderer, irritierend, die Eruption der speienden Vulkane, die Unruhe seines Herzens« wiedererkennt. Am Ende dieses achtzehnten Bildes beschreibt Leonardo Zwei Gefühle: »Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte, erwachten in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber, mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.«15
Lachenmann hat dieses Bild als erstes komponiert. Dabei geht es nicht um die Musikalisierung des Textes durch die Hervorbringung seiner geräuschhaften Komponenten, sondern um eine Komposition auseinandergezogener Silben, sich überlagernder, ineinander verhakter Sätze. Darauf reagieren die Instrumentalist:innen gestisch und interpunktierend auf die Sprache.
Eine genaue Analyse des zwanzigminütigen Stückes – das mit Abstand längste Bild – würde hier zu weit führen. Die Anmerkung Lachenmanns zu Zwei Gefühle sei hier wiedergegeben:
Haben wir das Mädchen verlassen? Kalte Hauswand hier, finstere Höhle dort, beides undurchdringlich, beides Medium von Halluzinationen des Geistes, die zwar verfehlen, was wir beschwören, und doch zugleich in Erinnerung rufen, wonach es uns im Innersten drängt: nach Erkenntnis, heim zur großen Mutter.
Mit dem dritten »Ritsch« ist die größte Geräuschperforation erreicht. Gleich einem Feuerwerk durch den Riss über den Wirbel der Klaviersaiten, durch prasselnde Pizzicato Arpeggien der Streicher, Crescendo der Pauken, durch den hämmernden Holzstab wird die Streichholz friktion ins Riesenhafte gesteigert, wird die Erscheinung der Großen Mutter evoziert: »›Großmuttter‹, rief die Kleine. ›Oh, nimm mich mit!‹ […] Sie strich eiligst den ganzen Rest der Hölzer, die noch in der Schachtel waren, an […].«16
Beginnend mit dem neunzehnten Bild »Hauswand 4«, dem »Ritsch«, dem Bild »Großmutter«, dem folgenden »Nimm mich mit«, und dem zweiundzwanzigsten Bild, benannt »Himmelfahrt«, wird der Klangraum gleichsam philharmonisch eröffnet. Am Ende des Märchens ist das große Instrumentarium aufgebraucht, die eigenartig fremden, fernen Klänge des Sho, einem rituellen Instrument aus der japanischen Gagaku-Musik, leiten über zur Aktion der zwei Konzertflügel, die durch ein feines Hämmern des jeweils höchsten Tones der Tastatur das Stück beenden: Klopfzeichen, mit denen Eingeschlossene auf sich aufmerksam machen, Morsezeichen aus einem eisigen Jenseits. In seiner Musikalisierung des Märchens wird ein Gleichnischarakter vernehmbar. Text wird in der Sprache phonetisches Material, das auf nichts verweist als auf seine klangliche Struktur. Aber der Umgang Lachenmanns mit dem Märchen entspricht auf einer anderen Ebene fast ganz einer barocken Exegese: Die Geschichte des Mädchens erscheint als Gleichnis von Fremdbestimmung und Auflehnung, von der gesellschaftlichen Kälte und dem Feuer, das sie vertreiben kann.
Diese Thematik ist allen Kompositionen Lachenmanns gemeinsam – nur sind die Figuren, die sich gegen Fremdbestimmung, gegen Erstarrung in der Konvention auflehnen, in seinen Konzertstücken die Klänge selbst. Die Erzählung, die alle seine Werke durchzieht, ist die Neuentstehung von Klangwahrnehmung, von Erfahrung von Klang und Zeit aus der Durchbrechung der gesellschaftlichen Erstarrung von musikalischer Erfahrung. Die Geschichte des Mädchens ist so das Gleichnis, das er fand, um jene künstlerischen Prozesse extensiv zu beschreiben, die alle seine Werke ausmachen.
Endnoten
- 1 Lachenmann, Helmut: Brief an Klaus Zehelein vom Sommer 1989, Privatbesitz Klaus Zehelein.
- 2 Rempe, Tobias: »›Ich bin selber die Wunde.‹ Ein Interview mit Helmut Lachenmann«, in: https://van-magazin.de/mag/helmut-lachenmann/ (zuletzt aufgerufen am 12.10.21).
- 3 Helmut Lachenmann 1970 zu der Partitur Notturno, welche im April 1969 in Brüssel uraufgeführt wurde. Nachzulesen in: Lachenmann, Helmut: Notturno. Für kleines Orchester mit Violoncello solo, hrsg. von Breitkopf & Härtel, Leipzig 2000.
- 4 Vgl. Lachenmann: Pression für einen Cellisten, neu aufgelegt und hrsg. von Breitkopf & Härtel, Leipzig 2010.
- 5 Vgl. Hilberg, Frank: »Geräusche? Über das Problem, der Klangwelt Lachenmanns gerecht zu werden«, in: Musik-Konzepte 146 – Helmut Lachenmann, hrsg. von Ulrich Tadday, München 2009.
- 6 Vgl. Kemper, Christian: »Figur und Struktur in einer ›Musik mit Bildern‹«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Programmheft der Staatsoper Stuttgart, Stuttgart 2001, S. 77 – 90; zuvor erschienen in einer erweiterten Fassung unter dem Titel: »Repräsentation und Struktur in einer ›Musik mit Bildern‹. Überlegungen zu Helmut Lachenmanns Musiktheater«, in: Musik & Ästhetik 5 (2001), H. 19, Stuttgart 2001, S. 105 – 121.
- 7 Ruzicka, Peter: »Musik zum Hören und Sehen. Interview mit Helmut Lachenmann«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Programmheft zur Uraufführung der Hamburgischen Staatsoper, Hamburg 1997, S. 39 – 43, hier S. 40.
- 8 Derrida: Grammatologie, aus dem Frz. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Berlin 1983, S. 65.
- 9 Zehelein/Thomalla, Hans: »›Klänge sind Naturereignisse ‹. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Klaus Zehelein und Hans Thomalla«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern. Programmheft der Staatsoper Stuttgart.
- 10 Lachenmann: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft 2019/20, Zürich 2019, S. 8.
- 11 Lachenmann: »Eine musikalische Handlung«, in: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern. Programmheft der Staatsoper Stuttgart, S. 4.
- 12 Zit. n. Lachenmann: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft 2019/20, S. 10.
- 13 Ensslin, Gudrun: »Der Schub zur Einheit – Die Diskussion bis zum Hungerstreik«, in: Schut, Pieter H. Bakker (Hrsg.): das info. Briefe der Gefallenen aus der RAF 1973 – 1977, Neuss 1987, S. 18.
- 14 Vgl. Kaltenecker, Martin: »Was nun? Die Musik Helmut Lachenmanns als Beispiel«, in: Jungheinrich, Hans-Klaus (Hrsg.): Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, Mainz 2006, S. 113 – 128.
- 15 Lachenmann zit. n.: Günther, Andreas: »Helmut Lachenmann: ›Zwei Gefühle‹«: in: https://www.musikfabrik.eu/de/blog/helmut-lachenmann-zwei-gefuehlekommentartext-von-andreas-guenther (letzter Aufruf: 12.10.21).
- 16 Lachenmann: »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, in: Opernhaus Zürich (Hrsg.): Programmheft 2019/20, S. 15.