Thema
Slawophil oder europäisch?
Russland zwischen Osten und Westen
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Russian Underdogs – Victoria Lomasko und Kirill Serebrennikov (03/2020)
Dass die Deutschen die Russen gelegentlich auf eine arrogante Weise übersehen haben, wenn es um ihren Beitrag zur Aufklärung geht (auch jener romantischen über die Grenzen von Aufklärung!), ist nicht neu. László F. Földényi hat in seinem Essay „Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“ anhand einer prägnanten Szene durchgespielt, wie der Osten immer erwartungsvoll nach Westen schaute, der Westen aber eher selten mit gleicher Erwartung zurück.
Fjodor Dostojewski wurde 1849 wegen seiner Nähe zum Kreis der Sozialrevolutionäre um Michail Petraschewski zum Tode verurteilt. In diesem Kreis vereinigten sich die Ideen der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit denen des utopischen Sozialismus, des deutschen Idealismus sowie mit sozialkritischen Positionen von Publizisten wie W. G. Belinski und Alexander Herzen. Aber auch slawophil-romantische Autoren wie Alexander Puschkin, Nikolai Gogol und Michail Lermontow spielten hierbei eine Rolle. Das politische Hauptziel dieses Reformkreises war die Abschaffung der Leibeigenschaft und eine Alphabetisierung des Volkes. Doch diese Aktivitäten wurden – im Zusammenhang mit den bürgerlichen Revolutionsbewegungen in ganz Europa von 1848 – als Angriff auf die Ordnung im Zarenreich verfolgt.
Am 22. Dezember 1849 führt man Dostojewski zur Hinrichtung, legt ihm das weiße Totenhemd an und lässt das Erschießungskommando aufmarschieren. Das Todesurteil wird...