Theater der Zeit

Gespräch

Blick zurück nach vorn

Zwischen Tradition und Veränderung schlagen sie eine Brücke ins Heute: ein Gespräch mit dem Spielleiter Christian Stückl, dem Bühnen- und KostümbildnerStefan Hageneier sowie dem Musikalischen Leiter und Dirigenten Markus Zwink, moderiert von Teresa Grenzmann

von Teresa Grenzmann, Markus Zwink, Stefan Hageneier und Christian Stückl

Erschienen in: Passionsspiele Oberammergau 2022 (05/2022)

Assoziationen: Theatergeschichte

Stefan Hageneier, Markus Zwink und Christian Stückl
Stefan Hageneier, Markus Zwink und Christian StücklFoto: Birgit Guðjónsdóttir / Gemeinde Oberammergau

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Eine Lebensaufgabe

Ist es Last oder Segen, die gleiche Geschichte im Abstand von zehn Jahren immer wieder erneut zu inszenieren, zu orchestrieren und auszustatten?

Christian Stückl (CS): Ich finde das total spannend. Dadurch hat man die Möglichkeit, noch einmal ganz neu auf die Geschichte zu schauen. Das Lesen der Bibel spiegelt sich ja immer an der jetzigen Zeit. Man fängt neu zu schreiben an und fragt sich, was ist jetzt das Wichtige, auf was richtest du jetzt die Konzentration. Mit dieser Geschichte wird man nie fertig.

Markus Zwink (MZ): Sie interessiert einen, wenn man etwas verändern kann. Mich interessiert das Inhaltliche und auch, wie wir dafür sorgen können, dass man diese große Bühne in fünfeinhalb oder sechs Stunden immer wieder belebt.

Stefan Hageneier (SH): Es ist wie eine Fortsetzungsgeschichte. Man erfindet sie ja nicht komplett neu. Es ist unfassbar, was in einer Dekade in der Welt passiert. Aber natürlich spielt auch mit hinein, dass man selbst älter wird und andere Bilder darin sieht.

Die Passion begleitet Sie bereits seit Ihrer Kindheit, in leitender Position seit über dreißig Jahren. Inwiefern hat sich Ihre Haltung zum Spiel von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verändert?

CS: In den Jahren zwischen 1970 und 1984 gab es ständig Auseinandersetzungen um die Passionsspiele. An den Stammtischen im Dorf wurde über den Vorwurf des Antisemitismus, eine Textreform, die Beteiligung jüngerer Oberammergauer und vor allem auch über die Gleichberechtigung der Frauen heftig diskutiert. Irgendwann kam dieses Gefühl: Ich will das machen! Mir wurde klar: Wenn da jetzt nicht etwas passiert, dann wird das kaputtgehen. Ich habe mich zusammen mit Markus Zwink zur Wahl gestellt, und wir wurden vom Gemeinderat für 1990 mit der Spielleitung betraut. Nur verändern konnten wir in unserem ersten Spieljahr fast nichts.

MZ: 1990 hatte ich sieben Takte verändert, ein Instrumental-Zwischenspiel, und das war für mich schon mit Skrupeln behaftet. Wir haben gewusst, im Jahr 2000 müssen wir viel offensiver damit umgehen.

CS: 1996 sind wir für das Spiel 2000 durch die Bevölkerung gewählt worden. Wir drei – Stefan Hageneier kam dazu – waren daher mutiger und haben gesagt, wenn wir’s machen, machen wir eine wirkliche Reform.

SH: Die Präsentation der Bühnenbildentwürfe war dann schon ein Wagnis. Wobei ich mit jugendlicher Leichtigkeit und Naivität darangegangen bin. Ich habe mich vor allem auf die ästhetische Erneuerung konzentriert. Mein Ansatz war sicher nicht revolutionär. Dennoch war es für alle eine Überraschung, dass das Konzept so positiv aufgenommen wurde.

CS: Die Spielerwahl 2000 fand nicht mehr in geheimer Wahl, sondern per Akklamation statt. Trotzdem mussten wir noch jede Veränderung durch den Gemeinderat boxen. Für 2010 haben wir dann
gesagt, dass wir ihm kein Mitspracherecht beim Bühnenbild mehr geben und auch die Musiker und die Schauspieler frei wählen wollen. Der Gemeinderat bekam lediglich ein Vetorecht. Außerdem haben wir das Nachtspiel durchgesetzt, wodurch wir nun zu einer späteren Uhrzeit mit der Aufführung beginnen und die Kreuzigungsszene dadurch bei Dunkelheit stattfindet. Das ist ja die Aufgabe: das Passionsspiel weiterzubringen, woanders hinzubringen.

Behutsame Modernisierung

Tradition oder Veränderung – inwiefern stellt sich Ihnen diese Frage jedes Mal?

SH: Ich habe öfter aus dem Profitheaterbereich die Frage gehört: „Und? Macht ihr’s jetzt mal wirklich modern?!“ Dann müssen wir unsere Herangehensweise eher verteidigen und erklären, warum das in Oberammergau einfach ganz anders ist. Für mich hat sich bisher nicht die Frage gestellt, ob man Jesus besser in heutiger Kleidung zeigt, damit es vielleicht vordergründig zeitgenössischer wirkt. Die Auseinandersetzung mit der Bilderwelt der christlichen Kunstgeschichte reizt mich immer noch mehr als eine oberflächliche Übertragung. 2022 zeige ich Bilder, die nach der Wiederholung von Geschichte fragen, die Geschichte ins Jetzt holen. Dafür braucht es aber keine konkreten aktuellen Bezüge – dass die biblische Geschichte weiterhin in ihrer Zeit stattfindet, macht sie ja gerade in vielerlei Hinsicht lesbar.

CS: Es ist schon bemerkenswert: 1750 entwirft der Benediktinerpater Ferdinand Rosner eine neue Passionsspielstruktur, und keiner der nachfolgenden Autoren und Regisseure hat diese Struktur je wieder verlassen. Es gibt eine unausgesprochene Verabredung, dass man mit den Kostümen und dem Bühnenbild in irgendeiner Weise historisierend verfährt. Dass man Jesus in den Texten nicht ganz neu
erfindet, sondern sich am Material der Evangelien orientiert. Trotzdem hat sich natürlich viel getan. Wir fühlen uns schon frei, gehen aber in der Grundstruktur mit der Tradition um, die über die Jahrzehnte entwickelt worden ist.

SH: Ein gewisser Respekt, der auch aus der enormen Erwartungshaltung resultiert, ist da. Und hinterfragt man zum Beispiel die Lebenden Bilder, ob so etwas noch zeitgemäß ist, kommt man schnell darauf, dass sie die Zuschauer nach wie vor ergreifen und wichtig für die Wirkung des Passionsspiels sind. Diese Tableaux vivants kamen im 18. Jahrhundert in Mode und wurden bald auch im Passionsspiel eingeführt. Die Oberammergauer waren also sehr am Puls der Zeit. Nach Johann Georg Langs Version des Passionsspiels zu Beginn des
20. Jahrhunderts gab es dann lange keine neuen Impulse mehr.

Veränderung oder Tradition? – Veränderung aus Tradition!

Auch die Veränderung des eigenen Anspruchs und Blickwinkels spielt also eine Rolle?

CS: Natürlich spiegelt sich auch die eigene Veränderung im Spiel. Wir können ja nicht stehen bleiben. Wir sind ja von Berufs wegen gefordert, uns immer wieder neu zu hinterfragen, uns immer wieder auseinanderzusetzen mit dem Ganzen.

SH: Die siebzig Jahre, in denen man die gleiche Aufführung immer nur wiederholt hat, haben dem Passionsspiel nicht gutgetan. Oberammergau als Wiege für schlechtes Sandalentheater? Das hat sich gewandelt: Ich lese oder höre heute oft vom Passionsspiel als Qualitätsbegriff für eine bestimmte Art, aufs Theater zu schauen. Genau da dranzubleiben ist wichtig.

CS: Das „Wir wollen etwas bewahren“ und das „Wir wollen etwas verändern“ stehen eigentlich schon seit Beginn der Tradition gegeneinander. Spannenderweise ist diese Reibung im Dorf letztlich total wichtig und gehört dazu.

Hebräische Spannungsmomente in der Musik

Stellt die musikalische Weiterentwicklung dahingehend eine besondere Herausforderung dar?

MZ: Ja, bei der Musik ist Veränderung schwieriger. Vieles ist textgebunden, und bei neuen Nummern muss man in die Lyrik gehen. Bereits 2010 haben wir die Szene eingeführt, in der das Volk das „Sch’ma Israel“ singt. Die Farbe der hebräischen Sprache bringt eine ganz neue Stimmung ins Spiel. Unsere Intention war es, Jesus auch in seiner jüdischen Umgebung zu verorten und den Leuten klarzumachen, er war nicht der erste Christ, sondern einfach Kind seiner Zeit, seines Landes und Umfelds. 2022 fällt auch die Begleitmusik zum Kreuzweg aus dem üblichen Kontext: Aus Psalm 22 – „Eli, Eli, lama asabtani“ („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“) – habe ich ein paar essenzielle Sätze exzerpiert. – Eine Revolution wär’s natürlich, zu sagen, man lässt das „Heil Dir“ weg oder das „Halleluja“. Aber sagen Sie einem Deutschen mal, er soll an Weihnachten nicht „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen, das geht dann einfach auch nicht!

Der Verzicht auf den Prologsprecher, der zweihundert Jahre lang zwischen den Spielszenen und den Lebenden Bildern auftrat, ist eine wichtige Neuerung 2022. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

CS: Die Musik war für die Oberammergauer und das Publikum immer schon sehr wichtig. Die Lebenden Bilder und die Musik sind ein Teil unserer Entwicklung. Ganz am Anfang kämpfte ja noch die Hölle gegen den Himmel. Luzifer hielt in der ersten Szene eine Spottrede auf das Publikum. Mit den Lebenden Bildern verschwand ab 1750, 1780 die Hölle immer mehr, auch aus den Texten. Durch diese Gliederung in zwölf Blöcke bewahren wir eine alte Form, die es fast nirgendwo anders mehr gibt. Die Musik ist da ein fester Bestandteil. Der Prolog aber, der diese Musik mit einem Text unterbricht, tat etwas, das nicht mehr in die Zeit passt: Er drängte dem Publikum Theologie auf, deutete die Szenen aus einer nachösterlichen Sicht und wies ständig darauf hin, dass wir durch Jesu Tod am Kreuz erlöst seien. Er ließ keinen Spielraum zur eigenen Interpretation und – noch schlimmer – er gab dem Publikum eine Art Moralpredigt mit auf den Weg.

Moderne Andacht – Freiraum für den Zuschauer

Welche Funktion haben denn die alttestamentarischen Lebenden Bilder? Zu welchem Zweck wurden und werden sie inszenatorisch den Szenen vom Leiden und Sterben Christi vorangestellt?

CS: In der ursprünglichen Struktur des Spiels waren die Lebenden Bilder symbolische Gegenbilder zur Geschichte Jesu. Sie gaben den inhaltlichen Hinweis, dass etwas Gewesenes abgelöst wird: das Judentum durch das Christentum. Heute suchen wir das Verbindende. Für uns ist die Triebfeder, zu zeigen: Das Wirken Gottes ist immer schon in der Welt. Denn mit diesen hebräischen Bildern ist Jesus ja groß geworden, sie sind sein Testament, aus dem heraus er agiert. Somit steht Jesus in der Tradition der jüdischen Propheten; er wollte die Thora, die Gebote Moses’, nicht ablösen, sondern erfüllen. Und plötzlich finden die Geschichten, die für uns eigentlich sehr weit auseinanderliegen, das Alte und das Neue Testament, einen direkten Bezug zueinander. 

MZ: Auch musikalisch geht es bei den Lebenden Bildern um eine weitere Ebene neben dem Passionsgeschehen, um Zusatzbeleuchtungen auf das Thema, um eine intellektuelle, aber auch emotionale Auseinandersetzung, die im besten Fall erweiternd wirkt. Das funktioniert ähnlich wie beispielsweise in der Bach-Passion, wenn der Zuhörer während eines Chorals einen Moment hat, in dem er innehalten, reflektieren, ja sogar sich selbst miteinbeziehen kann, wenn er will.

SH: Künstlerisch gesehen wirken die Lebenden Bilder als Andachtsbilder. Es sind konkrete Situationen, die jedoch erst durch die Darstellung als Tableaux vivants, eingefroren in einem entscheidenden Augenblick, weit über das Konkrete hinausreichen. Einerseits bedeuten sie damit eine Zäsur, andererseits setzen sie die Spielszenen in einen historischen Zusammenhang. Man nimmt Zitate auf und sucht zugleich nach Schnittmengen zum Heute, ohne das Geschehen dabei plakativ zu vereinfachen. Und die Geschichte Jesu schwingt bei alldem mit, die Ahnung davon, dass seine zunehmend grausame Passion Sinn macht.

Die Lebenden Bilder als innere Bilder Jesu

Was bedeutet das für die konkrete Darstellung?

SH: 2022 sind inhaltliche Aspekte stärker: Mein Ansatz ist es einerseits, eine große Menge von Menschen in verschiedenen Varianten der Unterdrückung und des Hoffens zu zeigen – die Israeliten des Alten Testaments gehen durch alle Lebenden Bilder als Geflüchtete. Das Grundmotiv ist dabei immer die Behausung: Sie verwandelt sich, zum Paradies etwa oder, bei Daniel, zum Kerker. Darin: das Volk, in einer Zwischenwelt, zwischen hier und da, zu Hause und vertrieben, behütet und verfolgt. Durch dieses zentrale Motiv der Fluchtsituation wirkt die Geschichte wieder total gegenwärtig. Andererseits, durch die Augen Jesu gesehen, sind die Lebenden Bilder seine inneren Bilder: Am Ölberg, in der größten Not, setzt Jesus sich mit sich selbst und seiner Religion auseinander. In diesem Moment geben ihm die Bilder und Geschichten seiner Bibel, der Thora, Mut und Hoffnung. Diese Analogie zur Spielhandlung ist zwar nur behauptet, nicht belegt, verleiht dem Passionsspiel jedoch noch eine zusätzliche Sinnhaftigkeit.

Zweihundert Mitwirkende in alter Oberammergauer Tracht

Im neu hinzugekommenen Gelübdebild sieht man zu Beginn des Spiels zweihundert Mitwirkende aus Chor und Volk in alter Oberammergauer Tracht. 

MZ: Ja, die historischen Oberammergauer, die nach der Ouvertüre auftauchen, dokumentieren die Wurzeln, den Anfang der Passionsspiele.

SH: Die Frage nach der Funktion des Passionsspielchors entzündet sich ja immer am Kostüm. Früher wurden die Chorsänger „Schutzgeister“ genannt und trugen eher liturgische Gewänder. Aus der Sichtung von alten Fotos entstand schon für 2020 die Idee, es könnten doch auch Bürger Oberammergaus aus der Entstehungszeit des Spiels sein.

MZ: Musikalisch ist der Beginn wie eine riesige Fermate. Der erste Chor heißt „Herr, du bist fern! Wir sind verloren“ – und aus dieser Not der Pest heraus ist in Oberammergau das Passionsspiel entstanden.

Muss man als Zuschauer religiös sein, um etwas aus dem Spiel für sich mitzunehmen?

CS: Religiös – was bedeutet das eigentlich? Man muss auf keinen Fall einer Kirche angehören, nein. Eigentlich muss man als Zuschauer gar nichts mitbringen, man kann einfach kommen. Aber wenn ich als Spielleiter den Glauben und die Überzeugung nicht hätt’, dass hinter dieser Geschichte, hinter diesem Jesus eine gewisse Kraft steckt, dann könnte ich’s nicht erzählen. Dann bräuchte ich’s nicht erzählen.

SH: Ich muss zugeben, dass erst die Auseinandersetzung mit der christlichen Bilderwelt als Bühnenbildner der Passionsspiele bei mir das Interesse für Jesu Geschichte geweckt hat. Trotzdem ist eine säkulare Sicht wichtig – um überhaupt versuchen zu können, so spielerisch damit umzugehen.

CS: Das Schönste ist, wenn man spürt, dass jemand seine Vorurteile überdenkt und in der Auseinandersetzung mit dem Passionsspiel doch etwas entdeckt, was er interessant findet, was ihn berührt.

Geschichte authentisch erzählen

Ist das Ihre Motivation, den Passionsspielstoff wieder und wieder zu hinterfragen?

SH: Ich finde richtig, dass wir die Geschichte möglichst eindringlich erzählen – und nicht so viel Energie darauf verwenden, sie offensichtlich ins Heute zu übertragen. Aus der Geschichte an sich muss ja die Botschaft kommen. Das finde ich das Theatralische daran.

CS: Für mich ist die Auseinandersetzung mit den Spielern wichtig. Es macht mir Spaß, sie an die Geschichte heranzuführen, weiterzuführen. Ich hab als Jugendlicher miterlebt, wie die katholische Kirche im Vorfeld des Passionsspiels Theologen und Priester nach Oberammergau geschickt hat, um Nachhilfeunterricht in religiösen Dingen zu geben. Die Spieler saßen dann bei uns im Wirtshaus droben mit einem Bier und haben sich irgendeinen Vortrag angehört. Das wollte ich nicht.

Stattdessen unternehmen Sie mit Hauptdarstellern und Solisten noch vor Beginn der Proben eine zehntägige Reise nach Israel …

CS: Wir haben diese Reise nach Israel 2019 schon zum vierten Mal unternommen. Damit alle Hauptdarsteller gemeinsam diskutieren und sich kennenlernen können. Damit wir uns zwingen, neu auf das Spiel zu schauen, zu fragen: Was hat das mit uns zu tun? Wenn bei den Spielern ankommt, wie relevant die Sätze immer noch sind, wie stark sie sind, dann besteht die Chance, dass genau das auch aufs Publikum überspringt.

Authentizität ist in Oberammergau ein wichtiges Stichwort geworden – angefangen bei den Kostümen. 

SH: Ja. Für die letzten beiden Passionsspiele habe ich antike Stoffe gesucht, die einen authentischen Charakter vermitteln – und die gab es nur in Indien. Im März 2019 war ich dort, um die Stoffe im traditionellen Blockprint-Verfahren herstellen zu lassen. Für Jesus und seine Gefährten hat mir ein Teppich- und Stoffhändler, der in Istanbul lebt, 2000 Quadratmeter alter Kelims aus Anatolien beschafft. Vom Kostümbild her gibt es jetzt eine urbane Welt auf der einen Seite und auf der anderen eine Figur auf einem Esel, die ländlicher und ärmer ist: Jesus, der mit seinem Gefolge eine bestimmte Gesellschaftsschicht aufmischt.

Welche Idee steht hinter dem aktuellen Bühnenbild von 2022?

SH: Das Bühnenhaus von 1930 ist ja in seiner Sachlichkeit und Schlichtheit nichts Halbes und nichts Ganzes, eigentlich inhaltslos. In den vergangenen zehn Jahren habe ich es immer wieder zugebaut und mir die Freiheit genommen, etwas ganz anderes daraus zu machen. Für 2020/22 hat es sich als wahnsinniger Schritt zurück angefühlt, mit diesem Gemäuer leben zu müssen, obwohl ich das überhaupt nicht mehr als richtig empfinde. Deswegen war die Überlegung, ihm eine neue Bestimmung zu verpassen, eine ganz klare Setzung. Nun habe ich die Passionsbühne zu einer weitläufigen Tempelanlage umgebaut, in welcher der Hohe Rat und die Römer herrschen. Dorthinein kommt einer, der ist ganz anders – ein Antiheld. Er stellt ganz klar eine Provokation dar – schon durch sein Erscheinen mit einer Gruppe armer Menschen, die wirklich nicht ins Bild passt. Dass es allein deshalb Ärger geben wird, muss ihm in dieser Situation klar sein.

CS: Dass sich Jesus beim Einzug in Jerusalem auf einen Esel setzt und sich zum König Israels macht, ist Aufruhr gegen Rom. Diese Anmaßung wird der Grund für seine Kreuzigung sein, die Buchstaben INRI auf dem Kreuz sagen es: „Jesus von Nazareth, König der Juden“.

Ein unbequemer junger Mann

Stärker denn je beschäftigt Sie im diesjährigen „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ der Mensch Jesus. Wie ist er sozialisiert, aus damaliger und aus moderner Sicht? Ist Jesus in Ihren Augen ein Solitär, ein Nerd, ein Einzelgänger?

CS: Ich glaube, dass Jesus ein extrem sozialer Mensch war. Eine Vorverurteilung aufgrund von Herkunft oder Arbeit kannte er nicht und wehrte sich dagegen. Er hatte auch eine gute „Mannschaft“ um sich herum, die wirklich daran glaubte, dass er der Messias ist, der das Volk aus dem Elend führen kann.

MZ: Aber ich empfinde bis fast zum Schluss eine gewisse Distanz zwischen Jesus und allen anderen. Immer wieder kommt es vor, dass das, was er sagt, nicht verstanden wird, nicht richtig akzeptiert wird, uminterpretiert wird, dass nachgefragt wird, teilweise ja auch verständlicherweise. Mir kommt er dadurch etwas isoliert vor.

CS: Mit zunehmender Berufung, zunehmendem Engagement seinerseits entsteht eine sehr schwierige Idee: Wenn man die Welt wirklich verändern will, dann muss man den eigenen Tod in Kauf nehmen.

MZ: Das ist die entscheidende Phase – und genau da hat man nicht das Gefühl, seine Botschaft käme eins zu eins bei seinen Anhängern an.

SH: Wenn man sich vorstellt, Jesus würde so in einer heutigen Gesellschaft predigen – da wäre doch maximales Unverständnis, man würde ihn als „Spinner“ bezeichnen! Ich glaube nicht, dass dies damals so viel anders war. Ich glaube, dass ihm dadurch, dass er in seiner Überzeugung sehr weit ging, nur wenige blieben, die ihm tatsächlich folgten und ihm die Notwendigkeit, den Weg tatsächlich zu Ende gehen zu müssen, glaubten.

Identifikation oder Irritation – Messias oder Antiheld?

Wo hört das Menschenmögliche auf – und damit auch die Möglichkeit, Jesus auf der Bühne als Menschen zu begreifen?

CS: Wir sehen ihn immer als Sohn Gottes, doch das ist eine schwierige Betrachtungsweise. Jesus ist sehr mutig – da macht er auch vor den Priestern nicht halt. Einen solchen Mut müsste man heute erst einmal aufbringen. Er ist da ziemlich heftig. Er diskutiert über Gesetze, die einfach nur deswegen gemacht werden, um gemacht zu werden. Jesus fordert zur Rebellion auf. Er weiß, das ist nicht gern gesehen, und er weiß, er kann dafür umgebracht werden in jener Zeit. Aber wäre er „Gott“, er hätte nicht Blut und Wasser geschwitzt in den Nächten davor, als er wusste, es gibt kein Zurück mehr. Er hätte nicht eine solche Angst gehabt.

Welche Rolle spielt Gott in beiden biblischen Teilen? Den Provo­kateur?

CS: Gott will keine Opfer! Er sagt: Ich will euer Herz, euren Verstand. Hiob steht da als einer, der in seiner Not verzweifelt, sich am Ende aber doch nicht von seinem Weg zu Gott abbringen lässt. Und mit genau dieser Konsequenz geht auch Jesus ans Kreuz. Es geht um menschliche Situationen, in die wir geraten, und die Frage, wie wir mit ihnen umgehen. Indem es das Schreckliche zeigt, ist das Alte Testament manchmal viel näher am Menschen als das Neue Testament. Der Mensch selbst ist an Sodom und Gomorra schuld – so wie er jetzt selbst am Klimawandel schuld ist.

SH: Damit beschreibt schon das Alte Testament einen Zivili­sationsprozess. Der Zusammenhang wirkt aber natürlich enorm archaisch.

CS: Oft ist das Alte Testament auch einfach ein Geschichtsbuch. Die Israeliten waren Sklaven und sind deswegen vierzig Jahre durch die Wüste gelaufen, weil sie nirgends aufgenommen wurden, einen Halt gefunden haben. Erst einmal brauchten sie eine Gesetzgebung. Dass Gott sie ihnen gegeben hat, ist natürlich bombastisch beschrieben – letztlich war es aber Moses, der zehn Hauptgesetze aufgeschrieben und gesagt hat, wenn ihr die befolgt, dann kann eigentlich fast nichts mehr passieren. Und weil sie dann nach vierzig Jahren stark genug waren, „die Mauern Jerichos mit ihren Trompeten zu stürzen“, haben sie das Land eingenommen – nicht, weil der liebe Gott gesagt hätte: „Hier, bitte!“

Könnte man Jesu Geschichte also auch ohne Gott erzählen?

CS: Ganz klar nein. Weil Gott eine Bedeutung im Leben Jesu hat, an der er alles ausrichtet. Gott ist so groß, so zentral im Leben Jesu – ihn von ihm abzutrennen ist nicht möglich. Für ihn gibt es nur ein Gesetz, das heißt ‚Sch’ma Israel‘: „Ich bin der Herr, euer Gott, und wer mich liebt, braucht keine anderen Gesetze. Der braucht kein ‚Du sollst nicht töten‘, denn wer mich liebt, der wird nicht töten.“

Und das Volk wiederum braucht Jesus, um genau das vorgelebt zu bekommen?

CS: Wir haben keinen Gott, der in unser Leben hineinwirkt – davon geht Jesus aus. Nur der Mensch kann sichtbar machen, was Gott will. „Ich bin deine Hände, deine Füße, deine Stimme …“ Vielleicht kann man sagen: Jesus war insofern göttlich, als er genau das bis zur letzten Konsequenz gelebt hat. Dadurch wurde Gott in ihm vollkommen sichtbar.

Identifikation oder Irritation – Messias oder Antiheld? Was ist Ihnen bei dieser Inszenierung wichtiger?

CS: Eine klare Identifikationsfigur ist Jesus nicht. Er wirft Fragen auf und soll irritieren. Vieles entsteht erst auf der Probe, wenn du merkst, was für eine Spannung im Raum ist. Wichtig sind für mich die „Randnotizen“: Wenn es etwa heißt, Jesus sei ein Freund der Zöllner und der Huren, er gehe zu den Armen, zu den Prostituierten, wenn er am Teich von Siloah die Leute wäscht. Geht es wirklich um die religiösen Gesetze, die Jesus angeblich gebrochen hat? Oder geht es nicht vielmehr um das Ärgernis, dass er sich mit Menschen abgegeben hat, die anscheinend nicht in unsere Gesellschaft passen und deswegen dort keinen Platz haben? Und inwieweit hat sich das bis heute verändert? – Nicht besonders.

Ein menschlicherer Jesus? Was bedeutet das eigentlich?

Birgt die Figur Jesus für Sie immer noch, trotz der intensiven Beschäftigung, Rätsel?

CS: Du denkst immer: ein menschlicherer Jesus? – Ja. – Aber was bedeutet das eigentlich? Wie derb konnte Jesus werden, wie viel Humor hatte Jesus, wie stur war er? Es ist total verrückt, wie einem die Figur dann doch Rätsel aufgibt, wenn man sich die Frage stellt, wie würde Jesus heute reagieren: in einer Zeit, in der die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird, in der Flüchtlinge durch die Welt irren und ausgegrenzt werden, in der „die Liebe unter den Menschen kalt wird“. Der wichtigste Aspekt ist für mich, dass Jesus an die Ränder der Gesellschaft geht und sich um die kümmert, die ausgegrenzt werden. Vielleicht hat dieser Jesus, den wir im Passionsspiel versuchen zu greifen, auch wahnsinnig viel mit uns selbst zu tun. Deswegen ist es wichtig, dass alles, was Jesus sagt, im Hier und Jetzt verankert ist.

Die Lebensgeschichte spielen, nicht die Leidensgeschichte

Wer ist denn Jesus 2022 für Sie?

CS: Das Schwierige an Jesus ist die Art und Weise der Darstellung: Wenn er zu energisch wird, kommt er fast wie ein Glaubenskrieger rüber. Wenn er gar keinen Humor zeigt, wirkt er arrogant. Wie weit also kann man so eine Figur auf der Bühne aufreißen, dass man den Eindruck hat, man kann total mit ihr gehen … In den Proben hatte ich das Gefühl, bei mir wird Jesus im Augenblick auch ein Verzweifelter an der Gesellschaft. Und plötzlich will man gar keinen Humor, er soll gar keine Witze mehr erzählen – denn die Witze sind ihm vergangen.

Fließt auch immer die aktuelle weltpolitische Situation mit in Ihre Gedanken ein?

CS: Wir haben aus der Tradition heraus die Leidensgeschichte Jesu gespielt. Aber eigentlich müssen wir erst einmal die Lebensgeschichte Jesu spielen. Man nimmt das alles so hin, man hat das Ende immer schon im Kopf, man weiß, er stirbt am Kreuz. Aber warum? So versucht man mit jedem Passionsspiel auch politischer zu werden.

MZ: Theater ist ja möglicherweise immer ein Stück weit politisch – unser Spiel ist es ganz sicher.

CS: In unserer heutigen Gesellschaft muss Jesus viel klarer reden und auf die Welt Bezug nehmen. „Warum versteht ihr meine Worte nicht? Warum verändert ihr euch nicht?“ Das sind fast flehende Sätze, sie spiegeln Jesu Wut auf die Welt. Seine Mission ist eine gescheiterte Mission, wenn wir nach 2000 Jahren Christentum seine Botschaften immer noch nicht umgesetzt haben.

Ein intensives Erlebnis für das Publikum

Bereits 1900 hat Thomas Cook den Oberammergauer Tourismus angekurbelt. Heute sind unter den rund 500 000 Besuchern Menschen aus aller Welt, mit und ohne Religion als Lebensmittelpunkt …

CS: Theater ist nie zum Selbstzweck gemacht worden, das Publikum war immer wichtig. Noch vor hundert Jahren war das Passionsspiel Propagandamittel der Kirche. Selbst der Künstler, der die erste Bühne auf unserem Friedhof gebaut hat, war ein junger Pfarrer. Von den Frankfurter Passionsspielen im 14. Jahrhundert weiß man, dass das Publikum gegen Juden aufgehetzt wurde und dass es nach den Aufführungen meist Pogrome gegeben hat. In Oberammergau war das Passionsspiel 1934 ein Propagandaspiel. Es gab aber auch Zeiten, in denen eher das Volksschauspiel im Vordergrund stand und die Leute hingegangen sind, um „das wahre Theater“ zu erleben.

Was ist Ihnen in Hinblick auf das Verständnis der biblischen Figuren heute wichtig?

CS: Man versucht eine Auseinandersetzung mit der Gestalt Jesus herbeizuführen, das Publikum dazu zu bringen, Jesus neu zu entdecken. Aber nicht nur ihn, sondern auch die Figuren in seinem Umfeld: Judas ist nicht länger der „geldgierige Verräter“, sondern steht Jesus bewundernd gegenüber und will ihn dazu bringen, sich zum „König von Israel“ aufzuwerfen. Die Priester und auch das Volk sind nicht „einstimmig“ für die Verurteilung Jesu: Sie sind geteilt in seine Befürworter und Widersacher. Pilatus wird – das ist geschichtlich gesichert – zum Tyrannen, der Jesus hinrichten lässt. Das Passionsspiel ist also auch dazu da, die Geschichte und im Glauben verfestigte Irrlehren aufzureißen.

Zwischen Weltereignis und Laientheater

Ist es schwierig, unter 5000 Dorfbewohnern über 2000 Mitwirkende zu finden?

CS: Nein, die Oberammergauer wollen spielen. Es ist aber schwierig, alles zu organisieren, denn zum Spiel müssen wir Leute aus ihren normalen Berufen heraus ins Passionstheater locken. Einen Rumpfbetrieb haben wir immer – das Leitungsteam sind ja nicht nur wir drei. Wir sind in bestimmten Bereichen sicher die Ideengeber, aber der Pressesprecher Frederik Mayet, der Technische Leiter Carsten Lück, die Leiterin der Schneiderei Susanne Eski, die Assistenten, die weiteren zwei Dirigenten … Wenn wir das alles selbst machen müssten: Halleluja!

SH: Es ist schwierig, dass aus dem Stand verschiedenste Gewerke geschaffen und verzahnt werden müssen. Eigentlich bräuchte es den erprobten Hochleistungsbetrieb eines großen Opernhauses. Inzwischen haben wir aber so tolle Werkstätten, wie sie sich jedes Theater wünschen würde. Alles ist sehr professionell.

Nach zwölf Jahren stehen Sie nun kurz vor der verscho­benen Premiere. Gibt es für Sie einen besonderen Moment im Passionsspiel 2022?

CS: Da ist keine bestimmte Szene. Ich freue mich über die Leute und die gemeinsame Auseinandersetzung. Mein „Lieblingsmoment“ ist die Begegnung mit all denen, mit denen ich das Passionsspiel mache!

MZ: Das ist es bei mir auch: jeder Moment, in dem ich bei dem, was wir machen, spüre, dass etwas zurückkommt und sich die Beteiligten über das Miteinander freuen.

SH: Der beste Moment entstand für mich 2010, als bei der allerletzten Aufführung zum Schlussbild das ganze Dorf auf die Bühne kam. Denn das macht das Passionsspiel ja aus: etwas, das nur in der Gemeinschaft entstehen kann. Es ist natürlich nicht möglich, aber eigentlich müsste man das Schlussbild immer so machen. Und alle müssten mit aller Kraft singen.

Das Passionsspiel hält die Oberammergauer zusammen

Würden Sie die Arbeit an der Passion als eine Lebensaufgabe beschreiben?

CS: Ich glaub, letztlich ist es für uns schon auch eine Art Lebensaufgabe geworden, ja, es gehört irgendwie zu uns dazu. Auch wenn jeder von uns einen ganz anderen Ansatzpunkt im Blick hat. So ein Passionsspiel kann ja nur funktionieren, wenn jemand eine starke Bildsprache hat, die Musik viel Kraft besitzt und das Ganze ein gutes Zusammenspiel mit dem Text eingeht – nur dann erreichst du die Menschen wirklich, nur daraus entsteht Theater, alle Sinne müssen angesprochen werden. Im Barock wurden sogar Gerüche miteinbezogen – das war der Versuch, den Menschen ganzheitlich zu erfassen. 

SH: Diese zehn Jahre sind eine seltsame Zeitspanne. Aber das Passionsspiel gibt es seit bald vierhundert Jahren. Es ist eine große Erzählung mit großen Themen, die Jahrhunderte überstanden hat. Insofern wird es in jedem Fall weitergehen.

CS: Vielleicht kann man sich auch da auf die Tradition verlassen: Das Passionsspiel hält die Oberammergauer zusammen. Es gab starke Phasen, es gab schwächere Phasen, trotzdem ist es weitergegangen. Aber was die Zukunft bringt, da halt ich mich an meinen alten Spruch: Über was lacht Gott – über Planung!

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