Etüde
von Horst Hawemann
Erschienen in: Recherchen 108: Horst Hawemann – Leben üben – Improvisationen und Notate (03/2014)
Es gibt als Übungsform natürlich auch Etüden (aus dem Französischen übersetzt: „Übungen“). Etüden sind in meinem Verständnis verdichtete Formen, die sich nach den Strukturen des Dramas richten. Sie sind wichtig für die Beobachtung, sie schulen das Erzählende und das Gefühl für Entwicklungen. Man kann spielend dramaturgische Erfahrungen machen.
Eine gute Etüde hat einen gewissen Erzählwert: einen Anfang, eine Entwicklung, Kollisionen, Konflikte und eine Lösung. Sie erzählt eine Geschichte, und diese Geschichte führt mich zur Gestaltung. Die Etüde ist jahrelang im Schauspielunterricht diffamiert worden. Sie wurde da allerdings mit dem braven Nachspielen einer ganz konkreten Aufgabe verwechselt, die oft als Beengung empfunden wird, weil sie zu sehr unter der Kontrolle des Spielleiters steht.
Beispiel: Etüde
Eine Handtasche liegt auf einer Parkbank. Der Darsteller soll etwas mit der auf einer Parkbank liegenden Tasche machen. Er soll eine Improvisation machen. Was macht der Darsteller? Er klaut die Tasche. Dabei schaut er sich gewiss viele Male um, wittert, schleicht, pfeift, zeigt sehr viel Vorsicht und vielleicht gelingt ihm auch noch ein kleiner Witz. Eine Improvisation? Nein, bestenfalls eine Etüde, aber eher wohl doch eine Übung. Den Schauspieler zieht weiter nichts auf die Bühne als etwas Erfahrung, vielleicht Beobachtung, zumeist aber nur Schablone. Er versucht...