Theater der Zeit

Krusten, Hürden und Gewohnheiten

von Frauke Adesiyan

Erschienen in: Partizipation Stadt Theater (11/2018)

Assoziationen: Club Real

Foto: Club Real

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Ungekannte Herzlichkeit

Auf einmal war es da. Das Ei auf zwei Füßen, das sich in ausgelatschten Turnschuhen durch Frankfurt vortastete. (Schautafel 1) Und nicht nur in den Straßen der Stadt an der Oder tauchte es im Herbst 2015 auf, auch in den Frankfurt- Gruppen auf Facebook waren bald die ersten Fotos zu sehen. Das Rätselraten der Netzgemeinde begann: Was ist denn das? Spätestens zu diesem Zeitpunkt war es selbstredend Aufgabe der Lokalreporterin, der Spur zu folgen. Schnell führte die Suche ins Kleist Forum. Hier, so erzählte man sich, soll das Ei gelegt worden sein. Von einer freien Künstler*innengruppe namens Club Real, die, bezahlt von der Bundeskulturstiftung, zwei Jahre lang ausloten soll, welche neuen kulturellen Formen möglich sind in dieser Stadt.

In einem der vielen Büros des Kleist Forums, die von langen, ruhigen Fluren abgehen, traf die Reporterin zwei Mitglieder von Club Real zum ersten Mal: Marianne Ramsay-Sonneck und Georg Reinhardt. In schönstem Wienerisch erzählten die beiden auf der Tischkante hockend von ihren künstlerischen Grundsätzen: der Offenheit, der Teilnahme, dem Einebnen vom Gegensatz zwischen Akteur*in und Rezipient*in. Die Reporterin staunte. Solche Gedanken in diesem Haus, das waren neue Töne. Die Künstler*innen strahlten vor allem Neugier aus, Offenheit und Lust, sich unvoreingenommen in diese Stadt zu begeben. Und die Ei-Exkursionen funktionierten. Strahlend berichtete Marianne Ramsay-Sonneck: „Die Frankfurter*innen nehmen es so nett auf, herzlicher, als es in Berlin der Fall wäre.“

Wirklich? Die Frankfurter*innen und Herzlichkeit? Normalerweise wird ihnen zurückhaltende Skepsis nachgesagt. Kommt etwas Neues, egal ob Solar-Fabrik oder Künstler*innengruppe, heißt es erstmal: abwarten. Denn von Auswärtigen, die sich in der Stadt versuchen und verwirklichen und bald wieder türmen, hat man eigentlich schon zu viele gesehen. Doch das Ei rührte offensichtlich an. Die Reporterin entdeckte auf diese Weise eine neue Seite an den Frankfurter*innen: eine arglose Freude am Seltsamen. Einige riefen das Ei sogar an oder schrieben Nachrichten. Sie wollten ihm ihre Stadt zeigen, ihre Lieblingsecken verraten, Stadtgeschichten zuraunen. Denn bei aller Skepsis sind die Frankfurter*innen auch überzeugt davon, dass ihre Stadt etwas ganz Besonderes ist. Und vor allem ganz anders als das schlechte Image, das ihr vorauseilt. Was wurde nicht alles aus der Stadt überregional berichtet nach der Wiedervereinigung? Alle Ost-Klischees, die die aus Westdeutschland nur haben können, schienen sich hier zu bestätigen. Eine zusammenschrumpfende Bevölkerung, leere Neubau-Wohngebiete, grassierende Arbeitslosigkeit. Nazigruppen, die die ausländischen Studierenden der neu gegründeten Universität das Fürchten lehrten; ein polnischer Bus, der nach der Grenzöffnung von Steinewerfern begrüßt wurde; eine Frau, die ihre Babys tötete und sie in Balkonkästen verscharrte; eine andere, die ihre Kinder in der Neubauwohnung verdursten ließ … Trotz und Scham über solche Negativ-Geschichten mischen sich bei den Frankfurter*innen aber immer auch mit dem Beharren darauf, dass es doch auch schön ist in ihrer Stadt. In der schönen Oder-Natur. Im Herzen des neuen Europa. Doch es gibt Wunden, an denen auch der Club Real nicht vorbeikommt.

Wo tut‘s denn weh?

Die Künstler*innen vom Club Real spüren schnell, dass die Stadt Frankfurt etwas mit Schmerzen und Wunden zu tun hat. Doch statt sich abzuwenden oder darüber lustig zu machen, nehmen sie diese Risse ernst. Graben teilweise auch darin herum, dass es schon beim Darüberschreiben wehtut. Das hat vor allem auch mit dem Partnertheater zu tun, mit dem sie im Rahmen des Doppelpass-Programms verkuppelt wurden. Wobei Partner-„Theater“ schon zu viel gesagt ist. Mitten in der Stadt thront das Kleist Forum, betrieben von der städtischen Tochter Messe und Veranstaltungs GmbH. Ausgestattet ist es mit der raffiniertesten Bühnentechnik im großen Saal; es gibt lichtdurchflutete Probenräume, ein geniales halbrundes Foyer mit Glasfront über mehrere Etagen, Studiobühnen, eine eigene Bar. Nur eins fehlt: das Ensemble. Das wurde mit der Schließung des alten Kleist-Theaters abgeschafft. Dieses etwas abgelegen im Westen der Stadt stehende Gebäude wird seitdem dem Verfall, der Natur und Jugendlichen überlassen – und den sehnsuchtsvollen Erinnerungen der Frankfurter*innen. Marianne Ramsay-Sonneck stellte am Ende des zweijährigen Aufenthalts von Club Real fest: „Das leere Kleist-Theater ist immer noch positiv aufgeladen, das Kleist Forum aber gar nicht.“ In all den Jahren waren die Frankfurter*innen in ihrer Mehrheit noch nicht den emotionalen Weg vom Kleist-Theater zum Kleist Forum gegangen. Das Künstler*innenkollektiv Club Real musste es mit Geister (häuser)n aufnehmen. Georg Reinhardt verdeutlicht diese Situation in der Äußerung: „Wir waren Partner des Kleist-Theaters, obwohl es gar nicht mehr existiert.“

Ein Gastgeber wird provoziert

Die Schmerzen, die die Frankfurter*innen mit ihrer Theatergeschichte verbinden, spürte und verstand Club Real bald nach seiner Ankunft. Darin bestärken werde es sie dennoch nicht, das stellten die Mitglieder schnell klar. Denn das, wonach sich so viele Frankfurter*innen sehnen: ein Stadttheater mit bekannten Gesichtern, die man abends auf der Bühne bewundert und am nächsten Tag im Kaufland wiedersieht, ist für Club Real überkommen. Schließlich sind sie in Frankfurt, um zu erkunden, was geht, wenn Gastspielhaus und Ensembletheater nicht mehr funktionieren. Das Verständnis von Theater als Konstrukt, in dem die einen auf der Bühne stehen und etwas lange Geprobtes zeigen, während man unten im Saal gespannt zuschaut, liegt dem Gast-Kollektiv aus Berlin fern. Das wurde im Laufe des Aufenthalts und in der Abfolge der Aktionen immer deutlicher.

Die erste Vorstellung mit offizieller Einladung an alle Bürger* innen war eine Schmerzwerkstatt. (Schautafel 2) Wer kam, um zu sitzen und zuzuhören, wurde enttäuscht. Besucher*innen durften aufschreiben, wo ihnen die Stadt am meisten wehtut, es entstand ein Plan städtischer Schmerzpunkte. Nebenan ließ sich Mathias Lenz vom Künstler*innenkollektiv mit Folterinstrumenten traktieren. „Wo kein Schmerz ist, gibt es auch kein Leben“, beschrieb er sein Motto, während heißes Wachs auf seinen Arm troff. Einige „Zuschauer“ rieben sich verwundert die Augen, so recht verstehen konnten viele die Idee noch nicht, doch Neugier war geweckt.

In der Vorbereitung des ersten großen Höhepunkts – dem Tag des offenen Tors im verwaisten Kleist-Theater – wurde dann eine große Stärke des Kollektivs offensichtlich. (Schautafel 4) In einer Grundschulklasse erarbeiteten die Künstler*innen mit Kindern Konzepte für eine mögliche künftige Nutzung des seit der Abwicklung des Stadttheaters leerstehenden Areals. In dieser Klasse sah die stille Beobachterin keine abgehobenen, avantgardistischen Künstlertypen am Werk, die spleenige Performances planten. (So in etwa lautete anfangs teilweise die oberflächliche Wahrnehmung der neuen Künstler*innengruppe in der Stadt.) Nein, hier waren interessierte Kunst-Profis, die es verstehen, Bürger*innen egal welchen Alters und welcher Herkunft einzubinden in ihre Ideen. Die Schüler*innen gestalteten Flaggen, die beim Tag des offenen Tors gehisst wurden, und auch an der Choreografie des Heringstanzes, der bei dem Happening durchgehend getanzt wurde, arbeiteten sie mit. Etwas Ähnliches gelang Club Real später mit Frankfurter und Słubicer Vereinen für geistig Beeinträchtigte, die sie an einem massiven rollenden Tisch zusammenbrachten. (Schautafel 9) Das Bild der zusammensitzenden Deutschen und Pol*innen, die am Europatag an dem wuchtigen Tisch auf Rollen selbstgebackene Kekse aßen, während sie auf der Grenzbrücke über die Oder hin- und hergezogen wurden, bleibt im Gedächtnis. Es war viel mehr als ein starkes Symbol. Hier ging es nicht nur um ein witziges Bild, das die Künstler*innen mit den Bürger*innen als Staffage umsetzten, es fand echte Begegnung statt. Nicht nur die Grenze zwischen Künstler*innen und Publikum wurde hier aufgehoben, auch die zwischen Kunst und bürgerschaftlichem Engagement. Folkstheater eben.

So kreiste der Club Real zunächst um das Zentrum des Schmerzes, um sich dann so richtig hineinzuwühlen. Am Reformationstag 2016 war es soweit: Eine Geisteraustreibung im Kleist Forum wurde zelebriert. (Schautafel 7) Nicht nur unterstellte man dem Gastgeber böse Gespenster und legte ihm einen stinkenden Fisch in den Keller, man forderte das Publikum auch noch auf, alles schlechte, was sie an dem Kulturhaus stört, in Metallplatten zu hauen und diese anschließend in der Oder zu versenken. Und was machte der Gastgeber? Er saß in Form des künstlerischen Leiters Florian Vogel mit in der Metallwerkstatt und behielt die Fassung. „Kulturpolitik ist nichts, was mit euch passiert“, schien es aus dieser Performance laut herauszuschallen. „Ihr gestaltet sie mit!“ Denn eins hatten die Künstler*innen längst gemerkt. Neben all den engagierten Menschen und rührigen Initiativen in der Doppelstadt, die Lust hatten auf neue Formen der Kunst, die sich hineinwarfen, ohne genau zu wissen, was daraus wird, gab es eben auch eine teils uninspirierte, konservative Kulturpolitik, über die zu meckern viele Bürger*innen gewohnt waren. Aus dieser passiven Beschwerdehaltung herauszukommen, ihren zentralen Kulturort zurückzuerobern und mitzubestimmen, dazu ermunterten die Club-Real-Aktivisten die Frankfurter*innen.

Es ist das Privileg des kleinen, jungen, „wilden“ Künstler*innenkollektivs, genau diesen Plan mit einer gehörigen Portion Frechheit und Anmaßung zu verfolgen. Sie brachten in einigen Momenten damit sogar die engagierteste Abteilung des Kleist Forums, die Techniker, gegen sich auf. „Wir sind es gewohnt, irgendwo reinzugehen, die Flex rauszuholen und was abzusägen. Hier stehen dann aber dem Technik-Chef die Haare zu Berge“, brachte es Marianne Ramsay-Sonneck in einem Abschlussgespräch auf den Punkt. Technik-Crew und Künstler*innenkollektiv konnten später über diesen Clash der Kultur-Kulturen lachen. Schließ lich waren sie die eigentlichen künstlerischen Partner im Haus. Weniger Verständnis fürs Unkonventionelle brachte man im Ordnungsamt auf. Im Überschwang des Gefühls, im Rathaus gute Partner gefunden zu haben, hatte Marianne Ramsay-Sonneck eine Einladung zu einer Aktion verschickt, bei der der große Tisch über die Grenz brücke gezogen werden sollte. Dort sah man keine Grundlage für eine Genehmigung. Mit Bauchschmerzen ließen die Künstler*innen den Tisch trotzdem rollen – und bezahlten später die Strafe. Ob solche Konfrontationen nötig sind, ob man sie zu vermeiden versucht oder sie interessiert als überraschende Nebeneffekte des gesellschaftlichen Experiments beobachtet, darüber ist man sich auch innerhalb des Künstler*innenkollektivs uneinig.

Was bleibt?

Während sich für alle Aktionen des Club Real in Frankfurt (Oder) begeisterte Mitstreiter*innen fanden, gab es am Ende des Projektzeitraumes auch die Meinung: „Das hat nicht funktioniert, da waren ja immer nur wenige Zuschauer.“ Florian Vogel, über lange Strecken des Projektzeitraumes künstlerischer Leiter des Kleist Forums, urteilte am Ende beinahe großzügig: „Natürlich kann Club Real nicht die gesamte Stadt mit auf ihre künstlerische Reisen nehmen. Aber diejenigen, die ihnen stellvertretend gefolgt sind, haben erlebt, was Interaktion bedeuten kann, wenn es keine Grenze zwischen Produktion und Rezeption mehr gibt.“ Nach einem großen Bedürfnis, solche Kultur-Erlebnisse in seinem Haus zu vertiefen, klingt das nicht.

Der unter umstrittenen Umständen entlassene künstlerische Leiter der Anfangszeit, Oliver Spatz, strich zum Abschied der Künstler*innen aus Frankfurt heraus: „Die Bürger haben erfahren, dass es kein Zauberwerk ist, Kultur selbst zu machen und Kulturpolitik mitzubestimmen.“ Club Real habe besonders scharf die Frage gestellt, was das Kleist Forum denn nun sein will: ein Gastspielhaus oder ein Haus, das künstlerische Prozesse ermöglicht.

Wer seinen Gastgeber derart in Frage stellt – und sei es noch so unvoreingenommen – der kann wohl nicht mit einer neuerlichen Einladung rechnen. Aber auch die Künstler*innen wirkten zum Abschied zunächst nicht übermäßig anhänglich. Sie haben beim Bohren in Wunden und Austesten von Schmerzgrenzen auch die ermüdende Seite der Stadt kennengelernt, die Krusten, Hür den und Gewohnheiten. Mit etwas Abstand sind sie inzwischen aber als Quasi-Botschafter*innen der Doppelstadt unterwegs. Und auch in der Stadt selbst bleibt ihr Aufenthalt nicht ohne Spuren. Club Real hat mit seinem Folkstheater Diskussionen angestoßen, ein Selbstverständnis in Frage gestellt, zum kulturellen Schaffen ermutigt, die Frankfurter*innen aus ihrer Deckung herausgelockt. Die Künstler*innen haben das Kleist Forum, die Kulturszene und die Stadt bereichert. Vor allem mit dem Mut, anders zu denken, Scheu zu überwinden und Konflikte auszuhalten.

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