Auftritt
Frankfurt am Main: Troll gegen Sisyphus
Schauspiel Frankfurt: „Furor“ (UA) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Regie Anselm Weber, Bühne Lydia Merkel, Kostüme Irina Bartels
von Marcus Hladek
Erschienen in: Theater der Zeit: Edgar Selge: Der helle Wahnsinn (01/2019)
Assoziationen: Schauspiel Frankfurt
Die Wut, lateinisch furor, ist kein so nobles Theatergefühl wie Furcht und Schrecken der Tragödie. Lutz Hübners und Sarah Nemitzs „Furor“ (siehe Stückabdruck ab Seite 52) ist im Hinblick auf ihren 29-jährigen Protagonisten, den Paketboten Jerome, jedenfalls hochaktuell: Sie zeigen den Wutbürger mit Netzanschluss. Dessen Typus konstruieren wir uns zwar sozio-, nicht mythologisch, doch wenn Jerry – so sein Kosename voll waberndem Germanentum (die Engländer im Ersten Weltkrieg verwendeten ihn für deutsche Soldaten in Ableitung von „Ger“many) – vor uns und dem Politiker Heiko Braubach sein Prekariatsbewusstsein auskotzt, kommt viel wirres Denken zu Wort. Und das gleicht einer Katharsis.
Lydia Merkels Bühne reserviert dem Trio Dietmar Bär (Braubach), Fridolin Sandmeyer (Jerome) und Katharina Linder (Nele Siebold, Jeromes Tante) eine in den Saal ragende Spielfläche mit abgewohntem Mobiliar – ein wandloses Wohnzimmer. Ihr Clou ist die fotogetreue Fassade eines breiten zehnstöckigen Wohnblocks im Hintergrund: ein Bau zwischen Platte-Ost und Sozialbau-West als Szenerie für Hübners und Nemitzs Kammerspiel im Großen Haus des Schauspiels Frankfurt. Der Maßstab von eins zu drei (oder vier) und viele Details von der Sonnenblende bis zum transparenten Fensterschmuck zeitigen einen Märklin-Effekt, der den Sinn fürs Modellhafte schärft.
Hübners Formensprache ist nicht allzu originell, doch ermöglicht sein Realismus mit sozialem Anliegen in Frankfurt glänzende Darstellerleistungen. Die Hydra Internet, die sonst oft postdramatische Bühnenformen stiftet, schrumpft bei ihm zum Nebenthema im Problemstück. „Furor“ kommt uneitel über die Rampe: Intendant Anselm Weber inszeniert so textdienlich, dass es schon viel ist, wenn die Orangen fehlen oder Bär sich als Braubach eine „Was für ein Spinner“-Geste leistet, die nicht vorgeschrieben ist.
Worum geht es? Der 17-jährige Enno Siebold lief vor Wochen dem Politiker Braubach vors Auto. Ein Bein ist ab, Enno im Koma. Der Polizeibericht entlastet Braubach, der vor dem Wahlkampf steht. Jetzt trifft er Ennos Mutter Nele, bietet konkrete Hilfe an und überwindet ihre Unsicherheit. Katharina Linder transportiert das so psychologisch glaubhaft wie Neles nervösen Hauch von Untertan und, am Ende, ihren Bruch mit dem Neffen Jerome. Als dieser auftritt, endet der Quasi-Prolog. Jerry, ein Paketbote in roter Uniform mit Namensschild, Cargohose, Botenkäppi (Kostüme Irina Bartels), schickt Nele fort und spielt sich als Rächer der Enterbten auf. Jerry furens, das heißt frei nach Seneca: der rasende Deutsche.
Seine „Verhandlungen“ mit Braubach steigert Jerome allmählich zu einem messerfuchtelnden Weltanschauungsduell mit Kampfchoreografie (René Lay). Als argwöhnischer Verschwörungstheoretiker ist er angespitzt vom Internet und seinen trüben Quellen: rechtes Gedankenungut, pseudolinke Globalisierungs- und Elitenkritik, halbgare Shitstorm-Drohungen. Selbst gute Gründe („Für uns machen die nichts, die Herren Arbeitervertreter“) sind da entwertet. Ihm gegenüber: der reformlinke Metaller vom zweiten Bildungsweg und selbsterklärte Sisyphus der Politik, der sich aufs Spiel des exemplarischen „Haters“ Jerome aus Neugier einlässt – und um ihn zu überzeugen, dass Anstand, Veränderungswille und Zähigkeit echter sind und weiter führen als aufgeblasene Parallelwelten.
Bei Weber lebt das Stück (Dramaturgie Ursula Thinnes) durch die Schauspieler. Gibt Bär den Politiker als ruhende Kraft mit Argumenten statt Hassbildern, so ist Sandmeyers Jerome der magnetische Eisenkern im Stück, dessen Unwucht es irre eiern lässt und alles Gutgemeinte weglenkt. Seine roten Augen verraten die Entzündlichkeit eines Denkens und Handelns, das in hasserfüllten Kurzschlüssen die Welt im Griff zu halten wähnt, sich Braubach aber nie als Trophäe in den tristen Wohnblocksetzkasten nageln kann. Seine Tics, das ruckhafte Gebaren und unbalancierte Schwanken der schlaksigen Gestalt, folgen dem Chaotentum der Figur mit Brocken von Nazijargon („Lügenpresse“, „System“) und unverdautem Ökonomismus: Jerry, der Virus aus dem Netz, der leibhaftige Stresstest der Demokratie, das wildlaufende Betamännchen, das mit Halbwahrheiten nervt. Immerhin reibt dieser Rumpelstilz, der als Nihilistenwiedergänger von „Abschaffung“ schwadroniert, dem Sparringspartner ein Stück Leben unter die Nase: den digitalen Wilden Westen, den Dummgehaltene aller Welt, und solche aus eigenem Verdienst, als Bibel reklamieren. //