Theater der Zeit

Die Arbeit am künstlerischen Text

Erlesen des Textes

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

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Die Arbeit am künstlerischen Text beginnt zunächst damit, den Text zu lesen und ihn zu verstehen. Wir probieren, den Inhalt der Wörter und Sätze zu erschließen und zu begreifen, was da geschrieben steht. Dabei stoßen wir auf sprachliche Bilder: Metaphern, Vergleiche, rhetorische Figuren, wörtliche Rede und zuweilen auf Wörter und Wendungen, die ihren Sinn nicht sofort preisgeben. Beim Lesen eines Textes von links nach rechts, wie wir es in unserer Sprache gewohnt sind, wechseln wir zwischen drei Augenbewegungsmustern. Das liegt daran, dass nur die Sehgrube (Fovea centralis) unserer Netzhaut in der Lage ist, die Buchstaben genau zu erfassen. In ruckartigen Sprüngen (Sakkaden) erfasst das Auge durchschnittlich jeweils etwa zehn bis zwölf Buchstaben, drei oder vier links vom Blickzentrum, sieben oder acht rechts davon. Zwischen den Sprüngen gibt es jeweils eine Pause. Während dieser Fixation, deren Zentrum sich bei längeren Wörtern etwa in ihrem ersten Drittel befindet, verarbeitet unser Gehirn die aufgenommenen Informationen. Die Buchstabenfolgen werden nun zerlegt, analysiert und wieder zusammengesetzt. Die Weiterverarbeitung erfolgt auf phonologischem oder lexikalischem Weg. Dabei werden die Buchstaben entweder in Laute umgewandelt, oder der Sinn von Wörtern wird direkt erschlossen. Die unterschiedlichen Verarbeitungsweisen zeigen sich sowohl in Abhängigkeit von der Art des Textes als auch von den Gewohnheiten der Leser. Sachtexte werden eher lexikalisch verarbeitet, künstlerische Texte eher phonologisch. Beim Textlernen merken sich einige Studierende Texte eher akustisch, andere eher visuell. Letztere können sogar angeben, auf welcher Buchseite eine Textpassage zu finden ist. Zwischen den Wortbedeutungen müssen syntaktische Verknüpfungen hergestellt werden, die Sinnzusammenhänge erlauben. Pro Lesesekunde finden etwa vier Sakkaden statt. Geübte Leser können je nach dem Schwierigkeitsgrad eines Textes etwa 450 Wörter pro Minute verarbeiten.189 Nach rechts springende Sakkaden können auch nach links ausgerichtet werden. Während dieser Regression geht der Blick zurück zum bereits erfassten Text. Beim stillen Lesen haben wir die Möglichkeit, immer wieder zurück und nach vorn zu blicken und einen Gedankenbogen so lange zu verfolgen, bis wir begreifen, was gemeint ist. Beim wiederholten stillen Lesen kann der Blick weitere Sprünge machen, um größere Gedankenbögen zu erfassen. Dabei lassen wir ganze Wörter aus, deren Sinn das Gehirn aus dem Kontext erschließt. Wir fokussieren auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Textteile. Schnell Lesende sind in der Lage, Sinnzusammenhänge mühelos zu erfassen. Sie sind nach rechts auf den fortlaufenden Text ausgerichtet. Auf diese Weise können ihnen Feinheiten entgehen, die sie erst beim wiederholten Lesen entdecken. Langsam Lesenden fällt es manchmal schwer, längere Gedankenbögen zu erfassen. Unser Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen nur wenige Sekunden. So kann es vorkommen, dass wir den Anfang eines Kleistsatzes an seinem Ende im Arbeitsspeicher nicht mehr auffinden können. Einige Leser, zu denen ich auch gehöre, neigen dazu, Texte zu verschlingen, weil sie neugierig sind, wie eine Geschichte ausgeht. Der Genuss am Text stellt sich oft erst beim wiederholten Lesen ein. Das Lesen von fremdsprachigem Text bietet eine ungewohnte und zuweilen angenehme Entschleunigung. Beim Lesen versuchen wir, Sinn aus Wortbedeutungen und Textstrukturen zu generieren. Das gelingt uns besser oder schlechter auf der Grundlage von Hintergrunderfahrungen. Das Wissen über die Autoren und ihre Zeit, ihre Motive und Absichten kann dafür hilfreich sein. Worte sind an Konzepte gebunden und an Schemata, die Dinge zusammenfassen und Handlungen verknüpfen. Semantische Konzepte und Schemata können wir an wechselnde Situationen anpassen. Dadurch entstehen Gefühle als in der Erinnerung gespeicherte körperliche Erfahrungen. Auf diese Weise sind wir in der Lage, zu assoziieren und Analogien zu bilden. Dann löst unsere Fantasie unbewusste körperliche Attraktionen aus, die uns bewegen.

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