Auftritt
Augsburg: Schwarmwesen unter Glyzinien
Staatstheater Augsburg: „Bovary, ein Fall von Schwärmerei“ (DSE) von Ivana Sajko. Regie Nicole Schneiderbauer, Ausstattung Miriam Busch
von Sabine Leucht
Erschienen in: Theater der Zeit: Cordelia Wege – Schöpferisches Risiko (02/2020)
Assoziationen: Staatstheater Augsburg
So ein ruhiger Anfang ist selten. Der Popsong, der nach den Wünschen Ivana Sajkos die Aufführung eröffnen soll, entfällt. Stattdessen herrscht bewegungslose Stille auf der schmucken brechtbühne des Staatstheaters Augsburg. Sechs Schauspieler – drei männlich, drei weiblich – halten die Luft an. Über ihnen: eine eindrucksvolle Wolke aus Glyzinienzweigen, in der ein Reifrock hängt. Unter ihnen spielen Schatten auf fransig verlegten Dielen. Plötzlich lässt eine Schauspielerin einen Arm pendeln, und ein kniender Kollege antwortet mit einem Zucken. Die Figuren erwachen aus dem Bild, um sich den ersten Monolog zu teilen.
In Sajkos „Bovary, ein Fall von Schwärmerei“ ist er Justin zugeschrieben, den die kroatische Autorin in ihrer Flaubert-„Cover-Version“ als Haupterzähler installiert. Der im Roman unauffällig omnipräsente Gehilfe des Apothekers ist eine von sieben Personen, deren Stimmen sie in die Gegenwart herüberhallen lässt, wenn auch auf unterschiedliche Sprecher verteilt. Unter diesen Stimmen natürlich auch die von Emma, ihrem Mann und ihren beiden Geliebten. Sie alle lässt Sajko das tun, was Flaubert tunlichst vermeidet: Sie philosophieren und stellen Meta-Betrachtungen über ihre Rollen an. Hie und da wird etwas Romanhandlung aufgepickt, die jedoch mehr oder weniger nur als Vehikel dient, um die Konsum- und Liebessucht der Titelfigur als universal zu behaupten. Ob wir nun in der Provinz sind, in Paris oder Berlin, ob wir das Jahr 1857 schreiben oder 2026, ist bei Sajko egal: „Es ist wichtig, dass es nicht gerade jetzt ist und nicht hier, denn die Welt ist ein hässlicher, grausamer und langweiliger Ort, nicht wahr, Emma?“
Es geht um Langeweile, Realitätsflucht und das Imaginationsvermögen in diesem „Fall von Schwärmerei“, den die sprachgewaltige Autorin auch den „Fall des Irrationalen“ nennt, der Emma Bovary dazu treibt, sich mit teuren Kleidern und Möbeln zu verschulden und in die Arme von Männern zu werfen, die glamouröser zu sein scheinen als der gewöhnliche Landarzt, den sie geheiratet hat. Bis kurz nach dem Rausch wieder die Ernüchterung kommt. Man kennt das ja.
Doch wo Emmas Sehnsucht nach dem letztlich Unmöglichen durch die Lektüre sentimentaler Romane Nahrung fand, sind heute Werbung, Film und Popmusik unsere Wunschfabriken. Nicole Schneiderbauer, die die deutschsprachige Erstaufführung des 2016 in Zagreb uraufgeführten Stücks besorgt, lässt zwar noch von Emmas Versuch erzählen, „das Leben als ein Lied zu leben“, das in ihr von großartigen Ereignissen singt. Sie interessiert sich jedoch weniger für die Inhalte dieses Liedes als für Atmosphäre, der hier alles dient: die Landhausfassaden und Wasserfälle in den Schwarzweiß-Videos von Stefanie Sixt, die gerade so undeutlich sind, dass sie nicht kitschig wirken, die schweren Blüten des Blauregens und die tänzerisch-artifizielle Bewegungssprache. Bowies „Let’s Dance“ wird gesungen, allerdings stark verlangsamt und verzerrt – wie in Trance. Überhaupt ist Miriam Buschs Bühne weniger von Menschen als von illustren Schwarmwesen in weißen Gewändern mit futuristisch anmutendem Faltenwurf bevölkert, die ohne feste Figurenbindung Texte sprechen. Viele davon genderverkehrt und/oder chorisch.
Jeanne Devos, Ute Fiedler, Klaus Müller, Roman Pertl, Thomas Prazak und Karoline Stegemann sind ein homogenes, bewegungsbegabtes Darstellerteam, das mit gewollt fehlkoordinierten Körpern und grotesken Umschlingungen das Nicht-Zusammenpassen der Eheleute illustriert, die Tanzszene aus Minnellis Bovary-Film von 1949 atmosphärisch nachbuchstabiert oder Emmas Selbstmord nachstellt. Während Flaubert von der ersten Mundtrockenheit bis zum finalen Blutspucken kaum auf ein Detail verzichtet, geht es hier ganz abstrakt zu. Jemand wird auf ein paar Dielenbretter gelegt. Der Rest sind Worte.
Schneiderbauers choreografisch-performativer Ansatz ist ästhetisch ansprechend, aber teilweise auch sehr in sich selbst verliebt. Er funktioniert für alle, die sich in einen seltsamen Tagtraum entführen lassen und nicht allzu viel nachdenken wollen. Bis sie das laute Krachen der Dielen weckt, die beim Untergang von Emmas Welt aus dem Bühnenboden herausgebrochen werden. //