Protagonisten
Den Fluss der Zeit anhalten
Die Schauspielerin Julia Koschitz bringt ihr Publikum im Kleinen Theater Kammerspiele Landshut zum Frösteln und zum Träumen
Erschienen in: Theater der Zeit: Deutsche Zustände – Intendanten über ein neues politisches Selbstverständnis (10/2019)
Assoziationen: Akteure kleines theater - Kammerspiele Landshut
Dreißig Jahre Altersunterschied! Geht das? Kann man mit 44 eine 14-Jährige spielen? Klar kann man, zumindest im Theater, wo man ja auch mit 32 eine 52-Jährige spielen kann. „In mehreren Arbeiten, die ich mit Sven gemacht habe, war Alterslosigkeit eine Verabredung“, erklärt Julia Koschitz. Sven, das ist Sven Grunert, Intendant am Kleinen Theater Kammerspiele Landshut. Ehe Koschitz vor der Kamera Karriere machte, spielte sie regelmäßig bei ihm. Inzwischen hat sie sich zu einer der gefragtesten Schauspielerinnen ihrer Generation in Fernsehen („Doctor’s Diary“) und Film (zuletzt im Kino: „Wie gut ist deine Beziehung?“) entwickelt. Jetzt aber ist Koschitz nach Landshut auf die Bühne zurückgekehrt. Um Isa zu spielen. Eine 14-Jährige eben.
Isa ist das Mädchen von der Müllkippe, das den Teenager-Helden in Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Tschick“ auf ihrem Roadtrip durch die ostdeutsche Provinz begegnet. Als sich Herrndorf 2013 das Leben nahm, um dem Krebstod zuvorzukommen, hinterließ er das Romanfragment „Bilder deiner großen Liebe“. Darin hatte er Isa zur Hauptfigur erhoben. Landauf, landab wird „Bilder deiner großen Liebe“ derzeit in der Theaterfassung des Dramaturgen Robert Koall gespielt, der auch schon „Tschick“ bühnentauglich aufbereitet hat. Die Landshuter Aufführung ragt aus der Fülle der Inszenierungen heraus. Trotz des Altersunterschieds – oder wahrscheinlich gerade deshalb – macht Koschitz den Abend zum Ereignis. „Isa hat in ihrer schonungslosen Art, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, etwas sehr Kindliches, andererseits wirkt sie unglaublich reif und weise. In ihr stecken Wille und Mut zur Freiheit und Autonomie, die jugendlich-wild und lebenserfahren zugleich sind“, findet Koschitz. Wenn Isa auf dem Rücken auf der Wiese liegt und in den Nachthimmel schaut, dann kommt es ihr so vor, als sei ihr „Schädel ein Sieb, in dessen Mitte eine Kerze brennt, die Lichtpunkte über die Hemisphäre streut“. Ihr Versuch, diesen komplizierten Kosmos in den Kopf zu kriegen. Andere halten Isa wegen solcher Überlegungen für verrückt. Drum steckte sie auch in der Psychiatrie. Beziehungsweise: Von dort ist sie ausgebüxt. Buchstäblich ver-rückt ist aber eigentlich nur der Weg, den Isa durchs Leben nimmt. Weil er abseits jener Pfade verläuft, die allgemein als normal erachtet werden, bloß weil die Mehrheit sie stur entlangtrampelt. Isas „Problem“ ist schlicht, dass sie Gedanken zulässt, die die meisten verdrängen, weil sie den menschlichen Verstand übersteigen. Fragen nach Tod, Vergänglichkeit und Unendlichkeit.
„Ich kann mich erinnern, wie ich als Kind meinen Vater gefragt habe, wo das Universum endet. Und wo es anfängt. Sowohl in Raum als auch in Zeit. Herrndorf stellt diese Fragen in einem Text, den er schreibt, als er fast schon auf dem Sterbebett liegt. Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass man sich mit diesen Dingen vor allem am Anfang und am Ende des Lebens befasst und nicht so sehr in der Mitte. In der Mitte muss man vor allem funktionieren.“ Julia Koschitz scheint trotz ihres mittleren Alters prädestiniert für die Rolle. In ihrer Stimme klingt etwas Kindliches, fast Koboldhaftes an. Dazu ihr leicht scheuer Blick im offenen Gesicht, das sie aber auch in Falten legen kann, die von Erfahrung und Enttäuschungen mit dem Leben erzählen. So saugt Koschitz die Aufmerksamkeit des Publikums förmlich an. Auch, weil es in der behutsamen Landshuter Inszenierung von Sven Grunert wenig gibt, was von ihr ablenken könnte. Auf der Bühne: Ein mit Plastiktüten behängter Einkaufswagen, ein Mikrofonständer – das war’s weitgehend. Von Zeit zu Zeit greift sich Koschitz eine Gitarre und spielt ein paar Akkorde, die dann geloopt über Lautsprecher nachhallen. Ruhemomente zwischen den Szenen. Manchmal atmet Koschitz auch nur schwer ins Mikrofon. Und wundersam verwandelt sich dieses Geräusch der Atemlosigkeit einer Figur auf der Flucht in das beruhigende Rauschen der Meeresbrandung. Ein Gefühl von Weite stellt sich ein, während die Gleichförmigkeit des Atems zugleich wirkt, als würde Koschitz aufmerksam in sich hineinlauschen. So ist ihre Isa außer sich und ganz bei sich zugleich. Ein Mensch, der dieses ganze schöne, schreckliche Universum in sich trägt. „Diese Figur“, sagt Regisseur Sven Grunert, „braucht trotz aller dunklen und rebellischen Facetten einen hohen naiven Anteil und große spielerische Lust. Diese Vielschichtigkeit ist die Grundlage unserer Isa.“ Das Koschitz das so großartig hinbekomme, betont er, erfordere auch „riesige schauspielerische Konzentration“.
Als Kind österreichischer Eltern in Brüssel geboren, wuchs Julia Koschitz in Frankfurt am Main auf und kehrte erst zur Schauspielausbildung in die elterliche Heimat zurück. Ehe sie am Franz Schubert Konservatorium in Wien aufgenommen wurde, spielte sie mit dem Gedanken, Bühnenbildnerin zu werden. Schauspielerei? Dafür hielt sie sich für zu wenig extrovertiert. Die ersten Berufsjahre waren denn auch von Zweifeln begleitet. Als ihr der Intendant des Landestheaters Coburg nach dem Vorsprechen verkündete, sie könne den Schampus aufmachen, sie sei angenommen, dachte sie sich insgeheim „Scheiße, das war’s! Die Weichen für mein Leben sind gestellt!“, schob die Skepsis aber beiseite und trat das Erstengagement an. Später wechselte sie ans Theater Regensburg. „Im Endeffekt war der Weg gut für mich, weil ich mich so ohne Druck freispielen konnte, aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr, am schwarzen Brett nachzuschauen, wie ich als Nächstes besetzt wurde.“ Es folgte der mutige Schritt: Kündigung des Festengagements. Umzug nach München. Dort schauen, ob man einen Fuß bei Film und Fernsehen in die Tür bekommt. Zwei Begegnungen wurden entscheidend: Franz Xaver Bogner besetzte sie in seiner (vor allem in Bayern populären) schräghumorigen Polizeiserie „München 7“ (2004–2016) als streberhafte Jungpolizistin. Und Ralf Westhoff engagierte sie für sein Kinodebüt „Shoppen“ (2006). Da wurde schnell klar: Die Kamera liebt Julia Koschitz. In Westhoffs Speed-Dating-Komödie spielte sie eine junge Frau mit neurotischen Zügen, deren konsternierter Blick von komplexen inneren Dramen erzählt. Die Welt nannte Koschitz einmal eine „Gesichtstänzerin“. Das passt – hat Koschitz doch in ihrer Kindheit und Jugend Ballett getanzt – und irritiert sie dennoch: „Als ich das gelesen habe, dachte ich mir: Oh Gott, das klingt nach hyperaktiver Mimik. Ich hoffe, ich beherrsche auch ruhige Tänze wie Blues oder Tango.“ Tatsächlich hat Koschitz von Stehtanz bis Pogo so ziemlich alles im Angebot. Wobei sie bei der Rollenauswahl für Filme stets darauf achtet, so besetzt zu werden, dass sie diese Vielfalt auch zeigen kann. Das Spektrum reicht von der depressiven Ärztin („Der letzte schöne Tag“, 2011) bis zur MS-kranken Architektin („Balanceakt“, 2019).
Ihr Bühnenrepertoire gestaltete sich ähnlich weit gefächert, wobei sie in München nach dem Umzug nur auf kleinen Bühnen stand. Koschitz begeisterten Arbeiten von Luk Perceval oder Johan Simons an den Münchner Kammerspielen, selber gespielt hat sie in der freien Szene. „Also ganz ehrlich: Ins Theater gegangen bin ich meistens da, wo ich selber nie gespielt habe. Aber was soll man machen? Die Kammerspiele wollten mich halt blöderweise nicht.“
So kam es, dass Sven Grunert sie erstmals im Münchner Teamtheater sah. Das Stück hat er vergessen. Aber Koschitz machte einen nachhaltigen Eindruck auf ihn: „Sofort begann meine Imagination zu tanzen. Sie hat mich mit ihrem inneren Erleben zum Träumen gebracht. Wie eine stille Meditation.“ Grunert lud sie ein zum Vorsprechen und besetzte sie als Abby in Neil LaButes „Tag der Gnade“ (2004). Der Beginn einer wunderbaren Theaterfreundschaft. Es folgten: „Antigone“ von Sophokles und Ibsens „Nora“, beide mit Koschitz in der Titelrolle – für Letztere erhielt sie den Darstellerpreis bei den Bayerischen Theatertagen 2006. Dazu kam Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ und als Höhepunkt 2007 Edward Albees Mutter aller Zimmerschlachten „Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“ mit Koschitz als Martha an der Seite von Andreas Sigrist als deren Ehemann George, der schon in „Nora“ und „Antigone“ ihr Spielpartner war. „Bei Julia war von Anfang an klar, dass sie keine Berührungsängste kennt“, erinnert sich Sigrist. „Wir mussten keinerlei Energie darauf verschwenden, Distanz zu überwinden und uns erst mal vorsichtig abzutasten. Sie warf sich sofort mutig in die Proben.“
„Ein schönes Kompliment!“, freut sich Koschitz. „Ich habe immer Kollegen bewundert, die gesagt haben: Lieber scheitern, als nichts Neues auszuprobieren. Da hinzukommen war auch eines meiner Ziele.“ Mutig war auch Sven Grunerts Albee-Inszenierung. Entschieden entriss er das Stück der boulevardseligen Aufführungstradition. Statt eines Wohnzimmers mit Couchgarnitur und Hausbar ließ er sich von Bühnenbildner Helmut Stürmer eine Mischung aus Gummizelle und Todestrakt bauen. Von der Decke baumelte ein Strick, darunter klaffte ein Schacht – als wäre gerade die Falltür unterm Galgen aufgeklappt. George und Martha, Albees in inniger Hassliebe vereintes Ehepaar, traten hier auf wie Henker und Delinquent. Da lag eine Kälte zwischen den Figuren, die frösteln machte. Mutig schließlich die Entscheidung, die midlife-krisengeschüttelte Martha (laut Albee 52) mit der damals erst 32-jährigen Julia Koschitz zu besetzen. „Die Abgründe, die wir aufgespürt haben, trägt jeder Mensch in sich. Dazu muss man nicht in der Midlife-Crisis sein“, konstatiert Koschitz.
Auch an Isa „zerrt der Abgrund“. „Aber“, sagt sie „ich bin stärker.“ Halt geben ihr Begegnungen. Julia Koschitz gibt auch den Figuren, die den Fluchtweg von Herrndorfs Streunerin kreuzen, ihre Stimme. Wozu sie diese minimal verstellt. Jedoch ohne je ins Chargieren zu verfallen. Ein Höhepunkt der Landshuter Inszenierung ist Isas Mitfahrt auf einem Kutter, dessen Kapitän sich als Philosoph der Entschleunigung erweist. Wenn Koschitz seine Geschichte eines Bankräubers erzählt (der seine Beute verbuddelt und jahrelang nicht anrührt, weil ihn allein der Gedanke an den vergrabenen Schatz mit tiefer Befriedigung zu erfüllen scheint), sitzt sie fast regungslos im Einkaufswagen auf der Bühne des kleinen Theaters, und es ist, als würde sie mit ihrer stillen Art des Erzählens den Fluss der Zeit anhalten. So nimmt sie das Publikum mit an einen Ort, wo Zeit und Vergänglichkeit keine Rolle spielen. Und Alter sowieso nicht. Vielleicht ist das das Geheimnis von Julia Koschitz: Dass sie auf der Bühne nicht alt ist und nicht jung. Sondern alles auf einmal. Da paart sich eine fast unbekümmerte Direktheit im Spiel mit einer Reife, die sie im Zweifelsfall lieber ein bisschen weniger machen lässt, als zu viel. Eher Rumba als Rock ’n’ Roll. Aber genauso mitreißend. //