Theater der Zeit

Editorial

Editorial

von Valentina Barone und Tim Behren

Erschienen in: Re-exploring the grotesque – Circus perspectives on diverse bodies (VOICES IV) (05/2023)

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Liebe Leser:innen,
liebe Künstler:innen,
liebes Publikum,

Wenn Zirkus wahrhaft „zeitgenössisch” sein will, muss er dann nicht (über) die Gesellschaften reflektieren, in denen er sich entwickelt?1
(Angélique Willkie, 2021)

Es steht immer noch sprichwörtlich ein Elefant im Raum, wenn wir heute über Zirkus sprechen: die koloniale Vergangenheit des Zirkus, die aktuell kaum aufgearbeitet ist. Sie wird vielmehr von zahlreichen romantisierenden Zirkusbildern überlagert und viel zu selten klar benannt. Was bedeutet es, in Anbetracht dieser Historie, heute zeitgenössische Formen von Zirkus zu kreieren, zu zeigen, zu vermitteln, zu lehren oder zu inszenieren? Was sagen uns die „Gespenster der Vergangenheit“? – wie sie Ante Ursić in dieser Ausgabe der VOICES benennt. Es sind diese ausbeuterischen Ungerechtigkeiten an so vielen Menschen (wie auch Tieren), die mit dem Zirkus und seiner Geschichte des Exzeptionalismus verbunden sind. Es sind Gespenster, die uns heute auf bestehende rassistische und diskriminierende Strukturen hinweisen können. Sie können uns sensibilisieren für stereotype Vereinfachungen und normative Ästhetiken, die sich auch in zeitgenössische Zirkuspraktiken eingeschrieben haben. Und sie können dazu beitragen, unsere heutigen Arbeitsstrukturen kritisch zu reflektieren und gerechter zu gestalten. Um all dem näher zu kommen, braucht es eine ­kollektive Gedächtnisarbeit zum Zirkus als kulturhistorisches, soziales, ­ästhetisches und als zeitgenössisches Phänomen.

Die diesjährige VOICES Ausgabe Re-exploring the grotesque beschäftigt sich mit dem Begriff des Grotesken und legt ihn als Folie über den Zirkus. Die versammelten Texte fragen aus kulturtheoretischer, theater- und zirkuswissenschaftlicher, dekolonialer, queer-feministischer und künstlerischer Perspektive. Es sind Reflexionen darüber, was uns das Groteske in seiner Vielschichtigkeit und mit seinen Ambivalenzen heute in Bezug auf die Diversität von Körpern, Körperbildern und eben aktuelle Zirkus- und Tanzpraktiken sagen kann.

Der Ursprung des Grotesken lässt sich auf ungewöhnliche Ornamentformen der antiken Wandmalerei, die in der italienischen Renaissance aufgegriffen wurden, zurückverfolgen. Bereits hier zeigt sich die Heterogenität in Formen, bei denen Tier- und Menschenfiguren, pflanzliche Motive sowie Gestaltungselemente schlingend ineinander übergehen. Umgangssprachlich häufig mit dem Bizarren, Phantasievollen oder dem Unbeschreibbaren assoziiert, sind die Erscheinungsformen des Grotesken stets an Kontext und Zeitgeist gebunden und befinden sich daher in steter Transformation. Die historischen künstlerischen Spielarten sind vielfältig und ziehen sich bis ins Komische, Dämonische und Karnevaleske. Als Kern des Grotesken lässt sich am treffendsten sein Verhältnis zu bestehenden Ordnungen und Grenzen beschreiben, die es „überschreitet, sprengt, untergräbt, verwischt“2 und sich damit fixen Deutungen entzieht. So bietet die Beschäftigung mit dem Grotesken einen Rahmen für analytische und zugleich praxisbezogene Perspektiven auf Körpernormen und die Ikonographie von Kulturmustern. 



In seinem einleitenden Artikel Eine Freak-Hantologie spürt Ante Ursić Analogien und Unterschiede zwischen den Begriffen „freak”, „queer” und „grotesk” auf. Mit Blick auf die ausbeuterische Vergangenheit des Zirkus beschreibt er, wie Freak-Performances der Aufrechterhaltung normativer und konservativer Werte der amerikanischen Gesellschaft dienten. Ausgehend von Derridas Gedanken darüber, wie man mit den Gespenstern der Vergangenheit leben kann, erinnert uns Ursić an die politische Dimension der Erinnerung und des Erbes. Als Musterungen des Unabgeschlossenen beschreibt Susanne Foellmer einen wesentlichen Stil zeitgenössischer Ästhetik, der sich im Tanz manifestiert. Unter Bezugnahme auf Theorien des Grotesken von Michail M. Bachtin und Wolfgang Kayser untersucht sie Ästhetiken, die den menschlichen Körper in seine skulpturalen Einzelteile dekonstruieren und ihn als metamorphes Material hinterfragen. Das Interview von Franziska Trapp mit dem flämischen Zirkusmacher und Choreografen Alexander Vantournhout diskutiert die Performance Through the Grapevine und Betrachtungsweisen individueller Körperproportionen. John-Paul Zaccarini teilt seine persönlichen Erfahrungen und Ansichten in Form eines Memoires über queere und afro-pessimistische Zirkusfantasien, die ihren künstlerischen Raum im FutureBrownSpace finden – einem intersektionalen Forschungsprojekt an der DOCH University of the Arts in Stockholm. Es schafft einen kreativen Raum für Künstler:innen of Color in überwiegend weißen Institutionen, ohne den Druck des ,weißen Blicks’. Konsequenterweise ist sein Artikel mit einer dort entstandenen künstlerischen Videoarbeit kombiniert, deren Ansicht wir vor dem Lesen sehr empfehlen. Das Interview von Valentina Barone mit Rémi Lecocq dreht sich um seine persönlichen Erfahrungen als Zirkusartist und seine akrobatische Berufung jenseits von Behinderung. Elena Zanzu taucht ein in verschiedene Formen von Praxis, welche die Performance EZ prägen. Live zu erleben beim diesjährigen CircusDanceFestival, lassen uns Zanzus nicht-binäre Erforschungen existenzielle Entscheidungen aus nächster Nähe betrachten.

Wir wünschen eine intensive und anregende Lektüre. Auch zum Gedankenaustausch beim Diskussionsprogramm des CircusDanceFestivals in Köln laden wir sehr herzlich ein, es bietet Raum und Zeit für persönliche Begegnungen und weiterführende Gespräche.



Köln, April 2023

1 Willkie, Angélique: Von der Gefahr einseitiger Erzählung (im Zirkus) / The danger of a single story (in circus).
In: Behren, Tim / Patschovsky, Jenny (Hg): Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus. Verlag Theater der Zeit: Berlin 2022.
2 Hollein, Max / Dercon, Chris: Vorwort. In: Kort, Pamela (Hg): Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit. Prestel Verlag: München, Berlin, London, New York 2003.

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