Theater der Zeit

V. Theorie

Der dilettantische Exzess

Laien auf der Bühne

von Jens Roselt

Erschienen in: Lektionen 4: Schauspielen Ausbildung (12/2010)

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Laien auf der Bühne

Alarm: Die Laien kommen

Als vor einigen Jahren Laiendarsteller im professionellen Theater auftauchten, ging ein Ruck durch das Publikum, der nicht nur im Feuilleton das gut sortierte Warenlager ästhetischer Bewertungsmaßstäbe durcheinanderpurzeln ließ. Nicht wenigen Begriffsstutzigen ist dabei das Wort „Authentizität“ in den Schoß gefallen. Wie anders sollte man beispielsweise den Auftritt von Irina Potapenko in Frank Castorfs Inszenierung Erniedrigte und Beleidigte (2001) bewerten, deren Darstellung der Figur Katja erkennbar nicht den stimmlichen und körperlichen Ansprüchen professioneller Schauspielkunst genügte, die aber dennoch durch ihre jugendliche Unbefangenheit die Zuschauer bezauberte und manchem der Vollblutschauspieler der Volksbühne die Show stahl? Dass die Konfrontation professioneller Schauspieler mit nicht professionellen Darstellern kurzfristig einen reizvollen Kontrasteffekt ergibt, mag verständlich sein. Doch dass es beim Buhlen um die Gunst der Zuschauer die Laien sind, die den entscheidenden Stich machen, lässt konventionelle Unterscheidungen vom guten (professionellen) und schlechten (laienhaften) Schauspielen merkwürdig alt aussehen.

Mittlerweile jedenfalls tauchen ganze Ensembles auf, die ausschließlich aus nicht ausgebildeten Darstellern bestehen. Nicht selten finden soziale Gruppen dabei unter professioneller Anleitung eigene theatrale Ausdrucksweisen, welche zur professionellen Schauspielkunst nicht in Konkurrenz treten, sondern diese um eigenwillige Facetten erweitern. Rentner, Obdachlose oder Strafgefangene formieren ebenso eigene Ensembles wie geistig oder körperlich behinderte Menschen. Allenthalben sieht man Darsteller, die erkennbar keine stimmliche oder körperliche Ausbildung für das Theater haben, die ihre Mittel nicht beherrschen und kaum in der Lage sind, virtuos Rollen zu spielen. Der Auftritt dieser Truppen, die pure Präsentation von Körpern und Persönlichkeiten, wirkt oft penetrant und mitunter |246|peinlich, er vermag das Publikum aber dennoch in den Bann zu schlagen. Diese Projekte, etwa von Christoph Schlingensief, verfolgen avancierte ästhetische Programme, die über einen rein sozialpädagogischen Ansatz weit hinausgehen. Die künstlerische Qualität dieser Inszenierungen lässt die Bezeichnung Laienspiel deplatziert erscheinen, da man diesen Begriff allzu schnell mit überforderten Darstellern assoziiert, die sich mit viel Engagement und wenig Können zur Schau stellen und ohne recht zu wissen, was sie tun, darauf hoffen, dass die Zuschauer angesichts ihrer Unzulänglichkeit gnädig ein Auge zudrücken. Diesen Mitleidsfaktor, den man auch Schultheater-Bonus nennen könnte, haben die hier in Rede stehenden Projekte nicht nötig. Es hat sich deshalb ein neuer Begriff durchgesetzt. Er lautet: Expertentheater. Die Bezeichnung geht auf das einflussreiche Regie-Kollektiv Rimini Protokoll zurück, deren Mitglieder betonen, dass sie nicht mit Laien, sondern mit „Experten des Alltags“ zusammenarbeiten.1 Die Gruppe findet die Teilnehmer ihrer Projekte nämlich zumeist in bestimmten Berufsgruppen. Das können zum Beispiel Beerdigungsunternehmer (Deadline, 2003) oder die Mitarbeiter einer Fluggesellschaft (Sabenation, 2004) sein, die auf der Bühne keine fremden literarischen Rollen verkörpern, sondern von sich und ihrem Beruf Auskunft geben. Als Darsteller ihrer Biografie sind sie Experten in eigener Sache. Aus dieser Perspektive können ausgebildete Berufsschauspieler gar als die eigentlichen Laien im Theater angesehen werden, weil sie allabendlich in den ihnen fremden Rollen von Prinzen, Webern oder anderen Helden dilettieren. Das Wort „Expertentheater“ ist so zu einem Begriff geworden, der die oft negativ verstandene Bezeichnung „Laienspiel“ zu vermeiden hilft. Das angesprochene ästhetische Phänomen und seine Attraktion werden damit jedoch noch nicht erhellt.

Wilhelm Meisters Ahnen und Erben

Dass nicht professionelle Darsteller ohne Schauspielausbildung, nennt man sie Laien oder Experten, im Theater wie Außerirdische aufkreuzen bzw. von Zuschauern und Kritikern als solche wahrgenommen werden, ist zunächst |247|ein Indiz dafür, wie sehr der professionelle Theaterkosmos inklusive seines Publikums in allzu engen ästhetischen Umlaufbahnen um sich selbst kreist. Denn das Schauspielen nicht professioneller Darsteller ist eine kulturelle Praxis, die tagtäglich in Kindergärten, Schulen, Turnhallen, Gemeindesälen oder Wirtshäusern stattfindet, ohne dass dadurch die kulturkritische Alarmbereitschaft erhöht würde. Während der Breitensport von Funktionären und Politikern gehegt und gepflegt wird, fristet das Laienspiel ein nicht selten belächeltes Schattendasein. Gerade innerhalb der Theaterszene wird die Bezeichnung „Schultheater“ oft als Schimpfwort gebraucht oder verstanden. Dass aber sowohl im ländlichen Raum als auch in urbanen Ecken und Winkeln viel Theater gespielt wird, ist zunächst ein Zeichen dafür, dass Theater machen und Schauspielen auch im Zeitalter der Massenmedien ein wirkmächtiges kulturelles Verfahren ist, welches Wahrnehmungen und Ausdrucksweisen nachhaltig prägt. Man muss nicht zu denen gehören, die sich den Spruch „Theater muss sein!“ ans Heck kleben, um mit dieser kulturellen Praxis vertraut zu sein: als Esel im Krippenspiel, mit Handpuppen hinter einem gespannten Laken, in einem Sketch auf der Hochzeitsfeier der Nachbarn – so gut wie jeder hat schon mal Theater gespielt oder gesehen. Dass es auch in beruflichen und sozialen Alltagssituationen die Notwendigkeit gibt, sich zu verstellen, seinen Ausdruck zu regulieren und zu kontrollieren oder etwas vorzuspielen, während andere dies beobachten, ist ein praktisches Wissen, über das man verfügen kann, ohne die einschlägige Publikation von Erving Goffman (The Presentation of Self in Everyday Life, 1959, dt. Wir alle spielen Theater,1969) zur Kenntnis genommen zu haben. Und wer 2010 nach Oberammergau pilgert, kann bei den Passionsspielen erleben, wie überzeugend Laien in einem professionellen Rahmen agieren können. Genau genommen sind Laien seit 2500 Jahren Träger des Theaterwesens in Europa. In den Chören antiker Tragödien engagierten sich Bürger der Polis; an den öffentlichen Orten des Mittelalters, der Kirche und dem Marktplatz, tummelten sich Handwerker, Geistliche und ihre Schüler auf Bretterbühnen, die nicht nur die Welt, sondern auch Himmel und Hölle bedeuten sollten. Erst im 16. Jahrhundert tauchen in Italien professionelle Truppen auf, die unter dem Namen „Commedia all’ improviso“ Formen des Improvisationstheaters kultivierten, die heute unter |248|der Bezeichnung „Commedia dell’Arte“ bekannt sind.2 Im elisabethanischen England entstehen wenig später die kommerziell betriebenen Theater, in denen die Stücke Shakespeares von Profis aufgeführt werden. Wandernde Schauspieltruppen verbreiten auch im Mitteleuropa des 17. Jahrhunderts die Praxis des kommerziellen Betreibens von Theaterunternehmungen. Dabei geht das Konzept des heutigen Berufsschauspielers aus dem literarischen Theater des 18. Jahrhunderts hervor. In der Praxis setzt es sich erst seit dem 19. Jahrhundert durch. Nur allmählich verbreitet sich nämlich die Auffassung, dass das Schauspielen ein veritabler Beruf ist, der erlernt werden kann, sozial akzeptiert wird und seine Ausübenden ernährt.

Dass ein Schauspieler eine geregelte akademische Ausbildung an einer Hochschule erhält, die er durch staatliche Prüfungen nachweisen muss, ist erst im 20. Jahrhundert der Regelfall. Bis dahin führte der Weg auf die Bühnen die Einsteiger nicht durch Module und Prüfungskommissionen, sondern durch die Vor- und Hinterzimmer der Theater, in denen man antichambrierte, um sich dienstbar zu machen und so vielleicht an kleine Rollen zu kommen. Flankiert wurde dieser Learning-by-doing-Bildungsweg, den Goethes Wilhelm Meister zumindest literarisch adelte, durch kostenpflichtige Privatschulen oder dozierende ältere Schauspieler, die ihren zahlenden Eleven mit Rat und Tat oder zumindest doch mit lustigen Anekdoten aus dem Theaterleben weiterhalfen. Es muss also nicht verwundern, dass der wichtigste Schauspiellehrer des 20. Jahrhunderts selbst Autodidakt war: Konstantin Stanislawski. Doch als Laienspieler hätte sich der russische Theatermann wohl nicht bezeichnet, gab es doch im 19. Jahrhundert einen eleganteren Namen für das begeisterte Spiel von Dilettanten: Liebhaber-Theater.

Nicht ausgebildete Spieler waren im Theater also immer mit von der Partie. Gerade in Zeiten, in denen der Schauspielstil in tradierten Konventionen und Normierungen zu erstarren drohte, konnten die mitunter belächelten Auftritte von Laien und Halbprofis wesentliche Impulse für die Innovation neuer Spielstile liefern. Da ungebildete Körper auf der Bühne also auch eine Provokation neuer Darstellungsweisen sein können, wurden wichtige Phasen des Theaters immer auch durch Dilettanten mitgeprägt. |249|Als beispielsweise in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die damals neuen ungewohnten Dramen des Naturalismus auf Interesse stießen, war sehr schnell klar, dass diese Texte mit der an Hoftheatern üblichen idealisierenden Darstellungspraxis und deklamatorischen Sprechweise nicht adäquat verkörpert werden konnten. Und es war eine Amateurtruppe, die der theaterbegeisterte Buchhalter André Antoine 1887 unter dem Namen „Théâtre-Libre“ für die Inszenierung dieser ungewohnten Texte um sich scharte. Die Freizeitschauspieler in diesem ersten europäischen Off-Theater vermochten nicht zuletzt deshalb eine neue Form von Natürlichkeit zu zeigen, weil sie die damaligen Maximen konventioneller Schauspielkunst nicht beherrschten.3 Sie konnten sich so Fehler leisten, für die jeder Schauspieler an der Comédie Française vor Scham im Boden versunken wäre, wie etwa das verpönte Spiel mit dem Rücken zum Publikum. In der Folge entstand so eine psychologisch-realistische Spielweise, die auch heute noch für viele Schauspieler und Zuschauer das Muster für Schauspielkunst schlechthin ist.

Exzess und Unterbietung

Der historische Befund und die aktuellen Vorgänge im zeitgenössischen Theater zeigen, dass das Verhältnis zwischen dem professionellen Schauspielen und dem Laienspiel vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Zu revidieren ist die Ansicht, dass Laien auf der Bühne im Prinzip dasselbe machen wie Profis, nur eben nicht über die notwendigen (technischen) Mittel verfügen und so bestenfalls charmant scheitern können. Vielmehr sollte auch umgekehrt bedacht werden, dass Laien den Profis womöglich etwas voraus haben. Dass man auf der Schauspielschule bestimmte Techniken erlernt, könnte nämlich damit einhergehen, dass man andere Fähigkeiten dabei verlernt oder sie sich abtrainieren muss. Was können Laien oder worüber verfügen sie, was Profis nicht oder nicht mehr zu Gebote steht?

Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, soll der Begriff Laienspiel nicht verschämt ad acta gelegt werden, vielmehr gilt es, die so bezeichnete kulturelle Praxis ernst zu nehmen und genau hinzugucken, was Laien mit sich und ihren Zuschauern machen, um die These zu verfolgen, dass man |250|bei der Aufführung von Laien etwas Elementares über das Theater als ein kulturelles Modell erfahren kann. Ausgangspunkt soll die folgende Beschreibung sein:

In einer theaterpädagogischen Übung werden die Darsteller, die weder über Stimmbildung verfügen noch Körpertraining kennen, aufgefordert, eine kleine Soloszene eigenständig zu erarbeiten und zu zeigen. Für manchen der Teilnehmer ist es die erste Bühnenerfahrung dieser Art. Eine der so entstandenen Szenen hat folgendes Ende: Die Darstellerin geht, nachdem sie einen Text gesprochen hat, erst frontal auf das Publikum zu, marschiert dann rechts an der Rampe entlang an den Zuschauern vorbei, schlägt sogleich einen weiten Bogen, der die ganze rechte Bühnenhälfte durchmisst, und geht schließlich hinten links durch eine Bühnentür ab. Mit Nachdruck setzt sie dabei ihre Schritte und macht deutlich, dass dies ein souveräner Abgang sein soll, den sie im anschließenden Auswertungsgespräch so kommentiert: „Ich wollte einfach schnell hinten links abgehen.“ Gemacht hatte sie allerdings ziemlich genau das Gegenteil. Der vermeintlich einfache Abgang war zu einem widersprüchlichen, aber mit umso mehr Emphase gezeigten Vorgang geworden. Die Darstellerin war nicht nach hinten, sondern nach vorne gelaufen; sie war nicht einfach zur Bühnentür links gegangen, sondern hatte einen völlig überflüssigen Halbkreis rechts abgeschritten, als müsse sie erst Schwung holen, um schließlich zu verschwinden. Dieser Anlauf wurde durch eine Art Überschusshandlung anschaulich, die Laienspiel häufig kennzeichnet und bei Zuschauern das unangenehme Gefühl hinterlässt, dass hier des Guten zu viel getan wird. In jener Übung wiesen viele der gezeigten Szenen solche zwecklosen und gleichwohl nachdrücklichen Überschusshandlungen auf. So brachte eine andere Darstellerin für ihre Szene Schuhe und Putzzeug mit auf die Bühne, um Schuheputzen zu zeigen. Wiederum wurde eine alltägliche Handlung zum Gegenstand der Szene, die aber in der Durchführung der Darstellerin zu einem übertriebenen zwecklosen Tun gerann. Sie nahm den Schuh in die eine Hand und führte die Bürste in weit ausholenden Armbewegungen am Schuh vorbei, ohne diesen zu berühren. Klar, dass der Schuh bei dieser theatralischen Wäsche nicht sauber wurde, obwohl der ganze Vorgang mindestens so viel Zeit in Anspruch nahm wie das reale Putzen der Schuhe gedauert |251|hätte. Doch real durfte es für die Darstellerin eben nicht sein, denn dieses „nicht echte Putzen“ markierte für sie den Übergang von einem alltäglichen Tun zu einem theatralen Vorgang. Für viele Laien wird der Akt der Darstellung erst durch diese unwillkürliche Übertreibung und ausdrückliche Zwecklosigkeit zu Theater. Stanislawski hätte dieses Verhalten als Theaterlüge bezeichnet. In seinem Buch Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst lässt er einen irritierten Schauspielanfänger nach einer Übung folgendes Credo des Dilettanten aussprechen: „Beine, Arme, Kopf, Körper gehorchten zwar, fügten aber von sich aus gegen meinen Willen noch etwas hinzu, eine völlig überflüssige Übertreibung. Ich brauchte nur ganz natürlich den Arm in den Schoß zu legen, da bekam er plötzlich einen verkrampften Knick […]. Seltsam! Ein einziges Mal erst bin ich auf dem Theater aufgetreten, die ganze übrige Zeit habe ich ein normales menschliches Leben geführt, und doch fiel es mir unvergleichlich viel leichter, nicht wie im Alltag, sondern theatralisch unnatürlich auf der Bühne zu sitzen.“4

Aus künstlerischer Perspektive kann man über derlei dilettantisches Treiben die Nase rümpfen, wobei wiederum Stanislawski der Stichwortgeber sein kann, denn er forderte, „daß die Handlung auf der Bühne innerlich begründet, logisch, folgerichtig und in der Wirklichkeit möglich sein muß.“5 Nur so könne aus der Theaterlüge eine wahrhaftige Szene werden. Logik und Folgerichtigkeit ließen die beschriebenen Handlungen nun gerade vermissen: Der Gang über die Bühne war unlogisch; das Schuheputzen blieb folgenlos.

Nun kann eigentlich (fast) jeder seine Schuhe putzen. Das Durchführen solcher alltäglicher Handlungen auf der Bühne müsste eigentlich die Paradedisziplin von Laien sein, doch ausgerechnet dabei kommen sie an eine Grenze, nämlich die unsichtbare Demarkationslinie zwischen einem Tun und dem Zeigen dieses Tuns. Der banale Vorgang erscheint im Theater von Laien dergestalt transformiert, dass selbst ausgeglichene und kontrollierte Mitmenschen zu außergewöhnlichen Verzerrungen und Übertreibungen animiert werden.

So bringt der dilettantische Überschuss, der Schwung des Augenblicks, eine einfache Handlung auf die schiefe Bahn, macht sie schräg, übertrieben |252|und überdreht. In diesem Verhalten kann man aber auch eine Art Stilisierung erkennen. Die Bewegungen werden eben nicht einfach gemacht, sondern ausdrücklich hervorgebracht und gezeigt und dabei geformt bzw. überformt. Die Darsteller übertreten damit die Normen und Konventionen, die ihr alltägliches Verhalten regulieren. Dieses Hinaustreten über etwas oder sich selbst bezeichnet man als Exzess. In diesem Sinne können Laien auf der Bühne exzessiv sein. Auch wenn dies dilettantisch ist, so hat es doch insofern Methode, als dass sich für die Auftritte von Laien zwei stereotype Darstellungsmuster beschreiben lassen:

Das eine Extrem, das man vom Schul- bis zum Bauerntheater beobachten kann, ist, dass sprachlicher Text und körperliche Bewegungen sich stets entsprechen und einander bestätigen müssen, d.h. der Körper muss mit möglichst eindeutigen Gesten bebildern, was der Text sagt. Insbesondere Pronomen („Ich“, „Du“, „Da“, „Hier“) werden gerne mit deutlichen Zeigebewegungen untermalt (Luftmalerei). Das andere Extrem hingegen ist, dass zwischen körperlichen und sprachlichen Zeichen gar kein sinnvoller oder zumindest gestalteter Zusammenhang erkennbar wird. Die Körpermotorik vermag zwar einzelne Bewegungsimpulse auszulösen, welche durch die Extremitäten angezeigt werden, doch diese Bewegungen weisen keinen vermittelten Zusammenhang zu einander, zur Handlung oder zum Text auf, erscheinen unmotiviert, nicht kontrolliert und werden häufig gar nicht zu Ende geführt (Laiengezappel). Auffallend ist auch, dass Laiendarsteller bevorzugt eine Handlung fokussieren, was sie für parallele oder gar entgegengesetzte Aktionen unempfänglich macht. Deutlich wird dies, wenn Sprechhandlungen und Körperhaltung klar voneinander abgesetzt werden. Dabei darf immer nur einer auf der Bühne etwas machen oder sagen, wobei die übrigen Darsteller auf ihren Einsatz warten. Während man im Alltag immer häufiger zu Multitasking-Operationen angehalten ist, zeichnet sich die phlegmatisch wirkende Aktivitätsreduktion von Laien auf der Bühne durch eine Segmentierung von Handlungsabläufen aus, die Konzentration herzustellen vermag.

Die Darsteller erfahren durch die Bühnensituation eine Transformation, die keine bewusste stilistische oder künstlerische Entscheidung ist, sondern der spezifischen Aufführungssituation des Theaters geschuldet bleibt. Die |253|gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern konstituiert eine außerordentliche Wahrnehmungskonstellation, die trotz der Geprobtheit der Abläufe ein gehöriges Maß an Kontingenz mit sich bringt. Was dabei zwischen Bühne und Publikum konkret passiert, steht nicht in der Verfügungsgewalt von Regisseuren oder Dramatikern, sondern ist dem einzelnen Moment überantwortet, d. h. auch die Darsteller selbst wissen nicht unbedingt, was sie gerade tun oder gleich tun werden. Das gesamte Register physiologischer Schamreaktionen wird spürbar und zeigt, was die Aufführungssituation aus den Beteiligten machen kann. Hierin liegt die kulturelle Macht von Aufführungen, dass sie die Darsteller transformieren und zwar zunächst nicht in eine literarische Rolle, sondern in einen außerordentlichen Zustand, der (negativ gesprochen) vernünftige Menschen außer Stande setzt, alltägliche Handlungen zu vollziehen, ohne diese zu übertreiben oder sich zu verbiegen bzw. (positiv gesprochen) die Darsteller eine Ausdrucksform finden lässt, durch die sie über sich hinausgehen und konventionelle Verhaltensnormen exzessiv übertreten, indem sie ihre Bewegungen ausstellen, überformen und zeigen.

Wie im professionellen Theater ist der schauspielerische Auftritt auch im Laienspiel zunächst ein körperlicher Vorgang. Der Körper des Schauspielers ist Voraussetzung sowie primäres Medium des Ausdrucks und zugleich von einer Materialität, die jede Darstellung begrenzt und ihr einen Widerstand entgegenstellt. Das Ideal der Schauspielkunst seit dem 18. Jahrhundert war es, diese immanente Widerständigkeit zu beherrschen und sie schon gar nicht die Zuschauer merken zu lassen. So wurde Schauspielen als eine Technik beschrieben, die erlernt werden kann. Die von Stanislawski beschriebene psychophysische Wechselwirkung von Innen und Außen zielt gerade darauf ab, den Körper des Schauspielers transparent auf innere Vorgänge zu machen, was sein Handeln nachvollziehbar werden lässt. Perfekte Schauspieler haben dabei ihren Körper zu beherrschen wie Musiker ihre Instrumente. Die harmonische Instrumentalisierung durch technische Beherrschung erfährt durch die nicht perfekten Auftritte von Laien einen disharmonischen Beiklang. Ihre Körper sind nicht ausschließlich beherrschbare Ausdrucksmedien und virtuose Körperinstrumente, sondern führen den Eigensinn und die Widerständigkeit des Körpers vor, der eben nicht |254|nur Mittel, sondern auch Hindernis sein kann. Das schauspielerische und gesellschaftliche Ideal der Kontrolle und Beherrschbarkeit des Körpers wird damit subversiv unterwandert.

Diese Differenz von Laienspiel und professionellem Schauspielen gilt in erster Linie für jene Ästhetik, die auf eine psychologisch-realistische Figurendarstellung ausgerichtet ist. Dabei hat der Schauspieler eine literarische oder zumindest textuell fixierte dramatische Rolle so zu verkörpern, dass in der Perspektive der Zuschauer eine homogene Figur entsteht, die sich durch einen individuellen Charakter auszeichnet, dessen Handlungen und Gefühle möglichst nachvollziehbar sein sollen. Für diese Verlötung von Rolle und Schauspieler zu einer Figur durch den Körper, die Stimme und das gesamte Ausdrucksrepertoire werden professionelle Schauspieler in ihrer Ausbildung vorbereitet. Diese Auffassung psychologisch-realistischer Darstellungsweise ist nicht nur das Leitbild vieler Schauspielschulen, sondern auch eine Art Grundmuster oder Paradigma für viele Laiendarsteller, das sich in die Faustregel fassen ließe: Theater ist dann perfekt, wenn die Zuschauer der Differenz von Darsteller und dargestellter Figur nicht gewahr werden. Doch dieser Spalt zwischen Schauspieler und Rolle, der häufig der Knackpunkt beim Auftritt von Laiendarstellern ist, kann auch ein kreativer Schauplatz werden. Inzwischen ist deshalb auch das Schultheater nicht mehr das, was es einmal war. Längst haben postdramatische Verfahren in Aulen und Klassenzimmern Einzug gehalten, wobei das prekäre Verhältnis von Darsteller und Rolle nicht kaschiert, sondern ausgestellt und thematisiert wird. Die Beziehungen von Text und Körper, Rollen- und Darstellerbiografie, Akteur und Publikum werden in szenischen Versuchsanordnungen in einer Weise auf die Probe gestellt, von der sich manches Stadttheater eine Scheibe an Experimentierlust abschneiden könnte. Ein probates szenisches Mittel ist etwa der Einsatz von Mikrofonen auf Stativen geworden. Wenn sich ein jugendlicher Darsteller vor einem Mikrofon aufbaut, muss es keineswegs darum gehen, seine stimmlichen Defizite technisch auszugleichen, vielmehr wird dem Darsteller am Mikrofon eine Körperhaltung und ein Sprechgestus ermöglicht, der ihm vertraut ist und das Zappeln und Luftmalen von vornherein unterbinden kann. Manch jugendlicher Romeo wirkt im Habitus eines medialen (Pseudo-)Popstars an der Rampe souveräner oder gar |255|natürlicher, als wenn er vor einer klapprigen Balkonkulisse seinen Text schmachtend in den 1. Stock sprechen würde.

Der Auftritt von Laien macht Menschen so als soziale und kommunikative Wesen erfahrbar, die, indem sie sich anderen zeigen, über sich hinausgehen und dabei Defizite nicht nur kenntlich machen, sondern auch lustvoll die Lücken ausschreiten, die sich auftun, wenn man größer oder anders sein will, als man ist. Indem Laien im dilettantischen Exzess zu weit gehen, kommen sie und ihre Zuschauer auch an die Grenze alltäglicher Konventionen und Verhaltensgebote. Der Referenzrahmen für diese Praxis des Laienspiels ist nicht nur die professionelle Schauspielkunst der institutionalisierten Theater, sondern ihn bilden auch die alltäglichen Inszenierungsweisen und ihre massenmedialen Abbilder. Nicht zuletzt deshalb vermag der dilettantische Exzess von Laien einen mitunter schrecklich sympathischen Kontrapunkt zur allzu perfekten Inszenierung unserer Umwelt und sozialen Sphäre zu setzen.

 

Jens Roselt ist Autor und Übersetzer. Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Universität Hildesheim.

1

Vgl. Miriam Dreysse und Florian Malzacher (Hg.): Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007.

2

Zur Entwicklung der professionellen Schauspielkunst in Europa siehe: Friedemann Kreuder: „Schauspieler“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 283 – 286.

3

Vgl. André Antoine: Meine Erinnerungen an das Théâtre-Libre, Berlin 1960, S. 60.

4

Konstantin S. Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil 1, Berlin 1996, S. 44.

5

Ebd. S. 53.

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