Gespräch
Bei Sonnenaufgang
Joanne Leighton im Gespräch mit Anne Kersting in der Planungsphase und kurz vor Abschluss der 365-Tage-Performance „Die Türmer von Freiburg“
von Anne Kersting und Joanne Leighton
Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)
Assoziationen: Performance Baden-Württemberg

„Wer bin ich in dieser Stadt, und welchen Platz nehme ich in ihr ein?“ Unter dieser Leitfrage spielt „Die Türmer von Freiburg“ mit der Schnittstelle von öffentlichem Raum und Theater: Dank deines Projekt eröffnen wir als Theater eine neue Spielstätte auf dem Dach des Theaters: Bewohner Freiburgs sind dazu eingeladen, sich als Akteure innerhalb einer Stadt zu definieren. Für einen Zeitraum von einem Jahr – vom 20. Juni 2015 bis zum 19. Juni 2016 – lässt du einen Turm auf dem Dach des Theaters errichten, der täglich zur Sonnenaufgangs- und zur Sonnenuntergangsstunde je einen Menschen aus der Stadt beherbergt und ihm einen Perspektivenwechsel anbietet. Der hochgelegene Turm ist Rückzugsort und Bühne zugleich: Von oben blickt der Türmer oder die Türmerin auf die Stadt, von unten blicken die Passanten auf jenen Menschen, der gerade im Turm verweilt. Die Wechselseitigkeit des Blickes und die Gegenüberstellung der Standorte gilt der Frage: Kann Selbsttätigkeit Gemeinschaft hervorbringen und welche temporäre Gesellschaft generiert der Blick auf die eigene Stadt? In deinem Projekt trifft der Stillstand des zurückgezogenen Türmers auf die Bewegung der Stadt und vice versa. Wie würdest du dein Vorhaben aus choreografischer Sicht beschreiben, zu welchen Bewegungen lädt es ein?
Es handelt sich primär um eine Bewegung der Wiederholung. Es ist eine Bewegung, die sich allmählich in die Stadt und auch in die Zeit einschreibt. Die Bewegung gleicht einer Welle, aber auch einem Ritual, das sich stets wiederholt. Der Vorgang ist immer derselbe, nur die Menschen sind andere. Aus choreografischer Sicht interessiert mich diese Bewegung, die Bewegung derer, die als Türmer über die Stadt wachen, ihre Präsenz. Es gibt keinen Stillstand, jeder Türmer ist in Bewegung, mit seinen Gedanken, mit seinen Eindrükken, mit dem Dialog, den er führt mit dem Raum, in dem er sich befindet, und mit der Zeit, die er anders erfährt. Es gibt nichts Statisches. Das Projekt bietet jedem Einzelnen einen Rahmen, sich einen eigenen Freiheitsraum zu schaffen.
Wie würdest du „Die Türmer von Freiburg“ aus einer soziologischen Sicht beschreiben? Der Türmer in seinem Turm, das nennst du ja Schutzraum. Wen beherbergt dieser Turm, und wen beherbergt die Stadt, gibt es da einen Unterschied? Oder noch mal anders gefragt: Welchen Schutzraum bieten uns heutzutage Städte?
Wo befinden wir uns? Auf welchem und auf wessen Terrain? Wo ist der Standort des Zuschauers? Auf der Bühne, auf dem Dach des Theaters, im öffentlichen Raum? Die Grenzen lösen sich schnell auf, wenn man nicht auf der Bühne arbeitet. Mit diesem Projekt stelle ich mir explizit die Frage nach dem Status eines wachenden Menschen. Schaut er sich das Spektakel der Stadt an, oder ist es die Stadt, die zur Bühne des Türmers hochschaut? Der Status des Freiburger Türmers ist deshalb interessant, weil er keine berufliche Identität hat. Der Türmer schafft die Performance, er ist aber kein professioneller Performer. Die Türmer sind allesamt Stadtbewohner, die den Bühnenraum umdrehen, weil sie gleichzeitig Macher und Zuschauer sind. Das Dach des Theaters wird quasi parasitär besetzt, die Grenzen des Theaters werden verschoben und vermischt. Und schon haben wir sie, unsere soziale Matrix. Die Grenzen werden fließender, bewegter, dennoch werden sie nicht aufgehoben, schließlich müssen noch jede Menge Rollen gespielt und erfüllt werden.
In der Utopie, die das Projekt darstellt, besteht für mich ein großer Unterschied zwischen der Stadt und dem Wächterturm. Denn im Gegensatz zum öffentlichen Raum gibt es im Türmerprojekt eine Person, über die wir noch gar nicht gesprochen haben: den Begleiter. Jeder Türmer wird von einem Begleiter oder einer Begleiterin zum Turm gebracht und wieder aus dem Theater geleitet. Wie würdest deren Rolle beschreiben?
Der Begleiter ist da, um über den Türmer zu wachen. Er sorgt dafür, dass es ihm gut geht und er den Weg findet. Er übernimmt Verantwortung für den Türmer und fragt sich, wie man grundsätzlich für jemanden Verantwortung übernimmt. Wachen, um auf jemanden aufzupassen. Das ist die Rolle des Begleiters, aber auch die des Türmers. Der Türmer, der Nachtwächter, der Wächter – jeder von ihnen blickt auf eine lange Geschichte zurück und hatte in der Gesellschaft bereits viele Funktionen. Ich mag die Ambiguität dieser Funktion im Laufe ihrer Geschichte. Werden wir bewacht, überwacht, oder werden wir begleitet? Schaut man bewachend hin, oder schaut man zu, als hätte man ein Kind vor sich, das gerade einschläft? Jedenfalls bist du beim Türmerprojekt mit deinen Gedanken nicht allein. Du öffnest dich dem Anderen, der Stadt, und du bist in Begleitung. Die Beweggründe, beim Türmerprojekt mitzumachen, sind rein persönlicher Natur. Die meisten Menschen wollen auf ihre Stadt blicken, ihren Wohnort, teilweise auch Geburtsort. Türmer zu sein ist ein Gemeinschaftsakt, denn es geht immer um den Blick auf den Anderen, auch im Bereich des Spektakels: Die Performance ist zweideutig. Man schaut der Stadt zu und wird gleichzeitig von ihr gesehen.
Ich muss dabei oft an die Situationisten denken, die in den sechziger Jahren an der Schnittstelle von Kunst und Kapitalismuskritik operierten und ihren Alltag zum künstlerischen Handeln erklärten. Sie unternahmen sogenannte dérives, zu Deutsch „Umleitungen“, die darin bestanden, die Stadt anders zu erkunden. Sich, entgegen jeglichem Produktionszwang, ganz und gar der Erfahrung des Nichtproduzierens hinzugeben und sich treiben zu lassen. Würdest du das Türmerprojekt als dérive bezeichnen? Um welche urbane, aber auch soziale Erkundung handelt es sich?
Die erste dérive ist die des Autors. Natürlich bin ich die Autorin dieses Projekts, weil ich es konzipiert habe, aber die Gedanken und die Interpretationen des wachenden Türmers sind sein Kern. „Die Türmer von Freiburg“ verschieben die Parameter des Produzierens: Der Ort, der Interpret, der Autor, der Laie, der professionelle Schauspieler – all diese Funktionen geraten ins Wanken; es gibt keine Ausbildung für Türmer. Und, das ist mir sehr wichtig, das Projekt erfolgt in Stille. Es ist mitten im öffentlichen Raum, und es handelt dennoch still. Wohl eine der wichtigsten dérives.
Vor über einem Jahr, als wir das Projekt gemeinsam vorbereiteten, sprachen wir oft von der Bewegung und von den Beweggründen der Türmer. Wir antizipierten Türmer und Türmerinnen, die sich für eine Stunde aus der Stadt herausziehen, zeitlich wie räumlich aus ihr hinaustreten, um eine andere Perspektive einzunehmen. Jetzt, da das Projekt zu Ende geht, habe ich das umgekehrte Bild vor Augen: Die Türmer gehen in die Stadt zurück, und ich frage mich, was jeder und jede Einzelne aus der Türmerstunde mitnimmt und wieder in die Stadt zurückträgt.
Sicherlich jeder etwas völlig anderes, aber ich glaube, dass viele Türmer ihre physische Erfahrung in die Stadt hineintragen. Performativ gesehen, geht es bei den Türmern darum, einen körperlichen Zustand herauszufordern. Einen Zustand, den man mit hinunternimmt in die Stadt. Mit diesem Zustand meine ich etwas rein Performatives: Ich begebe mich in etwas hinein, erfahre darin Präsenz, halte sie eine Stunde lang und gehe wieder raus.
Ich würde gerne mit dir über die Idee von Zeit sprechen. „Die Türmer von Freiburg“ stellt zeitliche Parameter auf den Kopf. Die Türmerzeiten richten sich nach Sonne und Mond und haben rein gar nichts mit der Taktung sonstiger kultureller Angebote in einer Stadt zu tun. Das Projekt, und da weichst du nicht ab, geht ein Jahr lang, keinen Tag mehr, keinen Tag weniger.
Das stimmt, 365 Tage, ohne Verlängerung. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, dass das Projekt endet, mit allem, was zu einem Ende gehört. Der Turm kommt wieder runter, das Material – das Holz des Turms – wird an andere Menschen weitergegeben, die wiederum etwas Neues damit schaffen. Für mich hat das Türmerprojekt wenig mit Dauer zu tun, sondern mit einer anderen Zeitordnung, denn in einem Jahr stecken noch ganz andere Zeitfenster: 365 Tage, 4 Jahreszeiten, 12 Monate, 52 Wochen; die Parameter sind da variabel. Aber unabhängig von der Dauer dreht sich das Projekt primär um Präsenz, um Gegenwart im Hier und Jetzt. Das ist das Prinzip einer jeden Performance, denn sobald du sie vollziehst, verschwindet sie gleichzeitig. Keine Dokumentation, keine Spur der Welt ersetzt die Performance, das Dokument ist nur ein Archiv. Deshalb ist es mir wichtig, diesem Projekt ein klares Ende zu setzen. Es geht ums Verschwinden, wie in jeder Performance. Jede Verlängerung, jede Wiederholung hätte was Künstliches.
Antizipierst du Spuren, Fiktionen, Geschichten für die Zeit nach „Die Türmer von Freiburg“?
Der Begriff Fiktion bringt es auf den Punkt. Denn: Ja, man kann auch das Projekt als eine Manufaktur von Geschichten, von immer neuen Geschichten denken. Die darin vorkommenden Protagonisten sind nicht nur Türmer, sie sind Bürger. Wir sind immer noch damit beschäftigt, das Projekt in weiteren Städten aufzuführen, die Spuren hören nicht auf, und die Teilnahme an einem Türmerprojekt in einer anderen Stadt wäre eine weitere Erinnerung. Aber noch mal zum Begriff der Spuren: Es gibt sie, weil etwas geschehen ist, wir sind mitten in den Parametern von Live Art.