Auftritt
Kassel: Die Wirklichkeit als Spiegelwelt
Staatstheater Kassel: „Das blaue Licht / Dienen“ (UA) von Rebekka Kricheldorf. Regie Schirin Khodadadian, Ausstattung Ulrike Obermüller
Erschienen in: Theater der Zeit: Dickicht der Städte – Shermin Langhoff über die Dialektik der Migration (04/2017)
Assoziationen: Staatstheater Kassel
Rebekka Kricheldorf darf als eine der produktivsten Vertreterinnen ihres Fachs gelten. Mit beeindruckender Zuverlässigkeit schreibt die preisgekrönte Theaterautorin Stück um Stück – zumeist nicht nur eines im Jahr – für Bühnen im In- und Ausland. Ihr bester Kunde residiert jedoch in Nordhessen: Bereits zum sechsten Mal kam am Kasseler Staatstheater ein Auftragswerk der in Berlin lebenden Autorin zur Uraufführung. Schirin Khodadadian brachte „Das blaue Licht / Dienen“ auf die Studiobühne im Fridericianum.
Das Stück mit dem etwas sperrigen Titel ist – nicht zum ersten Mal im Kricheldorf‘schen Oeuvre – eine sehr freie und sehr moderne Bearbeitung eines Grimm‘schen Märchens. „Rosa und Blanca“ hieß 2006 ihre erste Kasseler Auftragsarbeit, als Vorlage diente ihr die Geschichte von Schneeweißchen und Rosenrot. Diesmal nimmt sich Kricheldorf eines deutlich weniger bekannten, aber dafür umso gemeineren Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm an: „Das blaue Licht“. Ein Soldat kehrt verwundet aus dem Krieg zurück, und weil er als Invalide nicht mehr kämpfen kann, wird er vom König fallen gelassen. Weder Sold bekommt er noch Anerkennung. Dann erscheint ihm durch das titelgebende Licht ein schwarzes Männchen und führt ihn auf den Pfad der Rache. Der Soldat mordet und meuchelt und entführt – und wird dafür am Ende nicht bestraft, sondern mit dem Königreich und der Prinzessin belohnt.
Traumatisierte Kriegsheimkehrer, die sich in der zivilen Welt nicht mehr zurechtfinden. Demütigung und Ausgrenzung, die zu Gewalt (oder zu Gewaltfantasien) führen. Es wäre nicht schwer gewesen, zu einer eher schlichten Aktualisierung des Märchenstoffs zu gelangen. Doch „Das Blaue Licht / Dienen“ ist intelligenter. Eine graue Mauer beherrscht die Bühne. Der Soldat (Aljoscha Langel) tastet sich an der Mauer entlang, klopft, lauscht, probiert die ersten Sätze des Märchens aus wie eine Beschwörungsformel. Dann öffnet sich die Wand und nimmt ihn auf in den schimmernden Guckkasten einer Spiegelwelt, bevölkert von verschrobenen Gestalten, die irgendwie aus dem Märchenkosmos der Grimms stammen – und irgendwie auch nicht.
Die Hexe ist eine sexlüsterne, ausbeuterische Rentnerin in sehr fleischfarbener Kleidung (Rahel Weiss), die entführte Prinzessin (auch Rahel Weiss) ein plüschiges Mädchen, verängstigt, verhuscht und, man muss es so sagen, ein wenig stulle. Der wunderbare Jürgen Wink mimt den Gastwirt als überdrehten Pazifisten und zeigt einen Gefängnisseelsorger, der wie eine Rabenkrähe auf Kokain den Soldaten umflattert und sich, unentwegt Popsongs zitierend, schließlich als der Teufel vorstellt: „Pleased to meet you, hope you guess my name, oh yeah.“ Schräg ist das und ziemlich irre.
Kricheldorf formuliert punktgenau, spielt mit Floskeln und Alltagssprache und bringt es sogar fertig, Wortungeheuer wie „Schamlippen-Lifting“ unterzubringen. Die Szenen brauchen kaum Requisiten und fast noch weniger Handlung, sie leben allein vom Wort. Die Inszenierung von Schirin Khodadadian formt daraus feine Kammerspielminiaturen, die trefflich amüsieren. Doch „Das Blaue Licht / Dienen“ ist mehr als nur komisch. Es geht um den Versuch, eine Erzählung für das eigene Leben zu finden, mit der sich leben lässt. Und von Wahrheiten, die es nicht im Singular gibt. „Das ist kein Rollenspiel, das ist die Wirklichkeit“, sagt die Hexe. Ja, schön – aber was ist das, die Wirklichkeit?
Ist der Soldat Opfer? Oder ist er Täter? War er als Kind ein ausgegrenzter Außenseiter? Oder einer, der keine Freunde brauchte, weil er selber stark war? Und wenn er vor der grausamen Realität in eine Märchenwelt flüchtet: Sind seine brutalen Gewaltausbrüche dann nicht trotzdem real? Und wer ist eigentlich das schwarze Männchen (Artur Spannagel)? Eine Fantasie, eine Psychose, der Soldat selbst? Und wer trägt hier die Verantwortung?
Neun Fragezeichen waren das jetzt. Die dazu passenden Ausrufezeichen muss das Publikum selbst finden. Denn Stück wie Inszenierung vermeiden jede Eindeutigkeit. Nur knapp zwei Stunden dauert die Aufführung, weit länger hält das Nachsinnen an. Aber Vorsicht: Bei den Fragen, die „Das blaue Licht / Dienen“ aufwirft, ist leicht stolpern. Und die Abgründe, die dazwischen lauern, haben Grimm‘sche Ausmaße. //