Theater der Zeit

Kolumne

Oceane Eleven

Rudern hilft – der Opernkomponist Detlev Glanert

von Ralph Hammerthaler

Erschienen in: Theater der Zeit: Abgründe des Alltäglichen – Das Staatstheater Braunschweig (06/2019)

Assoziationen: Debatte

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Einmal gestand ich ihm, dass es nur eine Sache gibt, die ich für größer halte als die Literatur, ich sagte: Ich wäre gerne Komponist.

Bei mir ist es umgekehrt, gab Detlev zur Antwort, ich wäre gerne Schriftsteller.

Letztens, als ich in der Deutschen Oper in Berlin die Uraufführung von „Oceane“ sah, der schon elften Oper von Detlev Glanert, kurz, Oceane Eleven, fiel mir dieses Gespräch wieder ein, und zwar in dem Moment, als gegen Ende das Orchester zu toben anfing, mit Windmaschine und allem, es tobte, weil der hassgeile Pastor seine Leidenschaften nicht zügeln konnte, weil er die schöne unnahbare Meerfrau ebenso hasste, wie er sie begehrte, also geil fand. Die ganze preußische Gesellschaft wurde von dieser ungebundenen, wild, aber wie privat tanzenden Oceane in Verwirrung gestürzt, sodass ihr, um sich vor der Fremden zu retten, nichts anderes übrig blieb, als sie zu verstoßen, weg mit ihr und der Ahnung, dass es jenseits der Etikette etwas unkalkulierbar Lebendiges gab, das sich nicht mal, was bei Frauen sonst immer klappt, von den glühendsten Liebesschwüren einfangen ließ. Das tobende Orchester im Ohr, dachte ich an den Kopf des Komponisten, der dieses Toben ja ganz für sich gehört haben musste, ehe er es notieren konnte. Und ich fragte mich, wie es Detlev dabei gegangen war. Um in diese Welt vorzudringen, darum wäre ich gerne Komponist.

Vielleicht ist Oceane gar kein Mensch, sag ich zu ihm, als wir ein paar Tage nach der Premiere zusammentreffen.

Doch, sie ist ein Mensch, behauptet er.

Und obwohl er sie geschaffen hat, nach einem Fragment von Theodor Fontane und dem Libretto von Hans-Ulrich Treichel, sag ich Nein, weil Oceane für mich das Leben an sich verkörpert, das ewige Werden und Vergehen, weshalb sie auch für den toten Fischer am Strand kein Mitleid aufbringt, der Tod ziehe nur vorüber, singt sie mit dem Wissen einer Schamanin. Für das unentwegt aufflackernde und verlöschende Herzglück der Menschen, für die Liebe, ist sie, selbst wenn sie darunter leidet, nicht zu haben. Denn sie selbst ist das Flackern, das Verlöschen, das Flackern, immer so fort.

Die schwedische Sopranistin Maria Bengtsson sang die Titelrolle. Detlevs Quintolen hatten ihr beim Einstudieren ein bisschen zugesetzt.

Na ja, sagt Detlev, die Töne folgen schnell einer auf den anderen, und sie liegen auch noch weit auseinander. Und das Metrum ist ungewöhnlich. Zwei Grundmetren sind uns vertraut, eins, zwei wie beim Gehen, oder eins, zwei, drei wie beim Herzschlag. Aber auch Quintolen, eins, zwei, drei, vier, fünf, kennen wir aus dem Alltag.

Hm, woher denn?

Vom Rudern.

Dass dieses Rudern gut zur Meerfrau passt, geht mir erst hinterher auf, aber sogleich fallen mir die Ruderclubs in Rheinsberg ein, wo Detlev seit Langem ein Häuschen hat, um ungestört von Berlin komponieren zu können. Im Winter heizt er mit Kohlen, und wenn der Winter sehr kalt ist, steht er nachts auf, um nachzulegen. In Rheinsberg, als ich dort Stadtschreiber war, haben wir uns kennengelernt, in einer langen Nacht im Ratskeller. Irgendwann sperrte Martin, der junge Wirt, die Wirtschaft zu, damit keiner mehr hereinkam (und wir nicht mehr hinaus). Endlich durften wir rauchen, und Martin stellte eine Flasche bayerischen Wodka auf den Tisch.

Berühmt geworden ist Detlev mit Literaturopern, „Solaris“, „Das Holzschiff“ oder „Caligula“. Er nimmt die älteren Stoffe, weil er in ihnen etwas Exemplarisches wittert, das uns heute noch angeht. Anders als zeitgenössische Werke, die, wie er findet, daran kranken, sich in gerade angesagten Einzelheiten zu verlieren, lassen die älteren den Blick aufs Ganze zu. Er sagt: Dadurch sehe ich den Wald, statt vor dem einzelnen Baum zu verharren.

Hast du, außer Musik, noch andere Obsessionen?

Ja, die Literatur, sagt er.

Seine Berliner Wohnung könnte auch die Wohnung eines Schriftstellers sein, so viele Bücher stehen dort. Die ungelesenen wandern, wenn er für sie Zeit gefunden hat, von einem Zimmer ins andere, zu den gelesenen. Es fallen die Namen von Dostojewski, Heinrich Mann, Émile Zola und Louis Aragon. Ganze Plots erzählt er aus dem Gedächtnis. Ich denke: Er will beim Lesen den Wald sehen.

Nichts Zeitgenössisches?

Klar doch, ich lese die Bücher meiner Freunde, Werner Fritsch, Treichel, Hammerthaler.

Nett gesagt. Aber das kann ich nicht verwenden.

Dann nimm Terézia Mora oder T. C. Boyle.

Sein Arbeitsrhythmus ist, nach elf Jahren in Italien, italienisch geprägt, von neun bis eins die erste Schicht, von vier bis acht die zweite. Die Noten schreibt er mit der Hand, gut zwanzig Bleistifte liegen gespitzt bereit, dazu Radiergummis, Lineale, Papier, seine Zigarillos und der Aschenbecher, Werkzeug für die Tintenreparatur, Scheren, Kleber, Mappen, Fotos … Hat er fünf bis sechs Versionen einer Partitur mit Bleistift geschrieben, atmet er durch und nimmt sich die letzte vor: mit Tinte. //

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