Entgrenzungen
von Wolfgang Engler
Erschienen in: Authentizität! – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern (03/2017)
Assoziationen: Debatte
Menschen drängen zur Fixierung hin und von ihr fort, sie exponieren ihr Selbst und verhüllen es, verleihen ihrem Innersten Ausdruck oder wahren das Caché und finden im Wechsel dieser Haltungen ihr fragiles Gleichgewicht. Die Haltungen auf die jeweiligen Verhaltenskontexte passgenau abzustimmen, ist Aufgabe der ‚Außenpolitik‘ der Individuen. In Funktion – Minister, Anwalt, Ärztin, Lehrerin – und gleichzeitig ‚man selber‘ sein zu wollen, unverstellt, so, wie man „wirklich“ ist, verrät eine beunruhigende Verunsicherung der Instinkte.
Wohl toleriert das funktionale Dasein im Postfordismus expressivere Selbstdarstellungen als vordem. Ein gewisses Maß an Offenheit, Einfühlungsvermögen und Sensibilität gilt als Ausweis zeitgemäßer Professionalität.19 Nur fungieren diese Eigenschaften gleichzeitig als Spieleinsätze in einem Wettbewerb, der Sieger und Verlierer produziert. Am besten fährt, wer Offenheit glaubwürdig ausstrahlt, andere ins Offene lockt und deren Mangel an Aufsicht auszunutzen weiß. Man kontrolliert seine Gefühle, panzert sich mit inszenierter Aufgeschlossenheit und münzt seine emotionale Intelligenz in Extraprofite um.20 Keine Freiheit ohne Preis, das ist die Regel; abgelebte Zwänge weichen selten, ohne dass neue sie ersetzen.
Der heutige Berufsmensch unterliegt, wie in der Vergangenheit auch, Zwängen rein funktionaler Natur und verwandelt diese in Selbstzwänge des Verhaltens. Das reibungslose Zusammenwirken Vieler verlangt die Dämpfung ungestümer Leidenschaften, das Zurückstellen von Akutwünschen...