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„Exklusivität interessiert uns nicht besonders“
Jessie Mill und Martine Dennewald sind die neuen Künstlerischen Leiterinnen des FTA - Festival TransAmériques in Montréal. Ein Gespräch mit Frank Weigand
von Jessie Mill, Frank Weigand und Martine Dennewald
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Kanada (09/2021)
Assoziationen: Akteure Nordamerika
Zum ersten Mal wird das FTA von einer Doppelspitze geleitet. Von außen betrachtet wird dadurch Kontinuität und Erneuerung kombiniert. Sind euch diese beiden Aspekte wichtig?
Martine Dennewald: Wir hatten schon vor ein paar Jahren die Idee einer gemeinsamen Künstlerischen Leitung als eine mögliche Antwort auf Fragen um Macht in Kunstinstitutionen. Wir wollten uns eigentlich für einen anderen Ort bewerben, doch wurde dieser Posten erst lange nach der Leitung des FTA frei. Also ging es ursprünglich weniger um Veränderungen innerhalb des Festivals als um ein grundsätzliches Hinterfragen.
Jessie Mill: Fast ein Jahr lang haben wir diskutiert, wie man ein Festival zu zweit gestalten könnte. Wir haben Fragen und Überlegungen miteinander geteilt, ebenso wie die spezifischen Herausforderungen unserer jeweiligen geografischen Kontexte, denn Martine lebte in Europa und ich in Kanada. Doch wir blickten beide eher in den außereuropäischen Raum, nach Asien, Südamerika, Afrika. Wir hinterfragten die existierenden Strukturen und wünschten uns Beziehungen auf Augenhöhe mit den Künstler:innen und Kolleg:innen.
Das FTA ist stark in seiner Stadt und ihren künstlerischen Gemeinschaften verankert. Wir sind uns dieses Erbes wohl bewusst. Wir versuchen, an den Geist der ersten Ausgaben des Festival de Théâtre des Amériques anzuknüpfen, das erst seit 2007, als es zum Festival TransAmériques wurde, auch Tanz präsentiert.
Wir wünschen uns einen längerfristigen Austausch mit den Künstler:innen. Die gegenwärtigen Produktions- und Präsentationsmodelle sind zeitlich stark komprimiert. Wir müssen die Art und Weise verändern, wie wir künstlerische Arbeit begleiten und wie wir koproduzieren. Außerdem liegt uns die Ausstrahlung des Festivals in Québec, Kanada und Nordamerika am Herzen. Wir stellen uns Residenzen in mehreren Städten und Dörfern vor und hoffen, dass es möglich sein wird, eingeladene Stücke nicht nur in Montréal zu zeigen. Exklusivität interessiert uns nicht besonders.
Während der Recherchen zu diesem Heft wurde deutlich, dass sich Kanada an einem Wendepunkt befindet. Es findet ein Generationswechsel statt, und im englischsprachigen Teil Kanadas werden zunehmend wichtige Positionen von nicht-weißen Personen besetzt, die zuvor keinerlei strukturelle Macht hatten. Wie positioniert ihr euch dazu?
Dennewald: Diese Öffnung ist ebenso dringend wie notwendig. Während meiner drei letzten Jahre als Künstlerische Leiterin des Festivals Theaterformen in Niedersachsen haben wir eine explizit diskriminierungskritische Politik implementiert. Genau wie das FTA präsentierte Theaterformen bereits vor meiner Zeit zahlreiche außereuropäische und viele Schwarze Künstler:innen. Wie stellt man es als von einer weißen Person oder einem weißen Duo geleiteten Organisation an, nicht hinter den Künstler:innen zurückzubleiben und hinter den gesellschaftlichen Fragen, die sie in ihren Arbeiten behandeln, zu stehen? Wie lässt sich eine adäquate Beziehung zwischen der organisatorischen Praxis und dem, was auf der Bühne passiert, finden? Das ist eine Arbeit, die sich durch alle Bereiche und Abteilungen des Festivals zieht, vom Personalmanagement zur Programmarbeit, von Führungsstrategien bis hin zur Zielgruppenarbeit.
2022 lässt sich ein internationales Festival nicht mehr so gestalten wie zuvor. Es gab überall im Kulturbereich Diskussionen über postkoloniale Machtstrukturen und ökologische Verantwortung. Zusätzlich haben fünfzehn Monate Corona-Pandemie den gesamten Kulturbereich weltweit existenziell infrage gestellt. Welche Auswirkungen hat all das auf das Festival?
Mill: Vieles, das wir bereits wussten, hat sich in den letzten Monaten verschlimmert: Die Prekarität der Künstler:innen, die Ausblendung der marginalisierten Randbereiche, die Missstände in unseren Produktionsweisen, unsere weltweite gegenseitige Abhängigkeit. Die Corona-Pandemie erinnert uns daran, dass eine Institution Krisenzeiten viel besser übersteht als einzelne Künstler:innen. Also ist es an der Institution, Risiken einzugehen, sich solidarisch zu zeigen. Unsere Verantwortung ist riesig.
Wir müssen unsere Praktiken hinterfragen und verändern und alles nur Erdenkliche tun, um unseren ökologischen Fußabdruck zu minimieren. Gleichzeitig haben die letzten Monate unsere Überzeugung verstärkt, dass es grundlegend wichtig ist, uns unsere Mobilität zu bewahren: Das Zirkulieren von Künstler:innen und ihren Arbeiten ist wesentlich für die Tanz- und Theaterszene, für ihre Vielfalt und Stärke. Die Begegnung mit etwas Lebendigem geschieht im Hier und Jetzt. Die Frage nach ökologischer Verantwortung findet ihren Sinn nur in einem intersektionalen Engagement, das alle Bereiche durchzieht, und im Kampf für soziale Gerechtigkeit.
Dennewald: Ich bin gerade nach Tiohtià:ke/Montréal gezogen und lerne den künstlerischen, gesellschaftlichen und akademischen Kontext erst kennen. Doch die Intersektion von kolonialem Kontext und Ökologie interessiert mich ganz besonders bei allem, was ich lese und von Indigenen Künstler:innen und Denker:innen lerne, wie aus den Büchern von Leanne Betasamosake Simpson oder den Stücken von Lara Kramer, um nur zwei Beispiele zu nennen. Gleichzeitig wollen wir Indigene Künstler:innen nicht auf ihre Identität reduzieren. Sie sind in jeder Hinsicht vollwertige Künstler:innen, die sich mit allen möglichen Fragestellungen beschäftigen. Der Dialog mit ihnen bereichert unsere Praxis, verändert unsere Art, zu arbeiten.
Das FTA ist zwar ein internationales Festival, findet aber in einem spezifischen lokalen Kontext statt: In einer Großstadt, die historisch stark mit dem Kampf zur Bewahrung einer französischsprachigen Québecer Identität verknüpft ist. Ihr gehört einer anderen Generation an als die bisherigen Künstlerischen Leitungen. Wie seht ihr diese Problematik heute?
Dennewald: Wir wollen das FTA als „polyglottes frankophones Festival“ begreifen, in einer Umgebung, die nicht zweisprachig ist, wie man glauben könnte, sondern vielsprachig. Die unterschiedlichen Indigenen Sprachen, etwa Innu, Mohawk und Anishinaabemowin, müssen auf den Bühnen präsent sein.
Mill: Martine und mir ist das Französische sehr wichtig. Für mich ist es eine der Sprachen, die ich spreche und für Martine eine der acht Sprachen, die sie beherrscht. Warum sollte man darauf bestehen, nur eine einzige Sprache zu sprechen? Ich gehöre einer Generation an, die nicht unbedingt zerrissen von den Identitäts- und Sprachkonflikten zwischen Québec und Kanada aufgewachsen ist, wie das noch bis in die 1990er Jahre der Fall war. Wir wünschen uns beide, dass die Sprachproblematik keine Last, sondern eine Stärke des Festivals sein soll. Wir wollen einer neuen Vielstimmigkeit zuhören, die zu unserer Generation gehört, die mobiler und auch stärker globalisiert ist. Natürlich versuchen wir auch, uns gegenüber unseren kanadischen Kolleg:innen zu verorten, mit denen wir mehr Austausch möchten. Als einzige offiziell französischsprachige Provinz Kanadas ist Québec von anglophonen Provinzen umgeben, die unseren amerikanischen Nachbarn zugewandt sind. Und das will was heißen! //