Theater der Zeit

Gespräch

Im Dauerzustand des (Un-)Fertigen

Der Dramatiker, Schauspieler und Regisseur David Hevia über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von mexikanischem und deutschem Theater im Gespräch

von David Hevia und Hugo Wirth

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)

Assoziationen: Akteure Nordamerika

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David Hevia, Sie haben in den 1990er Jahren am renommierten Theater an der Ruhr in Mülheim unter Roberto Ciulli gearbeitet, sind also ein Experte für einen deutsch-mexikanischen Vergleich. Beginnen wir beim Kern der Sache: der Ausbildung.

Das deutsche Theatersystem wird von staatlichen Schulen versorgt (wobei es auch Privatschulen gibt), und glücklicherweise existieren sowohl ein gemeinsames Bezugssystem als auch eine konkret umrissene Ausbildung. Der berufliche Werdegang eines Schauspielers ist klar definiert. Schauspieler ist ein anerkannter Beruf, zu dessen Ausübung eine Urkunde oder Zeugnis befähigt. In Mexiko hat jede Schule, die Schauspieler ausbildet, ein anderes, oft verwirrendes Bezugssystem. Ein Curriculum gibt es nicht. Es wird improvisiert; die Kriterien einiger Schulen sind eher wirtschaftlicher als künstlerischer Art; Schauspieler werden hauptsächlich fürs Fernsehen ausgebildet. Auch die Bezahlung von Theaterschauspielern ist unzureichend. Viele müssen deshalb auf Alternativen zurückgreifen, die ihr Theaterspiel oft negativ beeinflussen.

Die Kommunikation zwischen Publikum und Theaterschaffenden?

In Mexiko haben wir zwar ein breites Theaterangebot, aber nur eine geringe Nachfrage. Jeder kann Schauspieler sein, jeder kann Regie führen. Das Publikum ist jung und eklektisch, es gibt kaum kulturelle oder Theaterbezüge. Häufig haben die Theaterschaffenden keinerlei Verbindung zum Zuschauer. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die fehlende Kommunikation zwischen den einzelnen Theaterschaffenden, also den Dramatikern, Regisseuren, Schauspielern und Bühnenbildnern. Im Gegensatz dazu weiß das deutsche Publikum, worauf es sich einlässt. Man weiß, welche Art Theater in der Volksbühne Berlin oder im Deutschen Theater Berlin gespielt wird, und kann wählen, was man sehen möchte. Für Deutsche sind Theaterkritiken sehr wichtig. Durch die Kritiken kann sich ein Regisseur seiner Fehler bewusst werden, und das Publikum legt auf sie großen Wert. Es ist nicht nachsichtig. In Mexiko würde niemand wegen einer Kritik von einem Theaterbesuch absehen.

Aus welcher Haltung heraus macht man Theater in Mexiko? Und welche Nachteile hat dieses „perfekte“ deutsche Theatermodell?

Mexiko hat für mich einen großen Vorteil: Wir haben viel zu sagen. Das Theater wird immer subversiv sein. Es behandelt vielerlei Fragen und Themen: Individualismus und Identität, Einsamkeit oder Gemeinschaftssinn. Es klagt verschiedene Probleme an, wie Korruption oder Gewalt, mit einer guten Portion Gesellschaftskritik und viel schwarzem Humor – in dieser Hinsicht sind wir gut versorgt. Wir leben in einem Dauerzustand des Unfertigen. Wir sind niemandem voraus und hinken niemandem hinterher. Wir erleben gerade einen sehr spannenden Prozess, nicht nur im Theater. In Deutschland hat mir diese Fähigkeit zu improvisieren gefehlt, die Möglichkeit, mit wenig Geld und viel Kreativität ein großartiges Stück auf die Beine zu stellen. Im deutschen Theater haben sich eine gewisse Langeweile und Ernüchterung breitgemacht, es gibt eine feststehende Struktur, alles ist gut eingetaktet und funktioniert nach einem bestimmten Programm. Bei uns ersetzt sehr oft die Freundschaft den Vertrag, oder Projekte werden durch Gruppengeist vorangebracht. Auch die Deutschen funktionieren als Gruppe, nur auf nüchternere Art. //

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