Musik
Tonalität und „Atonalität“
von Siegfried Borris
Erschienen in: Theater der Zeit: Menschliche und künstlerische Persönlichkeit (10/1946)
Für die meisten unbefangenen Musikhörer ist die Frage, ob es denn mehrere Arten von Tonalität gebe, wohl erst mit dem Auftauchen des heftig umstrittenen Begriffs „Atonalität“ ins Bewusstsein gerückt. Die Empörung, mit der vor etwa 25 Jahren im Kampf um die neuen Ausdrucksmittel des Expressionismus die Bezeichnung Atonalität zugleich mit den Vorwürfen des Auflösens, des Chaotischen und der Tonanarchie behängt wurde, bewies, dass die radikale Wandlung des musikalischen Hörens bis an die Fundamente der romantischen Klang- und Harmonievorstellung gedrungen war. Die Zeit der ausschließlichen Herrschaft von Dur und Moll, deren harmonische und funktionell-kadenzierende Eigenschaften stillschweigend und selbstverständlich mit „Tonalität“ gleichgesetzt wurden, war eigentlich schon seit über einem halben Jahrhundert im Abklingen. Denn in Wagners „Tristan“ (1865) war bereits die romantische Harmonik durch das zersetzende Gift der „sehrenden Chromatik“ soweit ausgehöhlt, dass das Ohr des schlichten Hörers streckenweise gleichsam zwischen den Tonarten zu schweben meinte, weil das Bewusstsein die vieldeutigen dissonanten („alterierten“) Akkorde meist gar nicht mehr zu einer bestimmten Tonart in Verbindung setzen konnte.
Diese Auflösungserscheinungen des klaren tonalen Gefüges hatten sich um 1900 im Impressionismus bis zu einer Zerstäubung der Klänge weiterentwickelt. Damit waren bereits alle Elemente der Dur- und Moll-Tonalität aufgegeben. Andererseits kam man durch die Kenntnis der...