Kolumne
Alle reden vom Virus. Wir nicht.
Videoschalte mit Stephan Lessenich und Kornelius Heidebrecht
Erschienen in: Theater der Zeit: Safety first – Theater in Zeiten von Corona (05/2020)
Assoziationen: Debatte
Lessenich sagt, dass achtzig bis neunzig Prozent der Antibiotika, die unser gutes Leben am Laufen halten, in China und Indien hergestellt werden. Und dass diese Herstellung unter Bedingungen erfolgt, die hierzulande undenkbar wären. Dort unten aber, in China und Indien, schädigen sie ihre Umwelt zum Wohl des globalen Nordens, scheiden unverträgliche Stoffe aus, die das Trinkwasser vergiften und die Menschen gleich mit. Und wir, sagt Lessenich, sehen es als selbstverständlich an, dass auf so zerstörerische Weise Nützliches für uns getan wird. Mit Beispielen wie diesem illustriert er die These von der Externalisierungsgesellschaft, die er in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ entwickelt hat. Gemeint sind hochtourige kapitalistische Gesellschaften, die es sich leisten können, die Kosten ihrer Lebensweise, was Produktion und Konsum gleichermaßen betrifft, auszulagern. Mit Stephan Lessenich, dem eloquenten Soziologen aus München, sitze ich Seit an Seit im Splitscreen – statt wie ursprünglich gedacht auf der Theaterbühne.
Alle reden vom Virus. Wir nicht. Oder höchstens ein bisschen, denn Lessenich hat das Virus in einem Artikel als wohlbekannten Nachbarn identifiziert, einen, den wir nicht sehen wollen und darum den Blick abwenden, sobald er aus der Tür tritt. Das Virus bringt das Verdrängte zurück, sagt er, oder mit einem Wort von Sigmund...