Theater der Zeit

Ägypten

Kreative Dringlichkeit

das Theater von Laila Soliman

von Nedjma Hadj

Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)

Assoziationen: Afrika Akteure Laila Soliman

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Das Drama zu dekonstruieren, es zu enthüllen, um es besser zu verstehen – um in die Lage zu kommen, es zu repräsentieren und es uns zu präsentieren: Unter diesen Voraussetzungen beginnt Lailas Theaterarbeit und sie lädt uns ein, etwas Gemeinsames zu teilen – selbst wenn uns das entfernt oder sogar gewalttätig erscheinen mag.

Es ist eine besondere Art der Suche, die eine dramaturgische Gestaltung der Recherchendokumente als Basismaterieal für den künstlerischen Prozess vornimmt, sich deren Dramatisierung an sich aber verweigert und im Unterschied zu dem steht, was uns als Document as a Performance aus dem Mittleren Osten und insbesondere dem Libanon bekannt ist.

Zu dieser aus Kairo, Tunis und Rabat stammenden Generation neuer arabischer Dramatik zählt Laila. Sie positioniert sich ausführlich mittels neuer Formen und einer anderen Zeitlichkeit: die der Dringlichkeit. Zugleich sind ihre Arbeiten eine Emulsion aus den Errungenschaften und Werken der letzten Generation, die von den Idealen der Freiheit und Gleich­heit erfüllt war, dem Motor der Modernität des 20. Jahrhunderts. Diese Generation war, wie von den autoritären und despotischen Regimes aus der arabischen Welt bekannt, oft hinter Schloss und Riegel ge­bracht worden. Dennoch hatte sie tiefgreifenden Einfluss und ihr Erbe an die heutige Generation weitergegeben. Beispiele sind Cheikh Imam in der Musik, Naguib Mahfouz und Sonallah Ibrahim in der Literatur und der Schriftsteller und Maler Hassan Soliman – ein wichtiger moderner Maler und Vater von Laila.

Eine rege Produktivität prägte für Leila die beiden zurückliegenden Jahre der ägyptischen Revolution und drückt zugleich ihre ständige Verbindung zu Kairo aus. Lailas Stücke von 2011 verdeutlichen diese Besonderheit ihrer Arbeit, auch wenn ihre Beiträge zum Theater schon im Jahrzehnt vor der Revolution ihren Anfang gefunden haben.

Mit den letzten Arbeiten der Serie No Time for Art ist 2011 ein Jahr, das für Laila reich an Texten ist. An dieses Projekt schließt sich eine Kollektivarbeit mit Ruud Gielens an, unter dem Originaltitel Lessons in Revolting. Hier interferieren persönliche Zeugenaussagen von Künstlern auf der Bühne mit den Aussagen der Medien, wobei die Körper als Leinwand dienen für über verschiedene Kanäle kommentierte Bildprojektionen. Die Akteure übernehmen eine ebenso individuelle wie kollektive Rolle. Zu anderen Texten aus dem Jahr 2011 zählen Stücke wie Freiwillige Arbeit, in dem ein verses­sener Blogger und eine Freiwillige aus einer NGO eine Diskussion eröffnen und gleichzeitig inmitten der Revolution an der Geschichte Kairos schreiben.

Es ist eine wahre Herausforderung, über ihre Arbeit zu berichten und ­Bilanz zu ziehen. Ihr Theater steht in Zusammenhang mit der Gesellschaft – oder möglicherweise kann es die Brücke zu ihr werden. Es spricht eine eigene, besondere Sprache. Es interessiert sich für diejenigen, die nicht gehört werden, die man nicht sieht in einer Zeit des systemischen Umbruchs. So sehr der Sturz des Präsidenten Mubarak ein Großereignis war – das Erdbeben, ausgelöst durch das Engagement der ägyptischen Gesellschaft, ist noch lange nicht zu Ende. Das Polizei- und Militärsystem fährt fort, Missbräuche und Ungerechtigkeiten an Zivilisten zu verüben und dieses Vorgehen juristisch zu legitimieren. Ausgehend von diesem (revolutionären) Großereignis macht Laila das Klein-Ereignis zur Leitlinie einer neuen Dramaturgie.

Ihre Interpretation der Geschehnisse und Quellen erfolgt täglich, quasi permanent. In Kairo ist sie Teil jener ständig vernetzten Generation, in der Aktivisten und Künstler, Blogger und Twitter-Nutzer sich vermischen, jener Generation, die verantwortlich für den gegenwärtigen Wandel ist, die permanent aufmerksam bleibt und immer auf der Lauer liegt.

Durch ihre Erfahrung, sich zu informieren und Unterschieden zu begegnen, legt sie den Fokus auf die Funktionsweisen eines Systems, das noch weit vom Zusammenbruch entfernt und noch heute für die Misshandlung von Zivilisten verantwortlich ist.

Es geschieht über den Umweg, dass uns Laila an dieser Realität teilhaben lässt. Ihr Theater, nach einer ersten Lektüre ein dokumentarisches, weist metaphorisch über das konkrete Geschehen hinaus. Die Inszenierung zwingt das Publikum zur Auseinandersetzung. In ihrer künstlerischen Entwicklung beschäftigt sie sich mit politischen Fragen, die wiederum Fragen des kollektiven Gedächtnisses und der zeitgenössischen Geschichte aufwerfen. Arthur Zmijewski stellte anlässlich der 7. Berliner Biennale für Zeitgenössische Kunst fest, dass „die Kunst die Kraft der Poli­tik ihr eigen nennen kann, aber nicht ihre Furcht, ihren Opportunismus und ihren Zynismus.“

Die Bühne wird zur Sammelstelle verschiedener Schichten aus sozialem und persönlichem Material; ein Rauschen, das die Unmenge der sich überlagernden Stimmen von draußen filtert, die Stimmen einer Stadt, die nie schläft und in der sich endlos viele Meinungen reflektieren. Auf der Bühne zeigt sie uns einen Auszug daraus, um uns mit dieser Realität zu konfrontieren und uns dem begegnen zu lassen, was Gemeinsamkeiten sind, auch wenn uns diese nur schwer zugänglich erscheinen.

Es gibt kein Fragezeichen am Ende der Aussage No time for Art. Ist dieser Titel eine Provokation oder kündigt er bereits eine performative Handlung an? Handelt es sich um den Hinweis, keine Zeit zu verlieren zu haben? No time to lose? In diesem Work in Progress, der sich aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzt, wird das Stück nie starr: Es wird mit jeder Wiederholung, welche die Schauspieler vollziehen, re-interpretiert. Diese Wiederholungen sind wie ein Raum, in dem sich das Schreiben selbst überprüft. Gleichzeitig bietet dieser Raum eine Chance, sich und die eigene Geschichte aus der Distanz zu sehen. Auf den verletzlichen Zeugenaussagen der Schauspieler selbst basierend ist der Zugang ein höchst persönlicher. Die Schauspielerin Shereen trägt zum Beispiel einen Erlebnisbericht ihres gefangenen Bruders Sherif vor und ihr junger Schauspielerkollege Ahmed El Gendy erzählt von der Ableistung seines Militärdienstes während der Revolution. Er benutzt dafür Fragmente, die er während seines Wehrdienstes auf Facebook veröffentlicht hat. Die beiden Berichte teilen die gleiche Zeitlichkeit, jedoch nicht dasselbe Universum. In No Time for Art 3 reihen sie sich aneinander und werden innerhalb eines performativen Rahmens gegenübergestellt.

In No time for Art gibt das Schreiben nie der Fiktion nach – eine radikale Entscheidung. Das Material wird gesammelt und sorgfältig überprüft, seien es die Informationen von NGOs, aus den Medien oder dem Fern­sehen. Dem wird eine weitere Schicht hinzugefügt, die sich aus Zeugen­berichten von unmittelbar Beteiligten zusammensetzt, persönlichen Briefen, wie diejenigen vom Gefangenen Sherif an seine Schwester Sheeren Hegazy. Auch diese sind Elemente der Komposition oder der Verdichtung, die es erlaubt, die Realität der Ereignisse in die Sphäre der Repräsentation und der möglichen Metaphern zu verschieben.

Die Bedeutung der Berichte liegt darin, Elemente der zeitgenössischen Geschichte in der Gegenwart wahrzunehmen, bevor die Zeit diese persön­lichen Geschichten auslöscht und bevor der Staat die gültige Geschichte Ägyptens festschreibt; dieses offizielle System, das durch einen schwe­ren Apparat fortbesteht, den Tausende in Betrieb gesetzt, gehalten oder erduldet haben. Den Tyrannen auszuhebeln bedeutete für das ägyptische Volk einen Berg zu versetzen, aber das Ringen um ein neues Gleichgewicht der Mächte und wahre Gerechtigkeit im Dienste der Zivilgesellschaft ist noch nicht vollendet. Die Generation vom Tahrir-Platz fordert Gerechtigkeit und Menschenwürde. Sie bleibt wachsam und vorsichtig und sie ist sich bewusst, dass sie sich aus allen zusammensetzen muss, weil alle und jeder einzelne Ägypten ausmachen: „Koulina Misr“ („wir sind alle Ägypten“ besagt einer der Slogans der Revolution).

Lailas Theater lädt uns ein, an Werken teilzunehmen, die reich an Parallelen und Umkehrungen von Bedeutung gegenüber jener Realität sind, die durch Medien und Macht verbreitet wird. Auch solchen Stimmen wird Resonanz verschafft, die wir in unserem Alltag nicht hören. Indem Laila diesen Stimmen Raum gibt, formuliert sie die Gegenwart – und ihre eigene Geschichte. Sie schreibt diese ihre Geschichte anders: mit Dringlichkeit, und bevor neue Ereignisse sie auslöschen und verschwinden lassen. Laila stellt Fragen von dort aus, wo sie ist, geistig und geografisch: Dies ist die Situation der Kunst, wenn die Zeit nicht ausreicht und somit die Dringlichkeit zu einer dramaturgischen Dimension wird.

Übersetzt aus dem Französischen: Silvia Iurilli, inhaltlich ergänzt von Darja Stocker

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