Kommentar und Mord
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
Heiner Müllers ANATOMIE TITUS FALL OF ROME EIN SHAKESPEARE-KOMMENTAR, eine 1984/85 entstandene Bearbeitung gilt einem sehr frühen Text Shakespeares, wohl seinem blutrünstigsten und am meisten grotesken Werk. »Anatomie« – Körperaufschneiden und Struktur-Freilegung – verweist sogleich auf eine poetologische Fragestellung, die dem Verhältnis zwischen der Schrift der Kunst und der Realität als wesentlich Realität des Schreckens gilt. Da im Text grausame Anatomie durchaus an lebenden Körpern geübt wird, stellt schon dieser Begriff eine sonderbare Vermischung des Realen und Metaphorischen, der Wirklichkeit mit ihrer analytischen Repräsentation dar. Und dies gilt erst recht für den Begriff Kommentar. »Fall of Rome« verweist ähnlich wie später MOMMSENS BLOCK auf das barocke Thema der Geschichte als Sturz und Fall von Reichen. Hier soll es allein um das Motiv des Autors gehen, der sich selbst zum Problem wird.
Der Abschnitt 4 (von 14) enthält einen der Kommentar-Texte, die Müllers Bearbeitung skandieren. Sie sind für ihn – wie es im Nachspann des Stücks heißt – ein »Mittel, die Wirklichkeit des Autors ins Spiel zu bringen«. Die Wendung ist freilich weniger klar als sie scheint: Ist die Wirklichkeit des Autors Heiner Müller gemeint? Oder die William Shakespeares? Womöglich die des...