Theater der Zeit

Was ist gestisches Sprechen?

Der Brecht’sche Gestusbegriff

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Assoziationen: Theatergeschichte

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In den 1920er Jahren hatte Bertolt Brecht begonnen, nach zeitgemäßen realistischen Theaterformen zu suchen. Er wollte dem Einfühlungstheater der bürgerlichen Gesellschaft die Darstellung sozialer Konflikte entgegensetzen. Vor diesem Hintergrund hat Brecht den Begriff des Gestus entwickelt, um menschliches Verhalten so zu zeigen, dass darin die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die es hervorbringen, sichtbar werden. Brecht betrachtet die Fähigkeit, Verhalten zu ändern und mit verändertem Verhalten die Wirklichkeit zu verändern, als menschliche Grunddisposition. Wenn Menschen einerseits abhängig sind von sozialen und ökonomischen Zwängen, dann sind sie andererseits auch in der Lage, diese zu verändern, indem sie ihr Verhalten und damit die Verhältnisse ändern. Soll die Welt verändert werden, muss die Welt als veränderbar dargestellt werden. Die gesellschaftlichen Widersprüche können erkannt und kenntlich gemacht werden, um sie aufzuheben.

Die epische Spielweise, die er aus diesem Anspruch entwickelt hat, verlangt einen Standpunkt in der Welt, politisches Urteilsvermögen, soziale Fantasie und die Fähigkeit, das Verhalten der darzustellenden Figuren in seiner Widersprüchlichkeit zu erkennen. Im Gegensatz zur psychologisch-realistischen Spielweise bleibt hier die Differenz zwischen Schauspieler und Figur sichtbar. Statt seine Figur zu verkörpern, zeigt er ihre Handlung, Brecht erläutert das am Beispiel einer Straßenszene. Indem konkrete Handlungen nachgeahmt werden, wird Verhalten sichtbar, und wir können einen Blick in andere Lebenswelten werfen. Wenn wir uns alltägliche Vorkommnisse erzählen, schlüpfen wir kurzzeitig in die Rolle derjenigen, über die wir berichten. Wir imitieren die Sprechweise, die Gestik, die Körperhaltung. Aber auch Handlungen, Entfernungen, Zusammenhänge werden mit dem uns zur Verfügung stehenden gestischen Material gezeigt. „Wie erklärt man einem Kind eine Wendeltreppe?“8

Der Gestus des Zeigens ist ein unverzichtbares Hilfsmittel des gestischen Sprechens. Körper, Atem, Stimme und Sprache lassen das Verhalten von Figuren in konkreten Situationen als von Schauspielern dargestellt erkennbar werden. Die Mittel, die zur Darstellung führen, können auf diese Weise untersucht und entwickelt werden. Es werden Figuren gezeigt, die sich in beschreibbarer Weise verhalten. Dieses Zeigen ist gestischer Natur. Es ahmt Verhalten von Menschen nach, die in konkreten sozialen Beziehungen stehen. Je konkreter die Situation, in der Figuren sich verhalten, fantasiert wird, desto genauer kann sich ihr Verhalten in Körper, Atem, Stimme und Sprache abbilden. Im Gestusbegriff wird konkret wahrnehmbares menschliches Verhalten zu einem Komplex zusammengefasst. Dadurch entsteht einerseits eine verallgemeinernde Qualität, etwas Typisches, Wiedererkennbares, das sich andererseits in konkretem körperlichem und sprechsprachlichem Ausdruck zu erkennen gibt.

Bertolt Brecht hat den Begriff Gestus als Terminus technicus seiner Theaterarbeit kreiert: „Unter einem Gestus sei verstanden ein Komplex von Gesten, Mimik und für gewöhnlich Aussagen, welchen ein oder mehrere Menschen [an] einen oder mehrere Menschen richten. Ein Mann, der einen Fisch verkauft, zeigt unter anderem den Verkaufsgestus. […] Ein Gestus kann allein in Worten niedergelegt werden (im Radio erscheinen); dann sind bestimmte Gestik und bestimmte Mimik in diese Worte eingegangen und leicht herauszulesen (eine demütige Verbeugung, ein Auf-die-Schulter-Klopfen). […] Worte können durch andere Worte ersetzt, Gesten durch andere Gesten ersetzt werden, ohne daß der Gestus sich darüber ändert. […] Ein Mann, seinen Gott anrufend, wird bei dieser Definition erst ein Gestus, wenn dies im Hinblick auf andere geschieht oder in einem Zusammenhang, wo eben Beziehungen von Menschen zu Menschen auftauchen.“9 Der Brecht’sche Gestusbegriff kennzeichnet den Zusammenhang zwischen der Einstellung von Sprechern, ihrer daraus resultierenden gesamtkörperlichen Haltung und der sprechsprachlichen Äußerung in Bezug auf Hörer in einer konkreten Situation.

 

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