Theater der Zeit

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Musik

Düsteres Utopia

von Ulrike Rechel

Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)

Colin Benders gilt in seiner niederländischen Heimat als Rock-Wunderkind. Schon im Schulalter mit einem Stipendium am Königlichen Musikkonservatorium von Utrecht ausgestattet, hat sich der talentierte Trompeter im Nachbarland als einer der kühnsten Köpfe der Rocksphäre etabliert. Statt einer Band hat der 24-jährige Spross einer Künstler- und Gelehrtenfamilie ein Ensemble versammelt, bei dem klassische Instrumentalisten und Sänger auf eine um Synthesizer erweiterte Rockbesetzung treffen. The Kyteman Orchestra nennt sich die Großtruppe, zu der neben einem klassischen Chor auch Rapper zählen: Diese verbreiten in ihren Reimkaskaden eine ähnlich düster-prophetische Aura wie die MCs der US-Politrapper The Roots. 2009 legte das Kollektiv auf eigene Faust ein erstes Album vor, damals noch unter dem Namen Kyteman’s Hip Hop Orchestra. Es sollte sich als überraschender Erfolg in den holländischen Charts erweisen. Seither hat Multiinstrumentalist Benders sein kleines persönliches Rockutopia verwirklicht: In einem ausgedienten Sägewerk in Utrecht richtete er die Schaltzentrale des Kyteman Orchestra ein. Es umfasst ein eigenes Plattenlabel namens Kytopia Records, daneben gibt es Auftrittsmöglichkeiten, Künstlerwohnungen und ein Tonstudio. Hier entstand zuletzt das neue, zweite Album unter der Kyteman-Fahne.

Darauf formt die Band aus ihrem opulenten Klangkorpus immer neue, stilistisch vielgestaltige Zweige. Als Fundament dient der Rocksong, der zum Teil eingängig melodiös daherkommt. „Long Lost Friend“ etwa heißt ein Stück, das mit angenehm erzählerischem Gesang und loderndem Beat einen vergleichbar dunklen Popentwurf malt wie Englands Großstadtträumer Massive Attack. Anderswo erinnern strenge Arrangements von Streichern und Holzbläsern an den hypnotischen Minimalismus eines Michael Nyman; der zentrale Song „Angry At The World“ stellt dagegen das zivilisationskritische Grundmotiv der Songsuite und schlägt dafür einen episch-bombastischen Grundton an, gerade so wie Pink Floyd.

Nicht ohne eine Portion Größenwahn halten die Nahtstellen des kuriosen Stilgeflechts doch verblüffend gut zusammen. Besonders auf der Bühne wirkt die Großphantasie des Orchesters ansteckend und sympathisch verschroben. //

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