Thema: Festivals
Sozial oder banal?
Partizipation, Kollaboration und Teilhabe – das Festival Theaterformen in Hannover erprobt neue Zuschauweisen
von Theresa Schütz
Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)
Assoziationen: Niedersachsen Akteure
Die Szene hat vielleicht einen geringen künstlerischen Wert, ja, aber das Soziale steht über dem Künstlerischen.“ Dieser Kommentar rahmt eine Intervention innerhalb der Aufführung „Fantasie für morgen“ von Marco Layera und seiner Gruppe La Resentida aus Chile, die das diesjährige Festival Theaterformen in Hannover eröffnete. Ihm voraus gingen ein Bekenntnis, das den Zuschauern chorisch abgenommen wurde („Ich, das Publikum, verpflichte mich, Beistand zu leisten und damit die Kluft der Ungleichheit zu schließen“), sowie der Appell, jetzt und hier zwanzig Euro für den zehnjährigen Roberto zu spenden. Roberto komme aus Chile, sei arm, seine Mutter eine Putzfrau, sein Vater im Gefängnis, und wenn wir nicht spenden, tragen wir Mitschuld an seiner Zukunft als Straftäter. – Und so zückt die Mehrheit der Zuschauer ihre Portemonnaies und stopft, scheinbar begierig, eine gute Tat zu tun, Scheine in die kreisenden Hüte, bis eine Performerin einen Zuschauer in „Hugo-Boss-Anzug“ denunzierend zur Rede stellt, warum „ausgerechnet er“ nichts gebe. Die plakative Beschimpfung endet damit, dass sie sich ihre Sachen vom Leib reißt und dem Mann für Geld einen Blowjob anbietet. Dazu kommt es freilich nicht.
Für die 25. Ausgabe des Festivals setzt die neue Leiterin Martine Dennewald, gebürtige Luxemburgerin und studierte Dramaturgin und Kulturmanagerin, die zuletzt gemeinsam mit Martina Leitner und Marcus Droß das Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm leitete und zuvor das Programm des Young Directors Project der Salzburger Festspiele verantwortete, neben Kontinuität vor allem auf zweierlei: Von mehreren Künstlerinnen und Künstlern sind gleich zwei Arbeiten eingeladen, und der Fokus liegt auf partizipativen Formaten.
Die Theaterformen 2015 sind damit nicht mehr nur Panorama verschiedener Darstellungs-, Narrations-, Schauspiel- und Repräsentationsweisen, sondern laden stärker als sonst dazu ein, auch neue Zuschauweisen zu erproben und qua Interaktion selbst Medium und Material ausgewählter Live-Art-Aufführungen zu werden. Damit verortet sich das Festival trend- und diskurssicher in Folge und Affirmation des social turn, eines seit den 1990er Jahren international zu beobachtenden Fokus von Kunstschaffenden auf kollaborative, sozial engagierte, aber auch neue dialogische und partizipatorische Formen, die den Zuschauer auf besonders direkte und unmittelbare Weise adressieren und fordern. Die Produktionen spielen mit dem Initiieren von unbekannten Situationen, mit dem systematischen Unterlaufen konventioneller Zuschau(er)modi (Xavier Le Roy), mit Strategien kollektiven Produzierens (Theater NO99), mit der Involvierung in ein Spielset (Rimini Protokoll), mit der Aktivierung durch eine konkrete Aufgabe (gemeinsam mit Tiago Rodrigues lernen neun Zuschauer und ich auf der Bühne von „By Heart“ ein Shakespeare-Sonett auswendig) sowie mit der bürgerbühnenähnlichen Teilnahme von Hannoveranern (600 Highwaymen).
Beim „Hausbesuch Europa“ sitze ich mit 13 anderen Teilnehmern an der langen Tafel von Frau Schuh in der Nordstadt Hannovers. Sie hat ihre Wohnung dem Gesellschafts-Spiel von Rimini Protokoll geöffnet: Zunächst gilt es, auf einer ausgebreiteten Europakarte einzuzeichnen, wo man geboren ist, wo man längere Zeit gelebt hat und zu welchem Ort man eine besondere Verbindung hat. Dann stellt uns Spielleiter Cornelius den „Herzschrittmacher“ vor, eine kleine selbstgebastelte Maschine, welche uns durch drei der vier Level führen wird, indem sie Fragen generiert, die man den Versammelten reihum zu stellen hat. Eigene, vom Algorithmus der Maschine abweichende Fragen werden im Verlauf der kommenden zwei Stunden kaum gestellt. Cornelius speichert alle Antworten: Rund 50 Prozent der Teilnehmenden engagieren sich in gemeinnützigen Vereinen oder NGOs, 100 Prozent haben Vertrauen in die Runde am Tisch, ein Drittel fühlt sich mehr als Europäer denn als Bürger des eigenen Landes, und zusammen verfügen wir über 482 Euro Bargeld. Die stolze Datenmenge, die sich aus den zahlreichen Hausbesuchen ergibt, wird auf eine eigens eingerichtete Website (homevisiteurope.org) hochgeladen. Wenn das ephemere Ereignis der situativen Zusammenkunft vorbei ist, bleibt die statistische Erhebung im Netz abrufbar.
Das vierte Level spielt man zu zweit auf einem Smartphone. Mittels Kooperation sollen der Punktestand erhöht und Risiken geteilt werden. Der Gewinn: das größte Stück vom Schokoladenkuchen, dessen Duft sich bereits in der Schwüle des Zimmers eingenistet hat.
Die europäische Gemeinschaft, die wir hier zugleich repräsentieren wie auch im Kleinen durchspielen, erweist sich als eine Gruppe von Unbekannten, die rudimentäre Informationen übereinander austauschen. Auf deren Grundlage werden dann Teams gebildet, die ohne inhaltliche Debatten an technischen Endgeräten über fiktive politische Entscheidungen und Verfahren des Ein- und Ausgrenzens abstimmen sollen. Und indem wir eifrig und regelkonform mitspielen, für den virtuellen Datenzuwachs sorgen und am Ende den Kuchen teilen und fürs Gruppenfoto lächeln, zeigt sich, dass wir den tatsächlichen sozialen Austausch im Grunde verfehlt haben. Das öffnet den gedanklichen Spielraum für die Frage, ob nicht genau dies die konzeptionelle Idee jenes europäischen Gesellschafts-Spiels war.
Im Anschluss mache ich mich auf den Weg zum Opernplatz. Dort stehen fünf ineinander verschachtelte Container mit der Aufschrift „Still“. Die „Ökonomie des Wartens“ ist das Thema der gleichnamigen Performanceinstallation von Julian Hetzel, und sie am eigenen Leib zu erfahren, stellt sich bereits beim Einlass ein: Nur alle acht Minuten darf eine Person eintreten. Es ist unglaublich heiß. Noch fünf sind vor mir. Für das akustische Einlullen sorgt eine nicht lokalisierbare Frauenstimme, die alle zehn Sekunden die Zeit ansagt. Das Strapazieren meiner Geduld hat begonnen.
Im ersten Container ist ein Bildschirm, auf dem man einen aufgehängten YouTube-Clip sieht, im zweiten treffe ich auf eine Museumswärterin, die vor ihrem fotorealistisch gemalten Abbild sitzt, im dritten sitzt hinter einer Glasscheibe jene Frau, deren Arbeit darin besteht, alle zehn Sekunden die Zeit anzusagen. Der vierte Container ist ein Wartezimmer. Insgesamt sechs Zuschauer sitzen, schwitzen und warten, ohne zu wissen, wozu und worauf. Eine Performerin mit provokantem Kaugummigekaue läuft auf und ab. Ich beginne mit der Besucherin neben mir ein Gespräch über das Festival und ihre persönlichen Erinnerungen an den „Selbstmord“ Salvador Allendes, dessen historische letzte Tage die „Fantasie für morgen“ von La Re-sentida performativ umzuschreiben versuchte. Bloßes Warten als geteiltes Nichtstun gelingt uns offenbar nicht.
Nach etwa zwanzig Minuten darf ich eine Tür passieren. Dahinter steht, mit den Füßen in einer nebeligen Sumpflandschaft, ein Mann im schwarzen Anzug. Ich sehe nur seinen Rücken, mein Dialogangebot ignoriert er. Eingetaucht in eine mir nicht zugängliche Sphäre, verkörpert er den Zustand bloßen Stillstands und lädt ein zur gemeinsamen und doch vereinzelt stattfindenden Kontemplation.
Dann die Überraschung: Im letzten leeren weißen Container begegnet mir der Blick einer grauhaarigen, etwas beleibten Frau um die sechzig. Sie sitzt auf einem Hocker, umgeben von Koffern. Vor ihr eine Dose mit Münzen, rechts ein Hinweisschild: „Muttchen“ sei eine „echte“ Obdachlose aus Hannover, die für „Still“ als Performerin angestellt wurde und mit zehn Euro pro Stunde entlohnt werde. Wir beginnen ein Gespräch, ein sehr interessantes und offenes. Mir wird warm ums Herz und zugleich ganz schwer. Denn vorm Supermarkt hätten wir dieses vermutlich nicht geführt. Hier bekomme ich die Möglichkeit, nicht nur ihr, sondern auch meinen eigenen Vorurteilen zu begegnen, auf Augenhöhe und im Rahmen von Kunst. Ich frage sie, ob sie sich ausgestellt fühle. Sie strahlt mich an, irritiert über die Frage, und verneint. Im Gegenteil, sie freue sich dabei zu sein, hier mit so vielen Menschen in Kontakt zu kommen und dabei auch noch Geld zu verdienen.
Tritt das Soziale bei diesem Partizipationsformenfestival an die Stelle des Künstlerischen? Der Verdacht steht im Raum. Durch das Theater gerahmte Situationen sozialen Interagierens erscheinen als die neuen Festivalevents. Sie sind als delegierbare Ideen gut vermarktbar und quasi überall zu realisieren. Streitbar bleibt, ob hier tatsächlich Räume für soziales Miteinander entworfen oder geöffnet werden oder ob man nur mit der Fiktion von Teilhabe abgespeist wird. //