Theater der Zeit

3 Aspekte der Analyse

3.3 Stimmlichkeit und Körperlichkeit in Opernaufführungen

von Clemens Risi

Erschienen in: Recherchen 133: Oper in performance – Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen (08/2017)

Assoziationen: Musiktheater

 Abbildung 24: Oberto. Inszenierung: Pier’Alli. Francesca Sassu (Leonora), Giovanni Battista Parodi (Oberto). Teatro Verdi Busseto 2007. Foto: Roberto Ricci/Teatro Regio di Parma
Abbildung 24: Oberto. Inszenierung: Pier’Alli. Francesca Sassu (Leonora), Giovanni Battista Parodi (Oberto). Teatro Verdi Busseto 2007. Foto: Roberto Ricci/Teatro Regio di Parma

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Zum Verhältnis von Stimmproduktion und Gestik

Das Verhältnis von Stimmlichkeit und Körperlichkeit war bereits vereinzelt Thema dieser Studie, kann man es doch als zentrale Kategorie für das Performative der Oper bezeichnen – und zwar sowohl bezogen auf einzelne Sängerinnen/Sänger als auch bezogen auf das Wechselspiel zwischen Sängerinnen/Sängern und Zuhörenden/Zuschauenden. In diesem Kapitel soll das performative Kernstück der Oper noch einmal eigens diskutiert werden, beginnend mit einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Darstellungspraktiken in der Oper.

„Wenige Sänger […] zeigen […] ein tieferes Studium der scenischen Kunst; ihre Bewegungen sind meistens matt und einförmig, oft häßlich, wie z. B. die häufig vorkommende parallele Hebung der Arme, und das abwechselnde Ausstrecken derselben nebst flacher Oeffnung der Hände“.1

Diese Beobachtung, die im Jahr 1835 Eingang in die Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften fand, scheint auch fast 200 Jahre später ihre Gültigkeit nicht verloren zu haben, wenn man sich die Gestenpraxis mancher Starsängerinnen und -sänger in der heutigen Opernindustrie vergegenwärtigt. Was hier beklagt wird, lässt sich grob gesprochen als stereotype Sängergestik bezeichnen, die durchaus erkennbare historische Wurzeln hat. Als krudes Rudiment oder Schwundstufe lässt sie sich in eine Traditionslinie einreihen, die von Anleihen bei der antiken Rhetorik über die barocke deiktische Gestik bis zum Gestencode der Aufklärung reicht. Doch neben dieser Traditionslinie ist aus meiner Sicht eine weitere einflussreiche Tradition am Werk. Nicht vergessen darf man den Einfluss des in der Regel langen Gesangsstudiums und Stimmtrainings von Opernsängerinnen und -sängern. Es ist ein sehr langer Prozess, bis man der Stimme die Kehlstellung und Durchschlagskraft abgerungen hat, die notwendig sind, um auf der Opernbühne stimmlich bestehen zu können. Um das unsichtbare und ungreifbare Instrument Stimme bedienen zu lernen, bekommen die angehenden Sängerinnen und Sänger Zeichnungen vom Kehlkopf gezeigt, von der Zunge, vom Rachenraum. Wenn sie das Glück haben, physiologisch interessierte Lehrer zu haben, wird ihnen erklärt, wie die verschiedenen Kehl- und Zungenstellungen, die für Phonation und Resonanz zuständig sind, zustande kommen. Aber letztlich bleibt den Gesangsstudentinnen und -studenten nichts anderes übrig, als diese Prozesse und vor allem die zur Vervollkommnung der Stimmfunktion notwendigen Schritte und Taktiken zu imaginieren. Sie stellen sich Bilder vor, um den Ton im Stirnbereich des Kopfes, der sogenannten Maske, und nicht in der Nase klingen zu lassen, den Ton auf einer Säule aus Luftstrom schweben zu lassen – und damit auch den letzten Winkel eines Opern- oder Konzertsaales zu erreichen –, zu verhindern, dass der Atemdruck den Ton presst, und ihn dazu zu bewegen, ihn zu umschmeicheln, zu umarmen. Um der komplexen Vorgänge, die sich im Rachen abspielen, habhaft zu werden, entdecken Sängerinnen und Sänger mehr oder weniger unwillkürlich das Potenzial einer die Stimme beeinflussenden und dirigierenden Gestik, die sie sich gewissermaßen als autosuggestive Tricks in vielen Jahren des Studiums antrainieren. Aus der sprachlichen Beschreibung der für die Beherrschung der Stimme notwendigen Imaginationen mag deutlich geworden sein, um welche Gesten es sich dabei handelt – es sind die bekannten Operngesten, die ganz gleich zu welchem Text, ganz gleich in welcher dramatischen oder theatralen Situation häufig zu beobachten sind. Interessant ist hierbei die Beobachtung, dass jene Gesten der Stimmproduktion in einer (scheinbar) unbeobachteten Situation, beispielsweise im Rahmen einer CD-Einspielung – also in einem Moment fern von der großen Opernbühne, mit der Möglichkeit für den Sänger, sich ganz auf das reine Klangerzeugnis (und die dafür benötigte Körperkontrolle) zu konzentrieren –, um ein Vielfaches exzessiver ausfallen, als wir es während einer Aufführung auf der Bühne gewöhnlich erleben.2 Es scheint, als sei gerade die Anwesenheit der Zuschauenden Anlass für die Sängerin/den Sänger, die intensive – manchmal sogar intime – Gestik als Unterstützung für die Tonerzeugung zurückzunehmen (bzw. sich nur der bekannten Operngesten zu bedienen).

Für die Gestik wird ein Zusammenhang von innen und außen postuliert und diagnostiziert, ein Zusammenhang zwischen psychischen bzw. emotionalen Zuständen und körperlichen Zeichen. Auch bei den Gesten des Stimmtrainings, wie ich sie bezeichne, existiert ein solcher Zusammenhang, allerdings besteht er hier zwischen den inneren körperlichen Bedingungen der Tonproduktion und dem äußeren Abbild dieser körperlichen Prozesse zur Hervorbringung des Tones – also jenseits oder diesseits affektiver Zustände und Prozesse. Mit dieser Art von Gesten wachsen nicht nur die Sängerinnen und Sänger auf, sondern auch das Opernpublikum. Es verbindet diesen Code mit einer bestimmten erwarteten Art des Operngesangs und stört sich womöglich nie daran.

In einer der frühesten Filmaufnahmen einer Opernszene – einer Aufführung des Sextetts aus Donizettis Lucia di Lammermoor3 aus dem Jahr 1911 – können wir demnach nicht nur die lächerlich anmutende Schwundstufe barocker oder aufklärerischer Gestenpraxis oder die Einfallslosigkeit von Sängern und Sängerinnen erkennen, die mehrere „parallele Hebungen der Arme“ vollführen sowie „das abwechselnde Ausstrecken derselben nebst flacher Oeffnung der Hände“, genau so wie es in der Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften beschrieben wurde, es ist auch der Einfluss des Stimmtrainings, der sich in dieser Gestik zeigt. Paradoxerweise sind es allerdings gar keine Sängerinnen und Sänger, die hier agieren, sondern Schauspielerinnen und Schauspieler, die Sänger in deren typischer Gestenpraxis imitieren – Schauspieler, die Gesten des Stimmtrainings imitieren! Der Akt der stummen Imitation – es handelt sich ja um eine Filmaufnahme ohne Ton, die mit der Tonspur einer Audioaufnahme von Sängern unterlegt wurde – stellt zum einen den für die Geste postulierten Zusammenhang von innen und außen in Frage (der Schauspieler benötigt die Geste des Stimmtrainings ja nicht, um einen Ton zu produzieren, da er keinen hörbaren Ton produziert), zeigt aber gleichzeitig umso deutlicher, wie fest dieser Zusammenhang bereits damals im Bewusstsein und in der Erwartungshaltung der Zuschauenden etabliert ist.

Diese Tradition lässt sich, es wurde bereits gesagt, bis heute beobachten, allerdings nicht nur als Standard und Bühnenalltag, sondern inzwischen sogar nobilitiert durch die Bestrebungen der sogenannten historischen bzw. historisch informierten Aufführungspraxis, als Versuch der Re-Konstruktion dessen, wovon ein Regisseur annimmt, dass Sängerinnen und Sänger im 19. Jahrhundert so gestikuliert haben. Zu erleben war dies unter anderem 2007 beim Verdi-Festival in Parma und Busseto, in Pier’Allis Inszenierung von Verdis Oberto.4 Das eingesetzte Repertoire von Gesten unterschied sich nicht grundlegend von den üblicherweise zu sehenden Operngesten, war aber in der Art der Ausführung so prägnant, dass die rhetorische Funktion der Gesten klar hervortrat und sie choreografisch auffällig wurden (Abbildung 24).

Besonders auffällig war eine charakteristische Verlangsamung der Gesten. Es scheint in der Frage des Timings, also des Verhältnisses von Geste und Zeit, eine Verabredung in der Opernaufführungspraxis zu geben, die Geste entsprechend der musikalischen Zeit zu verlangsamen. Diese Verabredung korrespondiert selbstredend optimal mit den Gesten des Stimmtrainings, deren Timing ja auch der musikalischen Zeit abgelauscht zu sein scheint. Theoretisch und ästhetisch begründet findet sich diese Verabredung bereits in Pietro Lichtenthals Dizionario e Bibliografia della musica von 1826. In dem Eintrag „Attore“, womit ein „Cantante che fa una parte in un’Opera“, also ein Sänger, der eine Rolle in einer Oper spielt, gemeint ist, verweist Lichtenthal zwar auf die Notwendigkeit, dass der Sänger agiere, sonst sei er bloß ein Sänger und kein Darsteller. Er müsse aber weniger als der Schauspieler auf die „verità“ (Wahrheit) seiner Darstellung achten, da die Musik der Darstellung bereits eine „anima“ (Seele) gebe.5

Der historische Rückgriff auf die Darstellungstheorie des frühen 19. Jahrhunderts ist insofern von entscheidender Bedeutung für die Diskussion des Verhältnisses von Stimmlichkeit und Körperlichkeit in Hinsicht auf das szenische Handeln der Agierenden, als in dieser Zeit – gegenüber dem Schauspiel um einige Jahrzehnte verspätet – Darstellungskonzepte der Aufklärung Eingang in die musiktheatrale Darstellungspraxis fanden, die neue Anforderungen an das Verkörperungsvermögen der Sängerinnen und Sänger proklamierten (nämlich die Wahrheit der Darstellung in gestischen Aktionen zu beglaubigen) und damit den szenischen Vollzügen eine wachsende Rolle im Darstellungsvorgang zusprachen. Die Ausläufer dieser darstellungstheoretischen Neuorientierung prägen bis heute die Aufführungsrealität und die Wahrnehmungseinstellung des Publikums, auch wenn sich das ästhetische Koordinatensystem des Regietheaters gegenüber dem des Musiktheaters der Spätaufklärung einschneidend verändert hat.

Johann Jakob Engel hatte 1785 dem Sänger indirekt die Lizenz erteilt, sich dem Diktat der Wahrheit der Darstellung nicht unterwerfen zu müssen, sofern er nur auf die Schönheit seines Gesangs achte:

„Der Gesang hat so unendlich viel Süßes; er fesselt und bezaubert durch den wohllüstigsten der feinern Sinne die Seele so sehr, versenkt sie so tief in den Genuß des Gegenwärtigen, daß man die Mißhelligkeit zwischen dem Ausdrucke und der auszudruckenden Seelenfassung, die Verwechslung des lyrischen Affects mit dem dramatischen, entweder nicht mehr bemerkt oder sie doch nicht achtet. Die Wahrheit der Darstellung wird freylich geschwächt, und insofern auch die Wirkung; allein was auf dieser Seite verloren geht, wird auf der andren gewonnen; was an Wahrheit mangelt, wird durch Schönheit vergütet“.6

Ganz in diesem Sinne handelte wohl der Tenor Luigi Ferretti in einer Aufführung der Oper Elena da Feltre von Saverio Mercadante 1844 in Triest und wurde dafür vom Rezensenten der Zeitschrift Il Figaro auch nicht getadelt, sondern regelrecht in Schutz genommen:

„Ferrettis Stimme ist voluminös, umfangreich und hat einen sehr angenehmen Klang; die Gestik ist etwas nachlässig und schlampig; aber wenn ein Tenor eine schöne Stimme hat und diese einzusetzen versteht, fällt es nicht so sehr ins Gewicht, wenn er nicht der beste Akteur ist.“7

Dies war offensichtlich häufig und ist noch immer die Legitimation für viele Sängerinnen und Sänger in der Oper, die Verantwortung für die Affektion und Kommunikation ausschließlich der Stimme zu überlassen. Andererseits ist es aber auch Anlass für Regisseurinnen und Regisseure, mit den Sängerinnen und Sängern an der theatralen Plausibilität ihrer Gesten zu arbeiten.

Der Oberto aus Busseto 2007 ist ein Beispiel dafür, wie die beschriebene Verabredung in einer aktuellen Inszenierung ausdrücklich vorgeführt und als solche inszeniert wurde. Außerhalb Italiens herrscht in der Operninszenierungspraxis allerdings viel eher die Tendenz, die eingefahrene Verabredung infrage zu stellen. Das Ergebnis sind zum einen Aufführungen, in denen die Zeit der Geste noch weiter – bis zur slow motion – verlangsamt wird, um die Kraft und Energie der einzelnen Geste und Bewegung in ihrer eigenen Materialität in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken (so etwa in den Operninszenierungen von Robert Wilson oder in Heiner Müllers Bayreuther Tristan-Inszenierung von 1993). Oder es wird der umgekehrte Weg der Beschleunigung der Zeit der Geste eingeschlagen. Hierbei wird das Zeitmaß für die Gesten in der Geschwindigkeit der musikalischen Figuren gefunden, wodurch insbesondere jüngere Inszenierungen von Händel-Opern zur sportlichen und tänzerischen Ausstellung von Bewegungsvirtuosität werden, etwa in David McVicars Inszenierung von Händels Giulio Cesare beim Glyndebourne Festival 2005, dirigiert von William Christie mit Danielle De Niese als Cleopatra. Musikalische Bewegung wird nach dem Vorbild von Aerobic, Bollywood-Filmen oder MTV-Clips als in choreografische, rhythmische Bewegungen übersetzt wahrnehmbar, wodurch der Fokus weniger auf der Geste und ihren möglichen (affektiven) Voraussetzungen oder Bedeutungen liegt als vielmehr auf der ausgestellten rhythmischen Formalisierung und damit der Künstlichkeit der Musik.8

Andererseits lässt sich in Opernaufführungen eine Tendenz erkennen, die eingefahrene Verabredung der stereotypen Operngestik mit den Mitteln des psychologischen Realismus zu konterkarieren, indem die Gesten aus alltäglicher Bewegungssprache und alltäglichem Zeitempfinden entnommen zu sein scheinen. In Robert Carsens Pariser Inszenierung von Händels Alcina aus dem Jahr 1999 ist Morgana, die Schwester der Zauberin Alcina, zum Dienstmädchen mutiert. In ihrer Arie „Tornami a vagheggiar“ erklärt sie Bradamante, die sich als Mann verkleidet hat und unter dem Namen Ricciardo erschienen ist, ihre Liebe, und dies mit einer Fülle von aus dem Alltag entnommenen Gesten (knien, auf dem Boden wälzen, die Kleidung richten, Gläser und Besteck arrangieren, Servietten entfalten, ein Glas mit Wein füllen, zuprosten), dass es eine Lust ist, der Sängerin Natalie Dessay nicht nur bei ihren hochvirtuosen Höhenflügen und Verzierungen zuzuhören, sondern dabei zuzusehen, wie sie während des Singens szenische Aktionen durchführt, die wir gemäß der oben beschriebenen und immer wieder erlebten Verabredung nicht erwarten.9

Trotz der skizzierten Tendenzen, Gesten in der Aufführung in neuer Weise auffällig werden zu lassen, bleibt die Verabredung, dass Gesten klangunterstützend funktionieren, als Gewöhnung und Vor-Erwartung einer Opernaufführung wirksam. Nur unter der Bedingung dieser Verabredung und Vor-Erwartung entfaltet ein Moment in Jossi Wielers und Sergio Morabitos Stuttgarter Inszenierung von Verdis Don Carlo aus dem Jahr 2001 seine Wirkung, wenn die Sopranistin Catherine Naglestad als Elisabetta am Ende ihrer Arie, an einer der exponiertesten Passagen, nicht wie zu erwarten den Ton umarmt und nicht die Arme parallel hebt oder ausstreckt, um den Ton zu stützen, sondern lapidar die Hände in die Manteltasche steckt.10 Der Kontrast von Erwartung und Erleben, von vor-imaginiertem Gestencode (Protention) und dagegen verstoßender Praxis bewirkt eine Intensivierung des Moments, eine Markierung der Szene im Gedächtnis. Die scheinbar unpassende Geste bewirkt auch eine Intensivierung des klanglichen Eindrucks – scheinbar unpassend deshalb, weil sie gegen den bekannten und erwarteten Gestencode verstößt, dabei aber zum Kostüm (einem eng geschnittenen Mantel) und Catherine Naglestads Haltung während der Arie genau passt.

Was die Beispiele zeigen sollen, ist das Potenzial der Infragestellung von in ähnlicher Form seit fast 200 Jahren praktizierten, mitunter stimmphysiologisch erklärbaren Operngesten. Durch die Auflösung der Bindung der vorausgehörten Musik an die vorausgesehene Geste wird auch hier die Wahrnehmung und Wirkung der Musik immer wieder verändert.

Zur Wahrnehmung von Stimmen in der Oper

War bislang von Zusammenhang und Zusammenspiel von körperlicher Gestik und stimmlicher Äußerung die Rede, so erscheint es notwendig, im Rahmen einer Untersuchung zur Aufführungsdimension von Oper den Stimmen in der Oper eigens Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt viele Wege, über Stimmen zu sprechen. Wie in Kapitel 2.4 bereits formuliert, ist im Kontext dieser Studie der gewinnbringendste Zugang ein phänomenologischer, für den bezeichnend ist, dass kein Ereignis unabhängig von der eigenleiblichen Erfahrung beschrieben werden kann.11 Die besondere Ekstatik der ausgebildeten Gesangsstimme sowie ihr energetisches Wirkpotenzial vermögen es, auch über die räumliche Entfernung einen Nahraum des Hörens zu schaffen und die Zuhörenden leiblich zu affizieren. Nicht was die Singstimme ist, sondern wie sie individuell erlebt wird, rückt als Fragestellung in den Vordergrund. Ist die ästhetische Wirkungsweise der Singstimme nicht mit Kategorien wie Stimmlage, Timbres etc. zu erfassen, muss sie als bewegliches Medium zwischen zwei Körpern und Teil eines subjektiven Hörerlebnisses untersucht werden. Von dieser Einbindung in den Akt der Wahrnehmung ist die Singstimme nach Bernhard Waldenfels nicht zu trennen, da Stimme nach seiner Ansicht immer „gehörte Stimme“ ist.12

Entsprechend der körperlichen Auffassung der Erfahrung von Stimme ist auch die konkrete Reaktion der Hörenden – Applaus, Ovation (eine extreme, manchmal geradezu animalische Lautäußerung) – als eine den Körper unwillkürlich erfassende begreifbar. Symptomatisch für diesen Zusammenhang scheint die Rezension einer Aufführung von Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos 1993 in Zürich mit Edita Gruberova als Zerbinetta:

„Durch die Presse […] versorgt […], wusste man, dass in jedem Falle Grosses zu erwarten war. Edita Gruberova […] würde […] zweifellos brillieren. Doch es kam schliesslich ganz anders. Denn da war jener Moment. Es war der Moment, der Kenner und Banausen sprachlos werden lässt. Der Moment, in dem ein ganzes Publikum baff vor Staunen nach vorne kippt, wo der Atem aussetzt, wo man den Puls der Nachbarin hört – zwölf Minuten erstarrte Fassungslosigkeit […]. Und was anschliessend folgte, das war keine Geste, kein Opernritual – sondern physische Notwendigkeit. Wie nach einer zu üppig bemessenen Transfusion musste sich ein Teil der klanglichen Abfüllung in wilden Begeisterungsschreien Bahn verschaffen.“13

Die besondere Faszination einer Stimme wie der von Edita Gruberova liegt in einer Wahrnehmungssituation begründet, die ihre Intensität u. a. einem ganz besonderen Verhältnis von Stimmlichkeit, Körperlichkeit und Klangwahrnehmung im Raum verdankt: Bei bestimmten Tönen – in erster Linie bei lang ausgehaltenen Tönen in Extrembereichen der dritten Oktave – stellt sich der Eindruck ein, als würde sich Edita Gruberovas Stimme von ihrem Körper lösen, als schwebe die Stimme körperlos im Raum und wäre ganz bei mir, als wäre mein gesamter Körper umhüllt und angefüllt von dem einmaligen, in seiner sinnlichen Intensität nicht erinnerbaren und damit auch nicht antizipierbaren Klang dieser Stimme.

Das von der Phänomenologie für die Zeitwahrnehmung formulierte Verhältnis von Erinnerung (Retention) und Erwartung (Protention) spielt mit Blick auf die intensivierte Wahrnehmungssituation einer Opernstimme eine, wenn nicht gar die entscheidende Rolle. Ein Merkmal der Komplexität der Wahrnehmung einer bewunderten und gefeierten Opernsängerin ist für mich die Wahrnehmung einer Geschichte, einer Vergangenheit, die eine Sängerin mit sich herumträgt und die nicht zu trennen ist von der Geschichte, die das Publikum mit dieser Sängerin bereits verbindet. Entscheidend für die Zuerkennung des Außergewöhnlichen im Falle der bewunderten Sängerin ist nicht nur die besondere Gegenwärtigkeit einer Stimme, sondern ebenso sehr die Wahrnehmung von Vergänglichkeit: Wird es so sein wie beim letzten Mal? Wie häufig/lange kann es noch so sein? Im Blick auf die vertrauten und begehrten Stimmen berühmter Sängerinnen und Sänger müssen die bestehenden Konzepte zum Thema Zeiterfahrung in der Oper erweitert werden, nämlich um die Zeiten der musikalischen (also vokalen) Realisierung, das heißt Zeiten einer bestimmten Stimme, den Moment einer Stimme in Korrespondenz zu ihrer eigenen Geschichte: Was ich höre, ist der aktuelle, hier und jetzt ertönende Klang zum Beispiel Edita Gruberovas, aber genauso meine Erwartung, der Klang, den ich im Ohr habe, noch bevor sie aufgetreten ist (noch vor der Aufführung), das Changieren zwischen dem, was sie gerade produziert, und dem, was ich antizipiere. Es sind mehrere Gruberovas gleichzeitig auf der Bühne.

Dieses Verhältnis von Erinnerung und Erwartung ist nicht stabil. Es verschiebt sich durch Überraschungen, etwa kleinere Unfälle, zum Beispiel nach einem angekratzten oder missglückten Ton, den ich so nicht erwartet habe. Die Spannung wächst, die Sorge, es könnte sich wiederholen, vor allem, weil man häufig weiß, welche Schwierigkeiten noch kommen. Umso kostbarer dann die geglückten Töne, die man so vor der Überraschung eigentlich erwartet hatte, nach der Panne aber nicht mehr in dieser Selbstverständlichkeit. Die Fragilität und Verletzbarkeit sowohl der Stimme als auch des Moments verstärkt den Reiz des Augenblicks.

Eine ganz besondere Erfahrung im Rahmen der performativen Beziehung zwischen der Stimme einer Sängerin/eines Sängers und mir als Zuhörer und Zuschauer ist der seltene Moment, in dem sich das Gefühl einstellt, ein bestimmter Sänger oder eine Sängerin singt gerade nur für mich, schaut genau nur mich an – eine Erfahrung von Exklusivität und Intimität.14 Die Beschreibung einer solchen Erfahrung findet sich in Gustave Flauberts Roman Madame Bovary. Emma Bovary erlebt in der Oper von Rouen eine Aufführung von Donizettis Lucia di Lammermoor mit einem als Lagardy namentlich genannten und im Verlauf der Szene auch biografisch näher beschriebenen Sänger in der Rolle des Edgardo. Während des Sextetts im zweiten Akt

„packte sie ein Wahn: er [Edgardo-Lagardy] blickte sie an, ganz sicher! Es drängte sie, sich in seine Arme zu flüchten, um in seiner Kraft, wie in der Verkörperung der Liebe selbst, Schutz zu suchen und ihm zu sagen, laut auszurufen: ‚Entführe mich, nimm mich mit, lass uns weggehen! Dir, dir! gehören alle meine glühenden Sehnsüchte und alle meine Träume!‘“15

Wie sich die besondere Präsenz einer Sängerin über einen solchen Eindruck von Exklusivität einstellt und beschreiben lässt, sei an einer Aufführungserfahrung versucht: der Performance der Sopranistin Iano Tamar in der Titelpartie von Luigi Cherubinis Médée 2002 an der Deutschen Oper Berlin in der Inszenierung von Ursel und Karl-Ernst Herrmann.16 Dabei zeigt sich allerdings, dass diese Eindrücke von Exklusivität nie stabil oder eindeutig auf genau zwei Beteiligte festlegbar sind. Das Verhältnis setzt sich ständig fort, denn es kommt selten zu einer konkreten Zweierbeziehung; eher tritt der Fall ein, dass zwar auch die Sängerin/der Sänger eine exklusive Beziehung sucht, aber nicht mit dem Zuhörer, der gerade seinerseits das Gefühl einer exklusiven Zweierbeziehung mit der Sängerin/dem Sänger hat.

Gleich der Beginn der Aufführung gehört Médée ganz allein. Noch bevor die Ouvertüre beginnt, öffnet sich das nach hinten in einem spitzen Winkel zulaufende Bühnenbild; dahinter in der großen Weite sitzt Médée, Iano Tamar, auf einem Koffer – eine Migrantin, eine Nochnicht-Angekommene, eine, die nie ankommen wird. Das sich öffnende Bühnenbild lässt sie im Mittelpunkt, im Zentrum des Geschehens erscheinen bzw. vermittelt umgekehrt die raumgreifende Präsenz der Darstellerin den Eindruck, sie habe das Bühnenbild gesprengt, um Raum für ihre Präsenz zu schaffen. Ihre Macht nicht nur über den dramatischen, sondern auch über den musikalischen Verlauf wird in dem Moment spürbar, als mit ihrer Hinwendung zum Publikum und zum Orchester und damit, dass sie sich erhebt, die Ouvertüre beginnt.

Im Bühnenbild gibt es eine Art Übergang von der Bühne zum Orchestergraben, kleine Treppenstufen von der Bühne zu einer kleinen Plattform, die in etwa auf Höhe des Souffleurkastens in den Orchestergraben hineinragt und Médée nicht nur als eine von der Bühne Verstoßene zeigt, sondern auch als Médées Rückzugsmöglichkeit von der Welt in den Raum der Musik – den Orchestergraben – gelesen werden kann (Abbildung 25). Der exklusive Raum bringt aber auch das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum ins Wanken. In ihrer ersten Arie, in der sie Jason dazu bewegen will, dass er ihr die gemeinsamen Kinder überlässt („Vouy voyez de vos fils la mère infortunée“, I/7), schafft er die Möglichkeit, eine enge Beziehung zwischen Iano Tamar und ihrem Publikum herzustellen. Eigentlich fleht sie Jason an, aber ihr Blick geht ins Publikum, über die Rampe hinweg entsteht ein Blickkontakt mit dem Publikum, mit mir im Sinne der beschriebenen Exklusivität.

Noch einmal stellt sich in der Aufführung diese exklusive Beziehung her, bei der Arie der Amme Néris, die Médée versichert, ihr treu zu sein und bis in den Tod zu folgen („Ah! Nos peines seront communes“, II/4). So wenig Anteil Médée an den Worten ihrer Amme zu nehmen scheint, so wenig schenkte ich der Sängerin der Néris Aufmerksamkeit. Allzu stark war der Bann der Ausstrahlung von Iano Tamar – eine Präsenz, die durch eine enorme Körperspannung erreicht wurde, die sich direkt auf mich als Zuhörer und Zuschauer übertrug und meinen Blick an sie und vor allem an ihren Blick fesselte.

Noch ein dritter Moment aus dieser Aufführung sei erwähnt. Beim Zwischenspiel zwischen dem zweiten und dritten Akt wurde deutlich, wie sehr auch die Musik dazu beitrug, den Fokus auf Médée alias Iano Tamar zu verstärken: Die Magierin Médée bereitet sich auf die Vergiftung ihres Geschenks für die Rivalin vor. Der Körper der Sängerin vibriert mit jeder Note jedes neuen Abschnitts, der Atem beschleunigt und intensiviert sich sichtbar, ihr Körper und ihre Blicke vermitteln dem Zuhörer die Musik exklusiv. Die Blicke, die Tamar in das Auditorium sendete, hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit denen von Stummfilmdiven – mit den Worten Gloria Swansons als Norma Desmond in Billy Wilders Sunset Boulevard (1950): „We didn’t need dialogue. We had faces!“ Mit dem Anlegen ihres magischen Rocks nimmt Tamar als Médée schließlich wieder den gesamten Bühnenraum ein; er wird mit ihrer Präsenz gefüllt, angefüllt, überflutet. Sie scheint damit sowohl das Gewitter als auch die Gewittermusik auszulösen. Schließlich öffnet sie mit ihren Armen (oder besser: ihrer Bühnenpräsenz) die Begrenzungen des Bühnenbildes (die Wände gehen auseinander) und ist Herrin über den gesamten Raum, das Gewitter und die Musik.

In Beschreibungen des besonderen Verhältnisses zwischen Körper und Stimme eines Sängers/einer Sängerin und einem Zuschauer/Zuhörer, dieser exklusiven, ja bisweilen intimen Zweierbeziehung, klingt bei einigen Autoren, die sich mit der sinnlichen Dimension des Operngesangs beschäftigt haben, eine Nähe zur Erotik an. Ganz deutlich wird dies in Formulierungen zur Aufhebung der Subjekt/Objekt-Dichotomie, wie sie etwa von Koestenbaum beschrieben wird:

„The listener’s inner body is illuminated, opened up: a singer doesn’t expose her own throat, she exposes the listener’s interior. Her voice enters me, makes me a ‚me‘, an interior, by virtue of the fact that I have been entered. The singer, through osmosis, passes through the self’s porous membrane, and discredits the fiction that bodies are separate, boundaried packages. The singer destroys the division between her body and our own, for her sound enters our system. I am sitting in the Met at Leontyne Price’s recital in 1985 and Price’s vibrations are inside my body […].“17

Was Koestenbaum hier beschreibt, ist die im Akt des Hörens sich ereignende Vereinigung zweier eigentlich getrennter Körper. Deutlich zu hören ist die Anleihe bei Georges Bataille, der als ein Kennzeichen der Erotik die Suche nach Kontinuität benannte:

„Die ganze erotische Veranstaltung ist auf eine Zerstörung der Struktur jenes abgeschlossenen Wesens ausgerichtet, das der Partner des Spiels im Normalzustand ist. Die entscheidende Handlung ist die Entblößung. Die Nacktheit steht im Kontrast zum abgeschlossenen Zustand, zum Zustand der diskontinuierlichen Existenz. Sie ist ein Zustand der Kommunikation, der die Suche nach einer möglichen Kontinuität des Seins offenbart, die über die Selbstbefangenheit hinausführt.“18

In der Erotik entfaltet die Aufhebung der Subjekt/Objekt-Dichotomie eine ganz besondere Energie. Der verschränkte Prozess von Singen, Gehörtwerden und Hören kann in diesem Sinne als ein sehr intimer Akt des Austauschs aufgefasst werden. Michel Poizat hat für diesen Vorgang den Begriff der „jouissance“ ins Spiel gebracht, die Lust oder Wollust, wobei der französische Terminus eine explizit sexuelle Note hat.19 Ganz ähnlich beschrieb auch Roland Barthes in S/Z die Erfahrung der Singstimme:

„Der Gesang (ein von den meisten Ästhetiken vernachlässigtes Merkmal) hat etwas von der Kinästhesie, er ist weniger an einen ‚Eindruck‘ gebunden, als an einen inneren, muskulären, humoralen Sensualismus. Die Stimme ist Diffusion, Eindringen, sie geht durch die ganze Oberfläche des Körpers, durch die Haut. […] Die Musik ist also von einer ganz anderen Wirkung als das Sehen; sie kann den Orgasmus bestimmen […].“20

Die Stimme wird so zu einer Art Droge, von der man abhängig werden kann. Die Aussicht, eine bestimmte Stimme zu hören, verursacht ganz konkrete Erwartungen, körperliche Bedürfnisse zu befriedigen.

Der Erotik wurde im Zusammenhang mit Oper bislang nur eingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil, so etwa in Bezug auf bestimmte Handlungsmuster oder Darstellungsmöglichkeiten der Verführung, zum Beispiel in Mozarts Don Giovanni, Bizets Carmen, Verdis La traviata, Wagners Tannhäuser oder Saint-Saëns’ Samson et Dalila. Zuweilen wird auch über die amourösen Abenteuer von in der Regel weiblichen Darstellern (Oper und Ballett) und ihren Bewunderern in vergangenen Epochen der Theatergeschichte geschrieben – nicht selten belustigt und meist so, als berichte man aus einer exotischen Welt. Wenn nun hinsichtlich der besonderen Beziehungen zwischen Sängerin/Sänger und Zuhörenden/Zuschauenden von Erotik die Rede sein soll, so ist nicht an solche Repräsentationen von erotischen Mechanismen gedacht, sondern an die phänomenale Dimension der Aufführung, also das besondere Verhältnis von Stimmlichkeit und Körperlichkeit zwischen Sängerin/Sänger und Zuhörenden/Zuschauenden, bei dem Relationen des Begehrens eine entscheidende Rolle spielen.21

Obgleich die Erotik mutmaßlich ein Hauptantrieb für das wiederholte Sich-Aussetzen einer Wahrnehmungssituation in der Oper ist, wird in den meisten Fällen über sie geschwiegen. Es wird nur selten erwogen, das Potenzial der Erotik als Kategorie der Analyse der Aufführungsdimension ins Kalkül zu ziehen.22 Vergegenwärtigt man sich Aufführungen etwa mit Cecilia Bartoli, so erscheint es jedoch mir geradezu unumgänglich, einen solchen Versuch zu wagen. Bei ihren Live-Auftritten ist einer der aufregendsten Momente, wenn ihre Stimme den Eindruck vermittelt, als erkundeten vor allem die halsbrecherischen Koloraturen sichtbar alle Körperregionen, als machten die produzierten Klänge den Körper vibrieren. Ihre Performance suggeriert das Vorhandensein mehrerer Resonanzräume in den unterschiedlichen Körperregionen. Diese Kombination von Stimme und Körperbewegung löst eine ganz besondere erotische Faszination aus. Die Verbundenheit der Stimme mit dem Körper ist so stark, der Körpereinsatz erzeugt einen derartig nachhaltigen Eindruck, dass er sich beim bloßen Hören der aufgenommenen Stimme unwillkürlich ins Gedächtnis ruft, dass meine Erinnerung in der Lage ist, bei der aufgenommenen Stimme diesen Körper und seine Bewegungen zu evozieren.

Für das Begehren spielt der Moment der Erwartung (Protention) eine entscheidende Rolle. Das Begehren kann als eine besondere Ausprägung der grundsätzlicheren Wahrnehmungshaltung der Protention angesehen werden; umgekehrt lässt sich die Protention als einer der Wirkmechanismen für eine erotische Beziehung auffassen. Es sind insbesondere zwei Szenarien, die hier interessieren: Zum einen der Fall, dass ich einen ganz spezifischen Moment einer Oper oder einer Phrase erwarte und der Moment gerade aufgrund dieser starken Erwartung verschwindet bzw. sich gar nicht erst einstellt. Doch auch das Gegenteil kann sich ereignen: ein wiederholter, eigentlich bekannter Höhepunkt übertrifft in der Wiederholung die Erinnerung und damit die Erwartung. Es gibt Ereignisse – wie etwa bestimmte, mehrfach gehörte Phrasen einer mehrfach erlebten Stimme –, die in ihrer Intensität einfach nicht erinnerbar sind. Man erfährt einen Ton, möchte ihn halten, sich seines Reizes vergewissern, da ist er aber schon vorbei, Vergangenheit.

Der Reiz liegt in der Erwartung bzw. in der Erfahrung des Beginns und der durch diesen ausgelösten Erwartung eines intensiven Erlebnisses. In Jean-Jacques Beineix’ Film Diva aus dem Jahr 1981 ist eine solche Erfahrung in einer filmischen Inszenierung zu sehen. Nach dem Verebben des Auftritts-Applauses für die Diva dauert es einige Sekunden, bis die erwartete Arie beginnt. Potenziert ist dieser Moment der Erwartung im Film durch die Schnitte von der Sängerin von hinten zum Fan im Close-up, der seine Lippen leicht öffnet (wie in erregter Erwartung eines sinnlichen Genusses), und der Diva mit geschlossenen Augen.23 Die gedehnte Pause zwischen Auftrittsapplaus und Beginn ist der Moment, der eigentlich keinen Inhalt hat und doch das wichtigste trägt, nämlich den Moment extrem gesteigerter Protention. Mit Barthes könnte man diese Erfahrungen auch als erotische bezeichnen, wobei die von ihm ausgemachte „erotischste Stelle eines Körpers“ hier in die Zeitlichkeit übertragen ist, in das Vergehen der Momente von intensiver Lust:

„Ist die erotischste Stelle eines Körpers nicht da, wo die Kleidung auseinanderklafft? […] die Unterbrechung ist erotisch, wie die Psychoanalyse richtig gesagt hat: die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt (der Hose und der Bluse), zwischen zwei Säumen (das halb offene Hemd, der Handschuh und der Ärmel); das Glänzen selbst verführt, oder besser noch: die Inszenierung eines Auf- und Abblendens.“24

Seit der Urszene des erregenden Gesangs, der Sirenen-Episode aus dem 12. Gesang von Homers Odyssee, in der Odysseus sich an den Mast seines Schiffes angekettet dem Sirenengesang aussetzt, „steht Hören – wie die Sexualität – im Verdacht, zu verführen und abhängig zu machen“.25 Die Wahrnehmung der Stimme und deren Verführungskraft wird hier erstmals mit der Gefahr des Selbstverlusts verknüpft. Die Singstimme ist mit Verführung und Gefahr besetzt.26 In der Auffassung Georges Batailles repräsentiert der Begriff des „érotisme“ „vorwiegend grenzüberschreitende (transgressive) Erfahrungen existenzieller Gefährdetheit“.27 Besonders gewinnbringend für vorliegende Studie erscheint mir daran das Moment des Transgressiven, das auf die Ritualstruktur einer erotischen Erfahrung hinweist und in dieser Ritualstruktur insbesondere auf den Moment der Schwellenerfahrung, die die Existenz, wenn nicht gefährdet, so doch herausfordert. Als Symptom für die Schwellenerfahrung, die von dem erotischen Verhältnis bereitgestellt wird, mag etwa eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt gelten,28 wie sie Koestenbaum durch das Anhören der Stimme der Anna Moffo auf Schallplatte erfährt: „Her voice […], like a breathing property, […] entered my system […], that my drab bedroom shifted on its axis.“29 Die Wahrnehmung von Opernaufführungen in dieser Beziehung als erotisch zu definieren und die Erotik dabei mit Bataille als Existenzgefährdung zu verstehen, gibt die Möglichkeit, an die seit Anbeginn des Theaters verbreiteten Kritiken und Invektiven zu erinnern, die im Theater eine Gefahr für den Menschen sahen.30

Wenn von Schwellenerfahrung die Rede ist, so muss doch – im Unterschied zum Ritual – für das Theater eine spezielle Art der Grenzüberschreitung angenommen werden.31 Für die Schwellenerfahrung im Theater ist in der Regel keine dauerhafte Veränderung der Lebensumstände zu erwarten, es handelt sich lediglich um Erfahrungen von Destabilisierung und Desorientierung für die Dauer einer Aufführung: Man verliebt sich temporär in eine Stimme, in eine Sängerin, einen Sänger, ohne über die Aufführung hinaus Konsequenzen für sein Leben daraus zu ziehen – abgesehen von der Spur, die die Erfahrung im Körper hinterlässt und die sich darin manifestiert, dass manche Zuhörer und Zuhörerinnen von einer Stimme derart affiziert werden, dass sie sich dieser Erfahrung immer wieder aussetzen wollen.32

Noch ein letzter, zentraler Aspekt des Bataille’schen Erotik-Begriffs lohnt der Aufmerksamkeit: die Inkommunikabilität.

„Ich gehe im wesentlichen von dem Grundsatz aus, dass die Erotik in die Einsamkeit versetzt. Zumindest ist die Erotik etwas, worüber sich schwer sprechen lässt. […] Sie kann nicht öffentlich sein. […] auf irgendeine Weise liegt die erotische Erfahrung immer außerhalb des gewöhnlichen Lebens. Unter allen unseren Erfahrungen bleibt sie ihrem Wesen nach von der normalen Mitteilung der Gefühle abgeschnitten. Es handelt sich um ein verbotenes Thema. […] die Erotik, vielleicht die intensivste Empfindung, ist für uns, insofern unsere Existenz uns als Sprache (als Rede) gegenwärtig ist, so gut wie nicht vorhanden.“33

Auch Roland Barthes thematisiert den Aspekt der Sprachlosigkeit im Angesicht der Lust:

„Über die Lust am Text ist keine ‚These‘ möglich […]. Die Lust [lässt] sich nicht sagen […] (wenn ich hier von Lust am Text spreche, so immer en passant, in ganz ungesicherter, keineswegs systematischer Art). Mit einem Wort, eine solche Arbeit könnte nicht geschrieben werden. Um ein solches Sujet kann ich nur kreisen – und daher ist es besser, sie kurz und alleine zu tun als kollektiv und unendlich […].“34

Die Konsequenz, die sich daraus für das Schreiben über diesen doch so deutlichen Motor für die Beschäftigung mit Oper ergibt, ist, dass dieser Subjektivität des Gegenstandes bzw. der besonderen Erfahrungsdimension in der Aufhebung der Subjekt/Objekt-Dichotomie Rechnung getragen werden muss. Es gilt, das eigene Subjekt in die Beschreibung einzubringen, seine eigene Subjektivität auszustellen, die eigene Geschichte zu erzählen, autobiografisch zu handeln.35

Doch das Ausstellen der eigenen Subjektivität, das Beschreiben des eigenen Erlebens ist mit einem Risiko verbunden, da man damit eingesteht, dass man für die Verführungen der Oper und der Stimme anfällig ist. Um diese Anfälligkeit – die, wie ich behaupte, in den meisten Fällen der Grund für die Auseinandersetzung mit Oper überhaupt ist – zu verschleiern und zu kaschieren, verfallen die meisten Rezensenten und auch Autorinnen und Autoren von Büchern über Sängerinnen und Sänger in eine abstrakte, technische Sprache. Sie konzentrieren sich auf technische Details der Stimmproduktion statt über das Erleben der Stimme zu schreiben. Wenn es aber zu gelingen scheint, eine Stimme in diesen abstrakt-technischen Details zu beschreiben, lässt sich das auch so verstehen, dass die Stimme ihr eigentliches Ziel, nämlich zu berühren, verfehlt hat. Auch dass ich für die Darstellung meiner intensiven Erfahrungen mit den Stimmen von Cecilia Bartoli oder Edita Gruberova den „Umweg“ über die Körper der Sängerinnen oder den eigenen Körper gegangen bin bzw. gehen musste, ist ein Anzeichen für die von Bataille diagnostizierte Inkommunikabilität.

Nur im Beschreiben des eigenen Erlebens lässt sich – wenn überhaupt – eine Spur der performativen, jetzt genauer: erotischen, Wechselbeziehung zwischen Sängerin/Sänger und Zuschauenden und Zuhörenden ausmachen. Und dafür braucht es eine gewisse Courage – einen ähnlich ausgeprägten Mut, wie ihn Sängerinnen und Sänger regelmäßig unter Beweis stellen, indem sie auf der Bühne ihre Verletzbarkeit exponieren. Die Furcht oder Scham, einzugestehen, dass man für die sinnlichen Reize der Oper anfällig ist und sich damit angreifbar und verletzlich macht, ist – so möchte ich behaupten – allerdings der notwendige erste Schritt hin zu einem Wahrnehmungsszenario, das die Ästhetik des Performativen, wie sie sich in der Oper zeigt, in einer ganz eigenen Dimension konturiert: als Erotik des Performativen, die die Oper als besonderen Reiz auszeichnet.

1Schilling, Gustav (Hrsg.): Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 1835, darin Artikel „Acteur“, gez. D. Sch., S. 47.

2Vgl. z. B. Natalie Dessay während einer CD-Einspielung des Händel-Oratoriums Il trionfo del tempo e del disinganno, mit Emmanuelle Haïm & Le Concert d’Astrée (im Quartett mit Hallenberg, Prina und Breslik): http://www.youtube.com/watch?v=XtaXWqOvtCw (ab 3:10) (zuletzt aufgerufen am 30.4.2017).

3Vgl. The Art of Singing. Golden Voices of the Century, DVD, IMG Artists/Idéale Audience/BBC etc. 1996, Nr. 2: Unknown actors miming to 1908 Victor recording with Caruso etc., 1911; http://www.youtube.com/watch?v=IeBpKNRpKZQ (ab 2:10) (zuletzt aufgerufen am 30.4.2017).

4Teatro Verdi Busseto 2007, erlebte Aufführung am 5.10.2007.

5Lichtenthal, Pietro: „Attore“, in: ders.: Dizionario e Bibliografia della Musica, Bd. 1, Milano 1826, 21836, S. 74f.: „ATTORE s. m. Cantante che fa una parte in un’Opera. Non basta all’Attore d’essere eccellente cantante, se non è nello stesso tempo bravo pantomimo […]. Oltre a ciò l’Attore non deve solo far sentire quello che dice, ma anche ciò che lascia dire alla musica. […] i suoi passi, i suoi sguardi, i suoi gesti, tutto deve essere sempre d’accordo colla musica […]. L’Attore lirico appoggiato al canto, il quale ha un linguaggio più attrattivo ancora della declamazione, e all’orchestra, che dà l’anima alla rappresentazione, è meno di tutti subordinato all’osservanza della rigorosa verità nella sua azione; mentre non di rado deve seguire il carattere della musica, e far concorrere il gesto colla musica stessa. […] collocare e variar bene i gesti, senza sforzo e senza prodigalità; mettere un’armonia in tutti i moti del corpo, del volto, e della voce […].“

6Engel, Johann Jakob: Ideen zu einer Mimik. Zwei Theile, Berlin 1785–1786, Reprint Hildesheim 1968, Bd. 2, S. 72f.

7Il Figaro 12, N. 80, 5.10.1844, S. 318: „La […] voce [del Ferretti] è voluminosa, estesa e di suono assai simpatico: il gesto è un po’ trasandato, ma quando un tenore ha bella voce e sa usarne a dovere poco monta se non agisce nel miglior modo.“

8Vgl. z. B. http://www.youtube.com/watch?v=X8wxblNNFx8 (zuletzt aufgerufen am 30.4.2017).

9Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=bnb3m90nl-E (zuletzt aufgerufen am 30.4.2017).

10Staatsoper Stuttgart 2001, erlebte Aufführung am 23.1.2001. Zu der Stelle aus Elisabettas Arie vgl. Verdi, Giuseppe: Don Carlos. Edizione integrale delle varie versioni in cinque e in quattro atti, Riduzione per canto e pianoforte [Klavierauszug]. Revisione secondo le fonti a cura di Ursula Günther e Luciano Petazzoni, Bd. 2, Milano (Ricordi) 1980, S. 605, T. 2 („il pianto mio“).

11Vgl. zu diesem Ansatz etwa Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes; Barthes: Le Grain de la voix; Kolesch, Doris: Stimmlichkeit, in: Fischer-Lichte, Erika/dies./Warstat, Matthias (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, 2. Auflage, Stuttgart 2014, S. 342–345; Schrödl, Jenny: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012.

12Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes. Vgl. auch Galler/Risi: Singstimme/Gesangstheorien.

13Die Arie auf Naxos führte zum Orkan. Thomas Wördehoff über die Sensation Edita Gruberova, in: Die Weltwoche, Nr. 24, 17.6.1993, zit. nach: Rishoi, Niel: Edita Gruberova. Ein Portrait, Zürich/Mainz 1996, S. 92.

14Vgl. auch Koestenbaum: The Queen’s Throat, S. 43: „The diva shatters the fourth wall dividing stage and audience when she stares straight into the crowd and finds a familiar fan’s face […].“

15Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Sitten in der Provinz, aus dem Franz. von Caroline Vollmann, München/Zürich 2003, S. 311.

16Deutsche Oper Berlin 2002, erlebte Aufführungen am 6.5.2002 (Generalprobe) und 28.5.2002.

17Koestenbaum: The Queen’s Throat, S. 43.

18Bataille, Georges: Die Erotik, aus dem Franz. von Gerd Bergfleth, München 1994, S. 20.

19Poizat, Michel: L’Opéra ou le Cri de l’ange. Essai sur la jouissance de l’amateur d’opéra, Paris 1986; auf Engl. erschienen als The Angel’s Cry, Cornell University Press 1992.

20Barthes, Roland: S/Z, aus dem Franz. von Jürgen Hoch, Frankfurt am Main 1987, S. 113.

21In diesem Sinne wurde und wird das Argument der Erotik gewinnbringend in Bezug auf das Phänomen der Kastratensänger im 17./18. Jh. diskutiert. Vgl. z. B. McClary, Susan: Fetisch Stimme. Professionelle Sänger im Italien der frühen Neuzeit, in: Kittler, Friedrich/Macho, Thomas/Weigel, Sigrid (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Medien- und Kulturgeschichte der Stimme, Berlin 2002, S. 199–214.

22Die bekannten Ausnahmen sind u. a. Roland Barthes, Wayne Koestenbaum oder Abel, Sam: Opera in the Flesh. Sexuality in Operatic Performance, Boulder/Oxford 1996. Auch Susan Sontag hatte in ihrem berühmten Essay „Against Interpretation“ für „erotics of art“ geworben; Sontag: Gegen Interpretation (Against Interpretation, 1964).

23Vgl. http://www.dailymotion.com/video/xa50gr_diva-aria-la-wally-hq-snoopadjust_shortfilms (zuletzt aufgerufen am 30.4.2017).

24Barthes, Roland: Die Lust am Text, aus dem Franz. von Traugott König, Frankfurt am Main 1974, S. 16f.

25Kolesch, Doris: Roland Barthes, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 125.

26Vgl. Weigel, Sigrid: Die Stimme der Toten. Schnittpunkte zwischen Mythos, Literatur und Kulturwissenschaft, in: Kittler, Friedrich/Macho, Thomas/dies. (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002, S. 73–92.

27Grawert-May, Erik von: Erotisch/Erotik/Erotismus, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 310–337, hier S. 311.

28Zur veränderten Wahrnehmung der Umwelt als Index und Wirkung einer besonderen ästhetischen Erfahrung vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München/Wien 2000, S. 215.

29Koestenbaum: The Queen’s Throat, S. 10.

30Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Zuschauen als Ansteckung, in: dies./Schaub, Mirjam/Suthor, Nicola (Hrsg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 35–50.

31Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, in: dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel 2001, S. 355.

32Deutlich wird diese Affizierung u. a. bei den vielen auf bestimmte Sänger fixierten Fans, die auf eigens für den Sänger eingerichteten Fan-Pages Informationen bereitstellen und sich austauschen, dem gezielten Sammeln von Tonträgern einer bestimmten Sängerin, der Praxis des illegalen Mitschneidens von Aufführungen (ohne die wir heute von vielen Sängern gar keine Aufnahmen hätten), dem Hinterherreisen zu möglichst vielen Aufführungen.

33Bataille: Die Erotik, S. 246.

34Barthes: Die Lust am Text, S. 51.

35Es ist daher nur folgerichtig, dass zwei der Bücher, die sich mit körperlichen Reaktionen auf Gesang beschäftigen, mit ihrer eigenen Biografie beginnen (vgl. dazu Koestenbaum und Abel). Exemplarisch hat dies Roland Barthes vorgeführt; vgl. Kolesch: Roland Barthes, S. 128f.: „,Über die Musik lässt sich kein anderer Diskurs halten als der der Differenz – der Bewertung.‘ (Barthes, ES 279) Diese Bewertungsebene ist für Barthes ganz konkret der eigene Körper, der fasziniert, der erotisch erregt ist und der eine Stimme begehrt. […]. Und insofern findet Barthes’ Reden über Musik in einer erotisch-sexuellen Sprache der Liebe statt, in der sich das Subjekt in all seiner Verletzlichkeit zeigt, vollkommen ungeschützt.“

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