5.1. King Lear
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Ähnlich wie »Maß für Maß« ist »King Lear« als spätes Shakespearestück (1605/1606) zu einem Zeitpunkt entstanden, als der Einfluss der italienischen Illusions- und Perspektivbühne sich in England geltend zu machen beginnt und zumindest das privilegierte Publikum des Hoftheaters seit zwei oder drei Jahren erste illusionistische Szenerien zu Gesicht bekommt. (Inigo Jones’ hatte seine erste Studienreise nach Italien zwischen 1598 und 1603 unternommen.) Tatsächlich ist »King Lear«, neben allem anderen, zunächst einmal eine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Raum, dessen Bewohner keinen vorbezeichneten Ort mehr haben und dessen Entwicklung sich auch auf dem Territorium der Bühnenformen niederschlägt. Das Problem dieses Raumes wird von Shakespeare direkt mit dem der Genealogie verkoppelt. Damit bietet sich im hier verhandelten Kontext die Lektüre dieses Stückes geradezu von selbst an.
Beginnen wir wieder mit dem Topos der »verkehrten Welt«, der ja bereits in »Maß für Maß« auftauchte, wo »der Säugling die Amme an der Nase« führte. Drastischer noch als dort erfahren die Figuren in »King Lear« die Welt als eine umgekehrte, ins Chaos gedrehte. Schon in der zweiten Szene des ersten Aktes erklärt Gloucester:
Glou. (… ) Love
cools, friendship falls off, brothers divide: in cities,
mutinies; in countries, discord; in palaces,
treason; and the bond crack’d...