Auftritt
Theater Marie: Im Zweifel für den Zweifel
„in dubio“ – Text & Regie Maria Ursprung, Ausstattung Saskya Germann, Sounddesign Victor Moser
von Anna Bertram
Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Maria Ursprung Theater Winkelwiese Theater Winterthur Kurtheater Baden Bühne Aarau

Zweifel führt in letzter Konsequenz zur Frage nach Wahrheit. Zumindest, wenn er ausgehalten und ernst genommen wird. „in dubio“ vom Theater Marie aus dem Schweizer Aargau lässt sich auf dieses Gedankenspiel ein. Der Abend der Regisseurin und Autorin Maria Ursprung bewegt sich zwischen Fiktion und Dokumentation und ist eine Reise in die Welt dessen, was uns glauben und zweifeln lässt. Und das vor Gericht wie zwischen uns Menschen. Die Form ist clean und nahezu minimalistisch, wach und scharf. Der Abend öffnet einen feinen Zwischenraum, der den schmalen Grat zwischen Behauptung und Wahrheit, zwischen Glauben und Zweifel erkundet. Im Rechtssystem, wie auch im Theater. Denn behauptet wird in beiden.
Helles Licht scheint auf den Boden des Foyers im Kurtheater Baden. Graue Aktenordner stehen im Raum herum und die silbrigen Schiebevorhänge des Foyers fallen so akkurat geradlinig runter, dass man fast denken möchte, man befinde sich selbst in einer großen Akte. Die drei Schauspieler:innen Manuel Bürgin, Miriam Japp und Josef Mohamed treten schlicht und elegant auf. Die Richterin im lila Anzug, Manuel Bürgin als Rechtsanwalt in einem blauen und Josef Mohamed als Gerichtsschreiber in Schwarz. Das Foyer mit einer übergroßen Waage darauf stehend wirkt genauso schick und steril wie die Kostüme, und ist bereits eine klare Setzung: Wir sind im öffentlichen Raum, nicht auf der abgeschlossenen Bühne. Rechtsprechung geht uns alle an. Doch der Rechtsanwalt vergisst bereits direkt zu Beginn seinen Text – nein, das kann nichts Gutes für die Unanfechtbarkeit der Wahrheit bedeuten. Unklar bleibt auch, wo wir uns befinden. Man könnte eine Kantine in einem Gerichtsgebäude vermuten – aber es bleibt ein Gefühl. „Du hier?“, treffen die Charaktere aufeinander. Der Abend hat überhaupt etwas Skurriles an sich. Alle drei Figuren tragen die Namen ihrer Schauspieler:innen, die einen kennen sich über Familie oder Studium. Es ist kein psychologisches oder naturalistisches Schauspiel, viel eher eines, das die Zuschauer:innen zu einem tatsächlichen Spiel zurückführt: ein lustvoller Schlagabtausch inklusive Dispute und Reibungen. Die 1,5 Stunden machen Spaß.
Dass die Zeit in einer Inszenierung um Rechtswesen und Justiz so leicht und unbekümmert vergeht, verdankt „in dubio“ vor allem dem fantastischen Schauspiel, das gezielt durch den Abend führt. Dicht im Miteinander und immer wieder auch mit dem Publikum, tasten die drei sich über ihre (vermeintlichen) Biografien, Professionen und Recherchen an die großen Fragen der Justiz heran. Welche Rolle spielen Unsicherheiten und Vertrauen im gesellschaftlichen Miteinander? Was bedeutet das für eine Gerichtsbarkeit? Es ist ein Schauspiel, das in einen Sog zieht. Der Text ist pointiert und baut vordergründig nicht Rollen oder Charaktere, sondern vor allem Stimmen, die in Dialoge treten. So wurde ein Kugelschreiber gestohlen oder sagen wir: Er ist verschwunden vor vielen Jahren und die Richterin Miriam Japp scheint verdächtig oder sagen wir: Mit Schuld ist alles einfacher, erzählt uns der Abend, doch damit bleibt vieles noch offen. Persönliche Geschichten und Verknüpfungen, philosophische und bürokratische Fragen finden ihren Weg durch das Rauschen des Abends an seine Oberfläche. Immer wieder vermischt sich eine auditive Ebene – mit dröhnender Stille, weit genutzter Stereobreite oder eingesprochenem Text – in klarem Sound, mit dem Raum und stapelt Ebenen. Es geht nicht nur um das Recht, es geht auch um Menschsein. Rechtsspruch ist eine Sprechhandlung. Und so ist Hauptrequisit ein Tischmikrofon, das aber in der Hand getragen wird und immer wieder zum Reden und Verkünden genutzt wird.
Zum Ende hin wird der Abend politischer, die große Waage auf der Bühne bewegt sich immer mehr und auch die automatisierten Vorhänge fahren schließlich, wenn auch etwas träge und brav zur Seite. Uns eröffnet sich eine Glasfront zur Außenwelt – Hallo Welt, wir sind ein Teil von dir. Missstände in Justiz und Rechtsprechung werden konkret angesprochen, Hexenverbrennungen von vor 300 Jahren werden benannt und damit die Frage gestellt, ob wir der Wahrheit unserer Zeit entkommen können. Was wir wohl heute in unserem Justizsystem als selbstverständlich erachten, das in 300 Jahren unmöglich erscheinen wird? Es bleibt bei offenen Fragen. Denn so ganz kommt „in dubio“ aus dem Dilemma des Sichentscheidens nicht heraus, der Abend behält in all seiner Griffigkeit etwas Unbekümmertes. Da ist keine artikulierte Wut, keine politische Sprengkraft im Zweifel. Eine selbsterfüllende Prophezeiung, vielleicht: Zweifel bleibt eine Frage nach dem Konstruieren von Wahrheit und Wirklichkeit, er ist keine Aussage. Ob nun vor Gericht oder im Theater - letztendlich ist Wahrheit dann, wenn wir uns entscheiden, sie anzunehmen. Und so ist „in dubio“ doch einer dieser Abende, an denen der gestohlene Kugelschreiber irgendwann die Welt bedeutet. Bedeuten kann – wenn man sich entscheidet, daran zu glauben.
Erschienen am 8.5.2023