Theater der Zeit

Komplexität ertragen

Fünf Theatertexte von einem nur scheinbar weit entfernten Kontinent

von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Erschienen in: Scène 19: Neue französische Theaterstücke (11/2016)

Assoziationen: Dramatik Afrika

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Seit einigen Jahren hat sich eine neue Generation von Theaterautoren aus den ehemaligen französischen und belgischen Kolonien südlich der Sahara auch in Europa durchgesetzt. Die meisten dieser Künstler begannen ihre Karriere als Schauspieler und schöpfen auch in ihrer Autorentätigkeit aus dem anarchischen Spiel mit Theatercodes, das häufig die Gewohnheiten eines westlichen Publikums erschüttert.

Intellektuell prägend für diese Generation sind zwei wichtige Vorbilder: der in Martinique geborene Politiker und Lyriker Aimé Césaire (1913 – 2008) und der kongolesische Lyriker, Dramatiker und Romancier Sony Labou Tansi (1947 – 1995). Césaire, der als Erster eine franko-afrikanische Identität verteidigte, verlieh ab den 1940er Jahren mit der »Négritude«- Bewegung einem neuen literarischen und politischen Selbstbewusstsein Ausdruck. Labou Tansi prangerte einerseits in grotesken Dramen die monströsen Auswüchse der postkolonialen Diktaturen an und erfand andererseits eine Sprache, die das »reine« Standardfranzösisch, das nach wie vor an den Schulen der ehemaligen Kolonien gelehrt wurde, durch die Verzerrung von Syntax und Vokabular »afrikanisierte«: »Es stimmt, dass die ersten afrikanischen Schriftsteller dazu neigten, die französischen Vorbilder zu imitieren, durch die sie selbst literarisch geprägt waren: aus Respekt für eine Sprache, die sie nur unzureichend beherrschten. Ich denke, man muss versuchen, in die Wörter hineinzublasen, wie man in ein Glas bläst, die Wörter und die Syntax durcheinanderzuwirbeln und seine eigene Sprache zu erschaffen. (...) Wie kann ich meine eigene Sprache im Inneren einer Sprache finden, die zwar eine fremde Sprache ist, doch gleichzeitig auch mir gehört? Wie kann ich durch sie meinen Traum, die Dimension meines Traums innerhalb irgendeiner bestehenden Realität erreichen?« (Interview 1995) Sowohl Césaire als auch Labou Tansi stellten die Frage nach Identität und die Auseinandersetzung mit politischen Machtverhältnissen ins Zentrum ihrer Arbeit. Kunst war für sie kein ästhetischer Selbstzweck, sondern Mittel im Kampf um Anerkennung und zur Untersuchung historischer Verwerfungen – vom Sklavenhandel bis hin zu den gewalttätigen Konflikten der Gegenwart. »Boxer la situation – Gegen die Verhältnisse anboxen« nennt auch Dieudonné Niangouna, der erste unserer Autoren, als Ziel und Voraussetzung seiner Theaterarbeit.

Diese 19. Ausgabe von SCÈNE ist dem Schaffen von fünf frankophonen Theatermachern gewidmet und den Fragen, die sie uns – dem europäischen bzw. deutschen Publikum – stellen: Wie nehmen wir als Leser und Zuschauer Texte wahr, die ein anderes Verständnis von Narration und Theatralität haben, unsere eurozentrische Perspektive Lügen strafen und vollkommen selbstverständlich mit sprachlicher, formaler und kultureller Vielfalt umgehen?

Die vorliegende Anthologie ist also in mehrfacher Hinsicht ein Wagnis. Einerseits bemüht sie sich, dem Leser Texte nahezubringen, die ihm zunächst einmal reflexartig weit entfernt erscheinen mögen. Andererseits ist auch die Übersetzung dieser Art zeitgenössischen Theaters ein komplexes Unterfangen: Wie übersetzt man eine Sprache, die sich an der Sprache der Kolonisatoren rächt, sie verzerrt, ironisiert oder mit Wendungen anderer Lokalsprachen durchsetzt? Und – was im aktuellen deutschen Kontext beinahe noch schwieriger ist – wie vermeidet man dabei rassistisch aufgeladene Klischees? Einfache Antworten kann es auf diese Fragen nicht geben ...

Das Faszinierende an den hier präsentierten Künstlern ist ihre Mobilität und die Leichtigkeit, mit der sie die scheinbaren Grenzen zwischen »Erster« und »Dritter Welt« überwinden. Fast alle leben sie zwischen Europa und ihrem Heimatland, profitieren zwar von den Vorteilen europäischer Kulturnetzwerke und Fördermöglichkeiten, ohne dabei jedoch die Produktion in der Heimat zu vergessen. Diese Position zwischen den Kontinenten beschreibt auch Dieudonné Niangounas Monolog »Nennt mich Muhammad Ali«.

 

Der 1976 in Brazzaville geborene Totaltheatermacher ist der Superstar unter den Dramatikern des frankophonen Afrika. Als Regisseur, Schauspieler, Vielschreiber und politisch engagierter Künstler ist er auf dem gesamten Kontinent zu einer Instanz geworden, an der keiner mehr vorbeikommt. Er veröffentlicht seine Texte in Frankreich, produziert zwischen Afrika und Europa und leitet nebenbei seit 13 Jahren das von ihm gegründete Festival »Mantsina-sur-scène« in Brazzaville. In seiner künstlerischen Arbeit zieht er keine Grenze zwischen den Kontinenten, sondern zeigt gemeinsame Problematiken und Verstrickungen auf. In seinen Stücken verbinden sich die unterschiedlichsten künstlerischen Einflüsse zu mäandernden Textflächen, die in ihrem epischen Furor die Narration in den Hintergrund drängen. Auf den Vorwurf der Unverständlichkeit hat der regieführende Autor Folgendes zu entgegnen: »Es ist nicht leicht für uns, uns Gehör zu verschaffen und uns verständlich zu machen, denn häufig wirft man uns vor, wir wüssten gar nicht, wie man Theater macht. Dies mag in einigen Fällen durchaus zutreffen, doch viel wichtiger ist es, die allzu scharf gezogenen Grenzen zwischen Ausdrucksformen aufzulösen. Meine Großmutter erzählte von morgens bis abends Geschichten, sie war eine Art Homer. Und natürlich tauchen in meiner Arbeit die Autoren auf, die ich liebe, Heiner Müller und Koltès, die ich verschlungen habe ... und wenn all diese Dinge gleichzeitig herauskommen, ergibt das eine Art Frankenstein-Syndrom.Wir sind die Frankensteins eurer Welten. Es ist wichtig, dass ihr uns als diese Frankensteins akzeptiert.« (Schlussrede Avignon 2014) »Nennt mich Muhammad Ali« ist für Niangounas Verhältnisse ungewöhnlich klar geschrieben. Verfasst für den in Brüssel lebenden burkinischen Schauspieler und Kulturmanager Etienne Minoungou, präsentiert der Monolog einen schwarzen Schauspieler, der vor weißem Publikum den zur afro-amerikanischen Ikone gewordenen Schwergewichtsweltmeister Ali verkörpert und immer wieder aus der Rolle fällt. Diese Situation wird zum Ausgangspunkt einer Reflexion über schwarze Identität und Geschichte und zeitgenössisches Theaterschaffen in Afrika und Europa. Dabei spielt der Autor mit unterschiedlichen Formen der Ansprache: einerseits der schwarze, afrikanische Schauspieler in Europa, der abwechselnd zu einem weißen Theaterpublikum und einer schwarzen Community spricht, andererseits seine Rolle, Muhammad Ali, der die Geschichte der Schwarzen in den USA auf selbstbewusste, aggressive Art und Weise reflektiert und sich weigert, sich von der weißen Elite instrumentalisieren zu lassen. Scheinen die Positionen und Ansprechpartner zu Anfang des Textes noch klar definiert, verschwimmen sie später zunehmend. Der Schauspieler verschmilzt mit seiner Rolle – und die mit »ihr« angesprochenen Zuhörer scheinen abwechselnd schwarz und weiß,Täter und Opfer zu sein und verschmelzen zu einer ambivalenten Gemeinschaft. Diese Aporien machen Niangounas Text so stark. Was einerseits wie ein Manifest der Selbstermächtigung daherkommt und in Sprachwucht und Duktus an Reden von Malcolm X erinnert, nimmt sich immer wieder selbst den Wind aus den Segeln und hebelt die allzu deutliche Dialektik poetisch aus.

 

Zahlreiche Aporien finden sich auch in Julien Mabiala Bissilas Text »Im Namen des Vaters, des Sohnes und der J.M. Weston«, der von der Rück- kehr zweier junger Dandys in ihre vom Krieg zerstörte Heimatstadt erzählt. Auch Bissila stammt aus der Republik Kongo und gehört der Generation an, die unter dem Eindruck des Bürgerkriegs (1997 – 1999) zu schreiben begann. Auch er ist Schauspieler, Regisseur und Dramatiker in Personalunion. Statt nach Überlebenden suchen die modebewussten Brüder in »J.M. Weston« nach einem Paar luxuriöser Lederschuhe – eine augenzwinkernde Hommage an die Bewegung der kongolesischen sapeurs, die inmitten von Gewalt und Elend durch Humor, Stil und Markenkleidung eine trotzige Würde bewahren. Wie bei Niangouna ist die Rahmensituation klar: Die beiden Schauspieler Criss und Cross sprechen in Stand-up-Comedy-Manier zu einem Theaterpublikum und kündigen ihr Stück an. Als dieses endlich beginnt, entpuppt es sich als rein verbale Evokation vergangenen Grauens, in die sich hin und wieder tatsächliche Begegnungen mit Überlebenden mischen. Die Sprache ist eruptiv und poetisch, behält selbst in der Schilderung der schlimmsten Grausamkeiten noch einen surrealen (nicht immer geschmackssicheren) Humor – und an einigen Stellen prallen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und poetische Wahrnehmung derart vehement aufeinander, dass der Leser die Orientierung verliert. Der zornige Humor, der Rückgriff auf Slang und Popkultur und die Vorliebe für endlose Wortkaskaden verleihen dem Text etwas von Slam-Poetry. Sein nervöser, gebrochener Rhythmus ist jedoch gleichzeitig die Sprache von Trauma und Genozid. Bei allem Dandytum steckt hinter den verspielten Metaphern und Sprachverdrehungen das blanke Grauen. Die vom Autor ursprünglich in Paris inszenierte Produktion hat im Frühsommer 2016 eine überaus erfolgreiche Tournee auf dem afrika- nischen Kontinent absolviert – vom frankophonen Brazzaville bis hin zum überwiegend anglophonen Publikum in der ruandischen Hauptstadt Kigali.

Mit Traumata beschäftigt sich auch der Guineer Hakim Bah. Dieser jüngste unserer Autoren zeigt in »Auf dem Rasen« die Niederschlagung einer Demonstration als blutrünstiges, groteskes Puppenspiel à la »Ubu Roi«. Ein Kommandant und seine Gefreite massakrieren gemeinsam eine demonstrierende Menge und fallen schließlich sexuell übereinander her – bis den Kommandant wegen Menschenrechtsverletzungen die gerechte Strafe ereilt und seine Soldatin von ihm schwanger zurück- bleibt. Jenseits aller einseitigen Schuldzuweisungen gelingt Hakim Bah das Kunststück, seinen monströsen Protagonisten auch echte Nähe und Zärtlichkeit zuzugestehen. Beide haben Traumata von Folter und politischer Gewalt erlebt, kommen sich nun durch das Teilen dieser schmerzhaften Erfahrung näher – und wiederholen doch genau das, was der Generation ihrer Eltern angetan wurde.

 

1987 geboren, beginnt Bah während seines Ingenieursstudiums in Conakry zu schreiben, zunächst Lyrik und Novellen, bis er sich schließlich dem Theater zuwendet. Literatur ist für ihn eine Möglichkeit zur künstlerischen Befragung der Vergangenheit, ein Weg zu Selbstverständnis und dem Aufbau einer Zukunftsperspektive. Wie er 2014 in einem Interview erzählt, ist die Geschichte seiner Heimat Guinea repräsentativ für einen Großteil des afrikanischen Kontinents: »Unsere Geschichten ähneln einander. Die Geschichte Guineas erzählt auch die Geschichte des Kongo. Die meis- ten afrikanischen Länder haben Revolutionen erlebt, in deren Verlauf dieselben Methoden eingesetzt wurden: Folter, Erhängungen, Vergewaltigungen usw. Ich beschäftige mich mit dieser Geschichte, um sie zu begreifen.« Das Stellen künstlerischer Fragen erscheint ihm dabei wichtiger und produktiver als die Stellungnahme zu konkreten politischen Sachverhalten. Somit ist die eigentliche Hauptfigur von »Auf dem Rasen« die eigentümlich reduzierte, partikelartige Sprache des Textes. Als hätten Krieg und Verrohung auch die Kommunikationsfähigkeit der Menschen zerstört, unterhalten sich der Befehlshaber und seine Untergebene in einem Stakkato aus fragmentarischen Worthülsen, das kaum mehr Emotion zulassen kann. Kongenial übersetzt von dem deutschen Dramatiker Claudius Lünstedt erinnert dieser Text an die sprachlich versehrten Figuren eines Werner Schwab.

Wie Hakim Bah stammt auch der Burkiner Aristide Tarnagda aus einem afrikanischen Land, das – im Gegensatz zur weitgehend christlich geprägten Republik Kongo – von einer starken muslimischen Mehrheit dominiert wird. Dies macht sein vehementes Eintreten für Frauenrechte und weibliche Selbstbestimmung zum Politikum. Tarnagda ist Schauspieler, Autor und Regisseur und leitet das Festival Les Récréâtrales in Ouagadougou. Seine Regiehandschrift ist auch im Text von »Und wenn ich sie alle umbringe, Madame?« deutlich spürbar. Irgendwo an einer chaotischen Großstadtkreuzung, kurz bevor die Ampel von Rot auf Grün umschaltet, spricht der Migrant Lamine eine Autofahrerin an und erzählt ihr in gehetztem Ton seine Lebensgeschichte. Es geht um Elend, Exil, Träume und Enttäuschungen, und um das bessesene Bedürfnis danach, nicht stehen zu bleiben – ganz als spräche aus dem Protagonisten der gesamte afrikanische Kontinent. Aus der Textfläche schälen sich mehrere Charaktere heraus: Lamine, der vor seiner Verantwortung als Vater geflohene Migrant, sein verstorbener Freund Robert und seine Eltern. Doch legt der atemlose Sprachduktus, der stark an Bernard-Marie Koltès’ »Die Nacht kurz vor den Wäldern« erinnert, den Verdacht nahe, es könnte sich auch um einen inneren Monolog voller Widersprüche handeln. Poetisch, zuweilen politisch, vertraut Tarnagda ganz auf die Kraft seiner Sprache, um die schmerzhafte Welterfahrung seines Protagonisten zusammenzuhalten. Trotz seines literarischen Eigenwerts ist der Text eindeutig als Partitur, als Material für eine Inszenierung gedacht. Der Autor selbst hat ihn 2013 beim Festival d’Avignon mit großer Formstrenge und Musikalität auf die Bühne gebracht.

 

Léonora Miano, die einzige Frau unserer Auswahl, wuchs in Kamerun auf und lebt seit 1991 in Frankreich. Als erfolgreiche, mehrfach ausge- zeichnete Romanautorin verleiht sie seit über einem Jahrzehnt Protagonisten eine Stimme, die zwischen Europa und Afrika nach einer eigenen spezifischen Identität suchen, die sie selbst als »afropéenne« bezeichnet. Der vorliegende Text »Das Grab« ist der dritte Teil der Trilogie »RED IN BLUE«, in der sich Miano erstmals an der großen Theaterform versucht.

In einem fiktiven Land südlich der Sahara folgen wir der Reise von Jedidiah, einer offensichtlich in den USA aufgewachsenen Schwarzen, die ihren verstorbenen Bruder nach dessen Willen in der Erde der mythischen »Heimat« bestatten will. Bewaffnet mit einem DNA-Test, der die Abstammung ihrer Familie nachweist, begibt sie sich in ein kleines Dorf im Hinterland und versucht die Gemeinschaft davon zu überzeugen, den Bruder als einen der ihren anzunehmen. In dieser Variation über den Antigone-Mythos, die gleichzeitig eine Reflexion über die unterschied- lichen schwarzen Bewegungen in den USA und auf dem afrikanischen Kontinent darstellt, sucht die Autorin nach einem Weg, um zeitgenössische Identitätsproblematik und jahrhundertealtes postkoloniales Erbe gemeinsam zu verhandeln. Was zunächst als Stationendrama beginnt, kulminiert in einem dialogischen Ideendrama. Wie in einer Art Agora machen alle Figuren ihren Standpunkt klar – von der Seherin über die Dorfältesten bis hin zum Geist des Bruders selbst. Als dem Verstorbenen zuletzt ein Denkmal am Meeresufer errichtet wird, scheinen dadurch Vergangenheit und Gegenwart, materielle Welt und Geisterwelt versöhnt – und der Weg in eine neue Zukunft offen.

 

In einer eleganten, hoch stilisierten Sprache zeigt Miano – als einzige unserer Autoren – weibliche Charaktere als autonom handelnde Figuren. Außerdem löst ihr Text die Frage nach der afrikanischen Vergangenheit aus der eurozentrischen Perspektive und wirft so einen anderen Blick auf die Geschichte von Migration und schwarzer Kultur. Ähnlich wie Dieudonné Niangouna in »Nennt mich Muhammad Ali« nimmt Miano den Weg über die afro-amerikanische Kultur, um universelle Fra- gen zu stellen: Wie lässt sich ein Zusammenleben, eine menschliche Gemeinschaft schaffen, die die schmerzhafte Vergangenheit von Sklavenhandel und Kolonialherrschaft nicht ausklammert und gleichzeitig unterschiedliche Perspektiven zulässt? Mianos Entscheidung, einen Theatertext zu verfassen, scheint weniger ästhetisch als politisch motiviert. »Das Grab« liest sich wie ein Lehrstück mit klarer Botschaft, das wenig dem künstlerischen Zufall überlassen möchte. Im Gegensatz zu den Autoren-Regisseuren Niangouna, Bissila und Tarnagda, die ihre Texte als Inszenierungsmaterial mit bewusst eingebauten Leerstellen begreifen, versucht Miano durch extrem detaillierte Szenenanweisungen auch als Autorin noch Kontrolle über die Regie zu behalten. Eine Zwischenstellung nimmt Hakim Bah ein, der zwar keinerlei Interpretation vorgeben möchte, doch andererseits eine extrem starke Form vorlegt.
Natürlich kann man sich fragen, ob und inwieweit die hier präsentierten Autoren tatsächlich repräsentativ für eine Generation zeitgenössischer afrikanischer Künstler sind. Wir sind uns durchaus bewusst, dass die Kategorie »Autoren aus dem französischsprachigen Afrika« problematisch ist. Gleichzeitig äußern sich all diese Künstler explizit im Namen eines Kontinents, der in die Zukunft blickt und sich rasant verändert. Natürlich muss der deutsche Leser und Theatermacher selbst entscheiden, was diese Texte im aktuellen deutschen Kontext zu sagen haben. Ob ein Manifest wie »Muhammad Ali«, grausame Heterotopien wie »J.M. Weston« oder »Auf dem Rasen«, poetische Aufschreie wie »Und wenn ich sie alle umbringe, Madame?« oder utopische Gesellschaftsprojekte wie »Das Grab« im deutschen Stadttheater ihr Publikum finden, ist ungewiss. Sicher ist, dass alle diese Texte Position beziehen und erwartbare Klischees und Vorstellungen durcheinanderwirbeln. Sie alle zeichnet ein zorniger zukunftsgewandter Optimismus aus, der uns in Europa immer fremder wird.

Wer von zeitgenössischer afrikanischer Dramatik ausschließlich die künstlerische Verarbeitung traumatischer Erlebnisse und jahrhundertelanger Demütigungen erwartet, wird hier enttäuscht werden. Zwar spie- len die Themen Sklaverei, Genozid und Migration durchaus eine Rolle in den vorliegenden Texten, doch sind sie lediglich Vorwand für einen kreativen, äußerst eigensinnigen Umgang mit Sprache und Perspektiven. Bestimmt ließen sich auch formale und inhaltliche Argumente finden, um die hier vorliegenden Text als sexistische und rassistische Wiederholungen bestehender Afrika-Klischees abzutun. Selbstverständlich ist Niangounas Entscheidung, seinen Protagonisten bei seinem wütenden Rundschlag durch die Geschichte schwarzer Unterdrückung inflationär das von der afro-deutschen Community zu Recht gebrandmarkte »N-Wort« zu verwenden, diskutabel. Um das Spannungsfeld zwischen Provokation und empowerment, von dem dieser Text lebt, nicht durch Zensur zu zerstören, haben wir die Übersetzung ganz bewusst nicht politisch korrekt geglättet. Keiner unserer Texte lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen. Opfer und Täter, Erfolg und Flucht, Argument und Widerspruch sind hier oft untrennbar miteinander verknüpft. Insofern ist SCÈNE 19 nicht der Versuch, durch eine Textauswahl ein repräsentatives Afrikabild zu zeichnen oder gar Erklärungen zu liefern. Stattdessen handelt es sich um eine Einladung zum einem selbständigen Nachdenken jenseits vereinfachender Klischees.

Der kamerunische Philosoph Achille Mbembe hat dies prägnant in einem Interview mit der Tageszeitung Libération formuliert: »Was die Menschheit mittlerweile gemeinsam hat, ist die Tatsache, dass wir dazu aufgerufen sind, in direktem ungeschützten Kontakt miteinander zu leben, und nicht eingeschlossen innerhalb von Grenzen, Kulturen und Identitäten. (...) In direktem ungeschützten Kontakt miteinander zu leben, setzt voraus, dass wir erkennen, dass ein Teil unserer sogenannten ›Identität‹ in unserer Verletzlichkeit begründet ist. Diese Verletzlichkeit gilt es als einen Aufruf dazu zu verstehen, Solidaritätsbeziehungen zu knüpfen, und nicht dazu, sich Feinde zu schaffen. Leider ist das alles zu kompliziert für das Temperament unserer Zeit, die nach Klischees und vorgefertigten Ideen ausgerichtet ist. Je komplexer die Welt wird, desto stärker neigen wir dazu, auf extrem simple Ideen zurückzugreifen.« (Interview Libération 1. Juli 2016) Möge unsere Textauswahl zu komplex gedachten Inszenierungen im deutschen Sprachraum führen!

 

Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand, im Juli 2016

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