Diskurs
Spielen ist eine ernstzunehmende Arbeit
Dokumentation eines fiktiven Workshops zu Adultismus am Theater
Larissa, Pauri und Thalia lernten sich 2021 in einem Online-Workshop zum Thema „Adultismus und Theater“ kennen. Seitdem haben sie sich in unterschiedlichen Kontexten weiter damit auseinandergesetzt und in mehreren Workshops mit jugendlichen und erwachsenen Theaterschaffenden über Hürden im Theatersystem gesprochen. Eine Auswahl des gesammelten Wissens, der Gedanken und Ideen fassen sie nun in Form eines imaginierten Workshops zusammen.
von Pauri Röwert, Thalia Schoeller und Larissa Probst
Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)
Assoziationen: Debatte Theater an der Parkaue
PROLOG
Es ist heiß in der Stadt. Die Fassaden beginnen zu glühen. In einem kühlen Raum in einem großen Gebäude sortieren drei Menschen ihre Notizzettel. Ein Beamer surrt. Menschen strömen in den Raum. Junge und erwachsene Künstler*innen, Theatervermittler*innen, ein paar Dramaturg*innen. Alle sind hier aus dem gleichen Grund: Um über Adultismus im Theater zu sprechen.
Thalia, Pauri und Larissa blicken sich an, dann treten sie gemeinsam auf.
SZENE 1: ADULTISMUS IM ALLTAG
„Endlich habe ich ein ‚Wort‘ für das Ganze!“
Der Workshop beginnt mit der Frage nach alltäglichen Situationen, in denen sich Adultismus zeigt. Die Teilnehmer*innen schreiben mit bunten Stiften auf bunte Zettel.
Wann habe ich Adultismus erlebt? (Auswahl)
• Immer und überall
• Aufsteh- und Bettgehzeiten, Kleiderauswahl
• Kita, Schule, Lerninhalte, Hausaufgabenkontrolle
• Essenszeiten, Essensauswahl und -menge, Tischregeln
• Sport, Rausgehen, Gesundheit
• Hobbies, Freizeitgestaltung, Medienzeit/Medienkonsum
• Fragen müssen für alles: „Darf ich…?“
• Ruhe, Lautstärke, Privater Raum
• Verbote jeglicher Art, Regeln, Bestrafungen – auch von fremden Erwachsenen
• Entscheidungen, Kritik üben, politischer Aktivismus
• Fehlendes Wahlrecht
• Finanzielle Abhängigkeit
• „Jetzt unterhalten sich die Erwachsenen!“
• „Jaja, ich war auch mal so idealistisch wie du, aber wenn du erwachsen bist, wirst du sehen, das ist unrealistisch und naiv.“
• „Das erkläre ich dir später. Das verstehst du noch nicht.“
• Als Erwachsene „besser“ wussten, wie meine Zukunft aussehen soll
• Als ich als „dummer pubertierender Jugendlicher“ bezeichnet wurde
• Als ich ein FSJ gemacht habe
• Als Berufsanfängerin immer wieder, wenn ich in bestehende Systeme trete
Wann habe ich Adultismus reproduziert? (Auswahl)
• Wenn ich nur Fragen stelle, deren Antworten ich erwarte
• Gegenüber meinem kleinen Bruder
• Wenn ich mich ständig auf eigene Erfahrungen berufe
• Als ich in einer Gruppe die Älteste war
• Wenn junge Menschen sprechen, denke ich oft „Ah, diese Person hat offensichtlich bestimmte Erfahrungen noch nicht gemacht und weiß nicht, dass es eigentlich anders läuft.“
• Wenn ich Spielideen einschränke und lenke
• Wenn ich die Aussage „keine Lust“ oder „lass mich in Ruhe“ als Faulheit abtue
• Wenn ich meine, zu wissen, was mein Kind möchte und Entscheidungen treffe ohne zu fragen
Die erste Runde endet. Alle beobachten für ein paar Minuten das Meer aus Zetteln, das über die Wände schwappt. Dann geht es weiter.
SZENE 2: ADULTISMUS AM THEATER
„Spielen ist eine ernstzunehmende Arbeit.“
Durch den Raum schallt es: Willkommen am Theater. Am Theater mit und für alle. Wo zeigt sich Adultismus im Theater? Die Worte fließen aus Kugelschreibern und fliegen durch den Raum:
„Adultistisch finde ich am Theater, wenn Erwachsene entscheiden, was gespielt wird und welche Themen relevant sind. Wenn Stücke pädagogisch wertvoll sein müssen und Erwachsene am besten wissen, was das heißt. Wenn Erwachsene entscheiden, wer die Stücke sehen darf und wer nicht. Wenn Erwachsene sich ansprechende Texte für andere Erwachsene überlegen, damit diese dann mit jungen Menschen ins Theater kommen. Wenn nur Erwachsene auf der Bühne stehen, Regie führen, Autor*innen sind. Wenn Erwachsene allein entscheiden, wie Kinder repräsentiert werden. Wenn Kinder von Erwachsenen inszeniert und produziert werden, sie zu Material werden. Wenn junge Menschen für die gleiche Arbeit nicht bezahlt werden. Wenn Theater sich mit jungen Stimmen schmücken, obwohl Erwachsene die Grenzen der Mitsprache alleine festlegen. Wenn der einzige Raum für junge Menschen der Zuschauer*innenraum ist und dann die Stühle auch noch zu groß sind.“
Alle schauen sich um, kratzen sich betreten am Kopf. „Und wo können wir nun anfangen, festgefahrene Strukturen zu verändern?“
SZENE 3: GRUPPENARBEIT
„Das Theater könnte ein Ort sein, der neue Vorstellungen von Ähnlichkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen kreiert.“
Gruppen werden gebildet. Gemeinsam wird danach gesucht, wie (künstlerische) Begegnungen zwischen sogenannten Kindern und sogenannten Erwachsenen im Theater neu gedacht werden können. Alle verteilen sich, vertiefen sich in hitzige Diskussionen. Die Köpfe laufen heiß, die Zeit ist zu kurz. In den Fluren überschlagen sich Stimmen und Ideen:
Inszenierungsprojekt mit Kindern und Erwachsenen:
„Im Kern des Projekts steht die Idee, dass Kinder Erwachsene inszenieren. Junge Menschen führen Regie und werden dabei von einer Mentor*in begleitet, der*die ihnen beratend zur Seite steht. Vor Projektbeginn: ein Crashkurs in Regie. Und einen Kurs zum Thema Adultismus, den alle Projektbeteiligten verpflichtend besuchen müssen. Auf der Bühne steht ein gemischtes Erwachsenenensemble aus professionellen und nicht-professionellen Darsteller*innen. Auch das Bühnen- und Kostümbild sowie das Licht- und Tondesign werden von jungen Menschen konzipiert. Das Projekt wird für eine Dauer von mindestens drei Monaten disponiert, damit genügend Zeit ist zu experimentieren und sich kennenzulernen. Der ganze Prozess wird zudem von zwei Adultismus-Expert*innen begleitet – einem Team aus einem jungen und einem erwachsenen Menschen.“
Kinder- und Jugendbeiräte:
„Wir gründen einen Kinder- und Jugendbeirat, der unmittelbar in die Konzeption von neuen Projekten involviert wird und schon bei der jeweiligen Antragstellung mitschreibt. Dabei geht es sowohl um Vermittlungsprojekte als auch um die Auswahl der neuen Inszenierungen für die kommende Spielzeit. Der Beirat trifft sich regelmäßig im Theater und erhält intensive Einblicke in die inneren Abläufe einer solchen Institution. Im Beirat gibt es eine große Altersdiversität, sodass sowohl junge Kinder als auch ältere Jugendliche dabei sind. Der Beirat soll außerdem über ein eigenes Budget verfügen, das er selbstständig verwalten kann.“
Ein neues, adultismuskritisches Theater für junges Publikum:
„Für unser neues Theater müssen wir einen Ort finden, der vorher keinem gehört hat und an dem sich keiner auskennt. Das Theater wird gemeinsam von einem Kollektiv aus jungen und erwachsenen Menschen konzipiert, aufgebaut und geleitet. Der Theatersaal soll flexibel bleiben – mal Aufführungsraum, mal Indoorspielplatz mit Platz zum Toben. Es gibt viele Pausen und Regeln werden immer wieder neu im Kollektiv besprochen – z. B. ob während der Vorstellungen Popcorn und Snacks gegessen werden dürfen. Das Foyer hat auch tagsüber geöffnet zum Abhängen. So sollen direkte Begegnungen zwischen jungen und erwachsenen Menschen jederzeit entstehen können. Im neuen Theater sollen immer wieder Produktionen von Kindern für Kinder entstehen – für Erwachsene gibt es dann ein spezielles Vermittlungsformat.“
Alle kommen wieder zusammen, hören sich die Ideen an. Träumen von den Visionen. Aber da ist noch etwas, das gesagt werden will. Müde und resigniert sprechen alle im Chor: „Ihr müsstet diesen Workshop mit Intendant*innen machen, mit Geldgeber*innen und Politiker*innen. Wir würden ja gern etwas verändern, aber uns fehlen im Tagesgeschäft die Mittel und vor allem die Zeit…“
SZENE 4: ABSCHLUSSRUNDE
„Wer hat die Macht, wirklich Dinge zu verändern?“
Das Licht wird gedimmt. Ein Spotlight geht an. Und nun die Lösung?
Thalia: „Wir können euch heute und hier versprechen, dass wir noch keine Lösung haben.“
Pauri: „Was wir euch aber anbieten können, sind mehr Gedanken und noch mehr Fragen.“
Larissa: „Weil wir sie schon öfter gedacht und sortiert haben, nennen wir sie ‚Handlungsimpulse für anti-adultistische Theaterarbeit.“
Thalia: „Sie richten sich überwiegend an theatermachende Erwachsene und sind mit den Gedanken und Wünschen von jungen Menschen gefüllt.“
Pauri: „Sie können gelingen, aber dazu müssen sie mutig ausprobiert werden!“
Handlungsimpulse für anti-adultistische Theaterarbeit
Überprüft die eigene Rolle und (Macht-)Position
Um ein bestehendes gesellschaftliches Machtverhältnis von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kritisch zu betrachten und ernsthafte, gleichwertige (künstlerische) Kollaborationen mit jungen Menschen anzustoßen, hilft es sich selbst zu fragen: Warum handle ich so? Was hält mich davon ab (anders) zu handeln? Wo kann ich mich zurücknehmen und Raum schaffen? Wo kann ich Ressourcen wie Rahmenbedingungen, Räume und Finanzmittel zur Verfügung stellen? Wo kann ich Verantwortung abgeben? Wo oder wann muss ich Verantwortung übernehmen? Wann agiere ich adultistisch, weil es für mich bequemer ist?
Das Theatersystem analysieren
Wir alle sind Teil eines Theatersystems, das sich zwar seit Jahren immer weiterentwickelt, aber gleichzeitig nach wie vor in tradierten Strukturen feststeckt. Auch Mitarbeiter* innen, die nach Veränderung und Innovationen streben, sind abhängig von den hierarchischen Strukturen, die das Arbeitsfeld „von oben“ bestimmen. Über Zeit(-räume), Geld/Finanzmittel, Produktions- oder Premierenzwang bestimmen meist nicht diejenigen, die tagtäglich in der Praxis mit jungen Menschen zu tun haben. Wo ist dennoch Spielraum für (strukturelle) Veränderungen? Und was braucht es dafür? Mehr Zeit? Mehr Geld? Eine Umverteilung des Geldes? Wer wird bezahlt? Mehr Personal? Mehr Räume? Weniger Premieren? Und mehr Zeit für die Einzelprojekte? Generationengemischte Besetzungen einzelner Positionen?
Neue Bezeichnung = neue Haltung?
Macht kann auch umgelenkt werden und Gestaltungsräume eröffnen. Andere (Rollen-) Bezeichnungen können dabei helfen, andere Haltungen in kollektiven Prozessen einzunehmen und alle Projektbeteiligten als Lernende und Wissende zu betrachten. Die neuen Rollen müssen dann so lange geprobt werden, bis sie neu verinnerlicht und zur sozialen Praxis werden. Wo kann ich Unterstützer*in sein statt Spielleiter*in? Wo Begleiter*in statt ausgebildeter Fachexpert*in mit Berufserfahrung? Wo kann ich meine Meinung und mögliche Erwartungen zurückstellen? Wo gerate ich in den Konfl ikt zwischen eigenen künstlerischen Ansprüchen und der Offenheit für Neues?
Der Blick auf die Prozesse: Transparenz!
Ermöglicht ernstgemeinte Teilhabe von Anfang an (z. B. schon bei der Antragstellung/Konzeption für ein neues Projekt), fi ndet Themen, die euch und die Kinder/Jugendlichen gemeinsam interessieren. Kommt ins Gespräch, hört euch zu, entwickelt Projekte zusammen. Das braucht mehr Zeit und Vorausplanung, klare Ansprechpersonen und Verantwortlichkeiten. Welche Entscheidungen werden von wem getroffen und warum? Welche Entscheidungs- und Gestaltungsmacht kann wem übertragen werden? Was sind Folgen/Konsequenzen? Was überfordert? Welche künstlerischen Positionen können geöffnet werden? Und welche Positionen darüber hinaus?
Gemeinsam ins Denken kommen
Es geht nicht um Erziehung, sondern ums In-Beziehung-sein. Gerade für generationenübergreifende Kooperationen ist es wichtig, gesellschaftliche Positionierungen und Differenzierungspraktiken zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen immer wieder zu refl ektieren und zu unterlaufen. Was können wir (unabhängig von der Kategorie Alter) voneinander lernen? Was ergibt sich aus den verschiedenen Perspektiven auf ein Thema/einen Gegenstand? Wo liegen Gemeinsamkeiten? Welche Qualitäten liegen in den verschiedenen generationalen Lebensrealitäten, Sichtweisen, der Perspektive auf die Welt – auch für die künstlerische Arbeit? Es gilt sich bewusst zu machen: Wissen hat nichts mit Alter zu tun. Und weder Kinder noch Erwachsene sind homogene Gruppen.
EPILOG
Die Köpfe rauchen. Viele ungestellte Fragen und Gedanken auf bunten Zetteln schwirren noch durch den Raum. Die Häppchen sind nun geliefert. Das Licht geht an. Es geht noch weiter, aber für heute ist Schluss. Thalia faltet die bunten Zettel wieder zusammen, Larissa packt den Beamer und Pauri alle Stifte ein. Während die anderen beim Essen weitersprechen, eilen die drei zum Ausgang des Theaters – der nächste Workshop wartet!