Theater der Zeit

Editorial

Editorial

von Jutta Wangemann und Dorte Lena Eilers

Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)

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Wie wollen wir zusammenleben? Sind wir als Gesellschaft bereit, Differenzierungsleistungen zu erbringen, die uns etwas kosten? Oder sichern wir unsere Identitäten durch Ausgrenzung und Erzählungen einer einfachen Welt? Welchen Umgang finden wir mit Ängsten und Projektionen? Welche Störungen brauchen wir, um zukunftsfähig zu sein? Was hält uns trotzdem zusammen? Migration, digitale Medien und globale Märkte versetzen verschieden lebende und denkende Menschen in neue Nachbarschaften. Der gegenwärtige vielschichtige Paradigmenwechsel und die gesellschaftlichen Polarisierungen spülen Fragen hoch, die auf den Kern unseres kollektiven Selbstverständnisses zielen. Sie betreffen auch den Auftrag, das Selbstverständnis, die Strukturen und die Arbeitsweisen unserer Institutionen. Die Produktion des Anderen ist das Kerngeschäft der Kunst. Für die kulturelle Leistung, einen Umgang mit dem Anderen zu finden, stellt die Institution Stadttheater Erfahrungs-, Übungs- und Streiträume bereit. In welchem Zustand befindet sich unsere kritische Öffentlichkeit? Wie beweglich ist das Stadttheater zwischen Veränderungsdruck und der Komplexität des Betriebs? Wie weit kann es seine Strukturen und Netzwerke nutzen, hinterfragen, strapazieren?

Die Suche nach dem „Stadttheater der Zukunft“ ist seit 2006 gedanklicher Antrieb am Theater Freiburg in der Intendanz von Barbara Mundel. Das Arbeitsbuch „Heart of the City. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft“ veröffentlichte 2011 Überlegungen zur Rolle des Stadttheaters in einer sich verändernden Gesellschaft. Anlässlich des Freiburger Intendantenwechsels im Sommer 2017 aktiviert „Heart of the City II“ Erfahrungen aus der Arbeitspraxis der vergangenen Jahre für ein Überprüfungs- und Umsetzungsheft: Was können wir aus dem Erreichten, Probierten, Gescheiterten lernen? Wohin weisen unabgeschlossene Prozesse? Mit welchen neuen Faktoren und Fragen muss sich die Institution Stadttheater auseinandersetzen? Unter fünf Schlüsselbegriffen – Stadt, Resonanz, Institution, Begegnung, Erbe – versammelt das Arbeitsbuch Selbst- und Fremdbefragungen, Gesprächsrunden, Bad- und Better-Practice-Beispiele, Tiefenbohrungen an symptomatischen Stellen sowie Seitenblicke in andere Zusammenhänge und Institutionen.

Ausgehend von den Thesen des US-amerikanischen Politologen Benjamin Barber, diskutieren drei europäische Bürgermeister das Potenzial der Stadt als politischer Akteur auf globaler Ebene. Als Avantgarden des Zusammenlebens und kulturelle Gesamtkunstwerke, als deren Mitgestalter sich auch das Stadttheater versteht, sind Städte Identitätsprovider jenseits von Nationen, quer durch Communitys, und spielen so auch eine steuernde Rolle für ein neues Europa, das sich die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot als Republik vorstellt.

„Kunstgeschehen ist Resonanzgeschehen“, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Wobei eine Resonanzbeziehung in der Natur, der Musik oder eben im Theater dann gelingt, wenn wir uns in ihr als veränderbar erleben. Welche Räume braucht unsere Gesellschaft dafür? Was bedeutet es für das Theater als Ort der vielen, wenn andere Öffentlichkeit generierende Medien, wie etwa die Zeitungen, in der Krise sind? Wie lassen sich in der Oper soziale (Radikalisierungs-) Prozesse simulieren und analysieren? Und welche gesellschaftlichen Interaktionen, fragt der Regisseur und Sänger Schorsch Kamerun den Trainer des SC Freiburg Christian Streich, finden beim Massenmedium Fußball statt?

Theater kann Diversität inszenieren, Grenzen der Verständigung produktiv machen und die Fähigkeit trainieren, mehrdeutige Situationen nicht nur auszuhalten, sondern auch zu gestalten. Doch welche Ressourcen sind dafür nötig? Während das Kapitel „Begegnung“ ausgewählte Langzeitprojekte aus elf Jahren Theater Freiburg analysiert, erinnert die Philosophin Bojana Kunst an den idealistischen Glutkern der Institution. Wie kann im gelebten Widerspruchsfeld eines Dreispartenhauses zwischen Auftrag, Anspruch und Alltag Freiheit organisiert werden? Wie geht Veränderung im laufenden Betrieb? Wann setzen sich in der Arbeit mit Theaterlaien, freien Gruppen und internationalen Partnern eher die Vorzüge als die Nachteile der verschiedenen Systeme durch? Wie viel künstlerische Mitbestimmung ist möglich?

Und wie lassen sich Erfahrungen und Kunstwissen von Personen lösen und weitergeben? Wo brauchen wir den Bruch und das Vergessen? „Wer erbt, interpretiert“ lautet eine der Thesen des Literaturwissenschaftlers Gerhard Richter. Erben ist Zukunftsgestaltung: für ein Stadttheater, eine Stadt, eine Gesellschaft, die sich nicht als feststehende Errungenschaft begreift, sondern sich wieder und wieder den Fragen an das Miteinander von morgen stellt.

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