Auftritt
Mannheim: Das andere Gesicht der Erde
Nationaltheater Mannheim: „Meine geniale Freundin – Teil 2“ nach den Romanen von Elena Ferrante. Regie Felicitas Brucker, Bühne Viva Schudt, Kostüme Katrin Wolfermann
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Baden-Württemberg Nationaltheater Mannheim

Die Lebensträume der Fabrikarbeiterin Lila platzen. Denn ihre Freundin Elena, auf die sie ihre Hoffnung projizierte, ist gefangen in einer Ehehölle. Die junge Neapolitanerin, die anders als die Gefährtin Zugang zu Bildung hatte und aufgestiegen ist, erstickt in bildungsbürgerlicher Enge. „Warum habe ich mir vorgestellt, dass Du ein wunderschönes Leben haben wirst, auch für mich?“ Mit diesem Satz macht die hochbegabte Lila, die es wegen ihres Eigensinns und Trotzes nicht weit gebracht hat, ihrem Frust in Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“ Luft. Hart und direkt beschreibt die italienische Autorin die Beziehung der Frauen, deren Leben in ungleichen Bahnen verläuft, in der Tetralogie. Sind diese so unterschiedlichen Figuren ein Mensch? Diese Frage steht in der deutschen Erstaufführung von Felicitas Brucker im Raum.
Am Nationaltheater Mannheim hat die Regisseurin nun den zweiten Teil der Romanadaption auf die Bühne gebracht. 2011 erschien der erste Band der vierteiligen Geschichte einer weiblichen Emanzipation in der männlich dominierten Gesellschaft Neapels. Mit den weiteren Teilen landete Ferrante – der Name ist ein Pseudonym – einen Welterfolg. Bereits 2019 war die wilde, turbulente Geschichte der Kinder- und Jugendjahre in Mannheim zu erleben. Spielerisch schaffte die Regisseurin Brucker da den Spagat zwischen dem tiefenscharfen Prosatext und einem Spektakel, das Vielfalt und Farbe des neapolitanischen Milieus aufgreift. Leichtfüßig tanzten die Mädchen da durch ein Leben, das ihnen beiden offen schien. Auf dem Motorrad, mit wehenden Haaren flitzten sie in ihre Zukunft. Anfangs waren in dem Arbeiterviertel alle gleich. Dann aber trennten sich Elenas und Lilas Wege.
Wegen der Corona-Pandemie kam der zweite Teil erst jetzt auf die Bühne. Da schlägt das Regieteam zwar dunklere, keinesfalls jedoch leisere Töne an. Als Lila ist Paula Hans eine starke Frau, die als Arbeiterin in einer Wurstfabrik ihr Leben fristet. Klug arbeitet die Schauspielerin da die Prinzipien der politischen Vordenkerin heraus, die das kapitalistische System in eine Underdog-Identität gepresst hat. Kostümbildnerin Katrin Wolfermann hat sie in einen orangefarbenen Overall gezwängt. Darin erinnert sie fast an eine Gefangene. In ihrer Freizeit büffelt Lila Informatik. Das Fernstudium soll sie und ihre Familie aus der prekären Existenz befreien.
Dagegen scheint Elena ein glänzendes, erfülltes Leben zu führen. Doch dieser Eindruck trügt. Nach dem Studium darf sie in ihrem intellektuellen Beruf arbeiten und Bücher schreiben. Virtuos dekonstruiert Maria Munkert den Traum vom leichten Leben der Bourgeoisie. Sie heiratet den reichen Bürgersohn Pietro Airota, den Christoph Bornmüller als müden Ehemann ohne erotischen Reiz zeigt. Während sich Elena immer mehr von den politischen Idealen ihrer Kindheit entfernt, entfremdet sie sich ebenso von der oberflächlichen Scheinwelt ihres Mannes.
Die Augenblicke, wenn sich die beiden Schauspielerinnen begegnen, inszeniert Brucker griffig und tiefenscharf. Das Ringen der Frauen um ein selbstbestimmtes, emanzipiertes Leben zeigen die Spielerinnen stark, ganz ohne Umschweife und Geplänkel. Dass die politische Kraft des Romans in der Theaterfassung grandios zum Tragen kommt, liegt auch am Bühnenbild der Künstlerin Viva Schudt. Die Wand ist mit Graffiti-Kritzeleien und mit Skizzen einer Programmiersprache übersät. Das verwirrt nicht nur das Publikum. Die Akteurinnen und Akteure versinken in einer wilden Welt des Wandels. Farblos gerät am Ende die Lebensbeichte der alten Elena, die Ragna Pitoll zu resigniert zeigt. In einem engen Wohnkäfig blickt sie auf ein Leben zurück, dessen Chancen sie nicht gesehen hat.
Dass Brucker in der dynamischen Regiearbeit stets die gesellschaftliche Dimension mitdenkt, gibt nicht allein der Text vor. Die Unterdrückung der Frau in einer Welt, die von Macho-Attitüden und von der Gewalt der Camorra geprägt ist, sieht sie als zentrales Thema: „Die Frau ist das andere Gesicht der Erde. Die Frau ist das unvorhergesehene Subjekt.“ In diesem Kontext müssen sich die beiden Frauen behaupten. Mit Videos spielt die Regie dokumentarisches Material von Arbeiteraufständen ein. Mit starken Bildern spinnt Brucker die Verbindung zur europäischen Geschichte, die Ferrante so meisterhaft im Leben von Elena und Lila reflektiert. //