Theater der Zeit

II Vincenzo Bellini

Trauer- und Traumarbeit im Belcanto

Die Stuttgarter Inszenierungen von Vincenzo Bellinis Opern Norma, La Sonnambula und I Puritani

von Günther Heeg

Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)

Assoziationen: Musiktheater

 Vincenzo Bellini: Norma, Oper Stuttgart 2002. Inszenierung Jossi Wieler, Sergio Morabito, Bühne Anna Viebrock. Blick aus der Perspektive des Altarraums auf die kriegsbereiten Gallier. Norma: Catherina Naglestadt. Foto: A.T. Schaefer.
Vincenzo Bellini: Norma, Oper Stuttgart 2002. Inszenierung Jossi Wieler, Sergio Morabito, Bühne Anna Viebrock. Blick aus der Perspektive des Altarraums auf die kriegsbereiten Gallier. Norma: Catherina Naglestadt.Foto: A.T. Schaefer

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1. Wiederentdeckung

Belcanto-Opern von Vincenzo Bellini, die ins Repertoire eines Opernhauses gelangen, erfüllen dort nicht selten den Zweck, jenen Teil des Publikums zu befriedigen, der mit zeitgenössischem Musiktheater nichts anzufangen weiß. Denn hier, bei Norma, La Sonnambula und I Puritani dürfen die konservativen Opernbesucher:innen hoffen, sich ganz einem Fest der Stimmen und der Schönheit der nicht enden wollenden Melodien hingeben zu können, unbelästigt von der Bedeutung des Librettos und der Beziehung zwischen Handlung und Musik. So können sie sich delektieren am leidenschaftlichen Außer-sich-Sein der Protagonistinnen Norma, Amina und Elvira, ohne der Frage nachgehen zu müssen, was denn die Ursache ist, die diesen solch ein Übermaß an Leiden schafft.

Ganz anders an der Oper Stuttgart. Hier haben sich Jossi Wieler und Sergio Morabito zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock annähernd 15 Jahre mit dem Werk von Bellini befasst und in dieser Zeit die Opern Norma (Premiere 29. Juni 2002), La Sonnambula (Premiere 22. Januar 2012) und I Puritani (Premiere 8. Juli 2016) zur Aufführung gebracht. Das Ergebnis, wie man es in solchen Fällen gerne tut, lediglich als kontinuierliche Bellini-Pflege des Hauses zu beschreiben, wird diesem Ereignis nicht gerecht. Denn um ein Ereignis handelt es sich: um das Ereignis einer Wieder- und Neuentdeckung von Vincenzo Bellini als Komponist eines modernen Musiktheaters avant la lettre. Eine solche Qualifizierung hat nichts mit dem Klischee willkürlicher Aktualisierung zu tun, das dem Regietheater anhängt. Denn Wieler, Morabito und Viebrock stülpen Bellinis Werken kein Konzept über, das gegenwärtig en vogue ist. Ihr Interesse richtet sich vielmehr zuvörderst auf die Rekonstruktion des Zusammenhangs von Text, Handlung und Musik, der von der Rezeption verschüttet worden ist. Entgegen dem Bellini zugeschriebenen Bonmot, ein Libretto sei dann am besten, wenn es keinen Sinn mache – gefallen wohl in einer Krise der Zusammenarbeit mit dem Dichter und Nichtlibrettisten Carlo Pepoli1 – nimmt das Stuttgarter Leitungsteam Bellinis Libretti ernst. Dass das auch Bellini selbst getan hat, zeigen die Abweichungen und Veränderungen gegenüber den zeitgenössischen Vorlagen an Balletten, Comédie-Vaudevilles, Tragödien und Dramen, die Bellini, Romani und Pepoli mit größter Sorgfalt vorgenommen haben und die von der Stuttgarter Dramaturgie in akribischer, archäologischer Arbeit wieder frei- und ausgelegt werden.

Dabei zeigt sich an den auf diese Weise pointierten Libretti ein dreifacher Bezug auf Geschichte: Da ist zunächst die Geschichte der Handlung, die sich in der Tat nicht immer auf den ersten Blick erschließt. Näheren Aufschluss bietet sodann der Kontext der Historie, in dem die Handlung sich abspielt: das von den Römern besetzte Gallien in Norma (1831), das alte Regime der Gutsherrschaft in einem schweizerischen Dorf in La Sonnambula (1831), das 17. Jahrhundert des englischen Bürgerkriegs in I Puritani (1835). Die Geschichte, die das Libretto erzählt, ebenso wie die soziale und politische Geschichte, die den Horizont der Handlung bildet, werden in Beziehung gedacht zur Entstehungszeit der Opern zwischen Restauration und Risorgimento, Fremdherrschaft und nationaler Einigung. Diese drei Zeiten treten zueinander in Konstellation. In ihr verräumlicht sich die Zeit und wird zur Raum-Zeit. Unter diesem Begriff sei die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ungleichzeitiger Zeiten in einem virtuellen Raum verstanden. Die durch die Musik und den Gesang handelnden Personen erhalten in dieser Raum-Zeit der Opern eine historische Signatur zwischen Damals und Heute, Nicht-mehr und Noch-nicht, Realem und Virtuellem, Trauer und Traum. Es ist diese historische Signatur, die uns in der Gegenwart ergreift. In ihr erfüllt sich der Sinn der Opern von Vincenzo Bellini. Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock haben diese Signatur sowohl dramaturgisch erschlossen, als auch räumlich und inszenatorisch plastisch vor Augen gestellt. Darin besteht die Einzigartigkeit der Stuttgarter Bellini-Inszenierungen.

2. Praxis des Historisierens

Die Entstehung und Aufführung von Bellinis Opern fallen in die Hochzeit des Historismus. Die Künste folgen darin dem Vorbild der historischen Romane von Walter Scott und begeben sich auf die Suche nach historischen Stoffen. Auf den Theaterbühnen sollen ferne Zeitalter ins Bild gefasst und verlebendigt werden.2 Erst wenn man sich die Verbreitung und Bedeutung der historistischen Theaterpraxis zu Bellinis Zeit vergegenwärtigt, kann man ermessen, wie sehr Bellinis eigener Umgang mit Geschichte sich davon unterscheidet. Gewiss, auch Norma, I Puritani und selbst La Sonnambula sind in der Geschichte verortet. Aber sie wollen sich nicht zum Geschichtsbild runden. Zu unübersichtlich bieten sich zunächst die Handlungen der drei Opern dar, als dass sie sich für die Bildprojektionen des Historismus eignen würden. Die Konflikte, die darin zutage treten, sind am Ende nicht gelöst und hinterlassen offene Fragen.

Der Opfertod der Norma, der Hohepriesterin der Gallier, die ein Verhältnis und zwei Kinder mit dem Anführer der Besatzer, dem Römer Pollione hat, mag auf den ersten Blick als Tragödie durchgehen. Aber welchen Sinn macht es, dass der abtrünnige Liebhaber Pollione, der sich inzwischen in eine andere Priesterin der Mondgöttin, in Adalgisa, verliebt hat, am Ende mit Norma den Scheiterhaufen besteigt? Jedenfalls nicht den Sinn einer plötzlichen tragischen Vereinigung der Liebenden im Tod. Und wie ist die Wiederholung der Liebesgeschichte der Norma durch Adalgisa zu verstehen? Für eine Tragödie ist sie eher dysfunktional: too much. Die Geschichtsbilder des ästhetischen Historismus in der Oper wollen Sinn stiften und damit Leiden und Tod ihrer Protagonist:innen im Nachhinein rechtfertigen. Die Libretti der Opern von Vincenzo Bellini entziehen sich dieser Verklärung der Opfer.

Ungelöst ist am Ende auch der Konflikt in I Puritani. Nicht nur wird die Hinrichtung des Royalisten Arturo, dem Geliebten von Elvira, der Tochter eines puritanischen Festungskommandanten, am Ende nur haarscharf durch einen reitenden Boten des siegreichen Oliver Cromwell verhindert, der die Begnadigung des Gefangenen bringt. Es bleibt auch die Frage, ob der Wahnsinn der Elvira, die am Tag ihrer Hochzeit von Arturo wegen der Rettung der Königinwitwe Enrichetta verlassen wurde, nicht doch die adäquate Reaktion auf solch ein Verhalten darstellt, die durch keine Rückkehr des Geliebten, auch wenn er vom Tode bedroht ist, wieder rückgängig und gut gemacht werden kann.

Schließlich La Sonnambula: Amina, die Nachtwandlerin, findet sich vorsichtshalber im Schlaf verheiratet, damit erst gar keine Zweifel an der Wünschbarkeit dieser Verbindung mit dem reichsten Grundbesitzer des Dorfs, Elvino, aufkommen können. Die Hochzeit im Schlaf soll verhindern, dass der Abgrund, über den sie wandelt, sichtbar wird und die Untaten der Vergangenheit wieder hochkommen, die Amina zur mittellosen Waise gemacht haben. Dabei wird die Geschichte, die sich zwischen Amina und Rudolfo, dem wiedergekehrten Grundherrn des Dorfs, fast, aber nicht zur Gänze wiederholt, mit Sicherheit eine Sprengkraft unter den Frischvermählten entfalten.

Allen drei Opern ist gemeinsam, dass die Spannung zwischen den privaten Konflikten und dem politischen Horizont, in den sie gestellt sind, nicht aufgehoben oder durch ein »versöhnendes Opfer« gelöst wird.3 Blickt man auf die Szenarien von Bellinis Opern, so erscheinen sie, mit Heiner Müller gesprochen, als »Stellplatz der Widersprüche«4. Gegenüber der Erwartung prachtvoll hochgestimmter Historienbilder, in denen die Zeitgenoss:innen ihr monumentales Spiegelbild wiederfinden können, muten Bellinis Geschichten und die Geschichten seiner Librettisten Felice Romani und Carlo Pepoli fremd an. In ihrer Fremdheit aber in einer Gegenwart, die mit den alten Geschichten nichts mehr zu tun haben will, fordern sie diese heraus und stellen sie selbst in ein fremdes Licht. Die Herausforderung des Fremden, die von den Libretti ausgeht, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den historischen Schauplätzen von Bellinis Opern um vorweggenommene Historisierungen im Sinne von Brecht handelt. Die Praxis des Historisierens hat Brecht mit der des Verfremdens gleichgesetzt. Beim Vorgang des Historisierens geht es nach Brecht darum, die Gegenwart durch die Beziehung auf eine andere Zeit-Geschichte so fremd werden zu lassen, dass an ihr Züge, Strukturen und Muster sichtbar werden, die im Immergleichen des Alltagslebens nicht (mehr) wahrgenommen werden. Damit dies gelingt, muss nach Brecht die Gegenwart als historisch und vorübergehend erscheinen. »Verfremden«, so Brecht, »heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darzustellen [Hervorhebung – G. H.].«5 In Brechts Idee des Historisierens ist die Vorstellung von historischer Zeit als einer Zeit der Vergängnis eingelassen.

3. Räume

Die Räume, die Anna Viebrock für die drei Opern von Bellini in Stuttgart gebaut hat, sind solche Räume der Historisierung der Gegenwart. Fernab jeder historistischen Szenerie tauchen sie die Gegenwart in das Licht des Vergehens und verbinden das Heute mit dem Damals.

So blicken wir in Norma aus der Perspektive des Chors in den Innenraum einer Kirche, vielleicht in Italien, möglicherweise, um die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Links von der Barriere, die das Kirchenschiff vom Chor trennt, sehen wir statt der Sakristei die Wohnung der Priesterin. Die Türen und Schränke sind aus der jüngeren Vergangenheit. Der Altar eine abgedeckte Bahre aus einem Krankenhaus. Unzweifelhaft apostrophiert der Raum frühere Zeiten und ruft damit die Erinnerung an Geschichte auf. Zugleich ist er der Erfahrung gegenwärtiger Generationen noch nicht völlig entrückt. Seine Wiederkehr auf der Bühne stellt deshalb nicht so sehr das Damals vor Augen, als dass sie die Vorstellung eines Alterns und Vergehens auch des Heutigen mit sich führt.

In La Sonnambula öffnet sich vom Publikumsraum aus ein großer Wirtshaussaal mit gewölbter Decke. Die massiven Schränke an den Seiten rechts und links skandieren den Raum wie die Pfeiler in einer Kirche: ein säkularisiertes Gotteshaus. Im Hintergrund rechts ein Treppenaufgang mit Balustrade, links gibt ein Fenster den Blick auf den Fluss frei. Für die nächtlichen Rencontres des Grafen mit Lisa und der schlafwandelnden Amina schiebt sich eine Tapetenwand mit Rokokoelementen vor das Treppenhaus, ein großes Fenster bleibt darin ausgeschnitten. Der Raum erinnert an die longue durée jener Wirtshaussäle im Alpenländischen, von denen man sich vorstellen kann, dass darin Hochzeiten heute wie vor dreihundert Jahren gefeiert werden. Für solche Festivitäten ist der ganze Saal angefüllt mit rohen Bänken und Tischen. Wenn sie zusammengeklappt und auf den Boden geworfen werden, zeigt sich, dass der vermeintliche Ort eines gelingenden gemeinschaftlichen Zusammenseins nur von vorübergehender Dauer war. Die Tische liegen dann wie treibende Planken und Schiffsreste auf dem Boden, über die man balanciert, um nicht ins Wasser zu fallen – eine nature morte, die nicht nur auf das zentrale Ereignis und Thema des Schlafwandelns auf dem Steg über dem abgründigen Wasser anspielt, sondern die Grundlosigkeit des vermeintlich auf Dauer Gegründeten offenbart.

In I Puritani sehen wir einen kahlen, leergeräumten Saal, der sich nach hinten stark verengt, vielleicht handelt es sich auch um den Hofraum eines Herrenhauses. An der rechten Wand ein zugemauertes Fenster mit Spitzbogen, vorne links eine Treppe, die ins Nichts führt. Der Raum hat früher wohl andere, repräsentative Aufgaben erfüllt. Ohne dass man es zunächst bemerkt, öffnen sich die nach hinten zulaufenden seitlichen Wände langsam während der Szene, bis man plötzlich den veränderten Schauplatz im Hintergrund, einen Balkonumlauf mit Balustrade, wahrnimmt: Reminiszenz an frühere dekorativere und festlichere Zeiten. Durch die Mauern der Wände rechts und links ist gewaltsam ein massiver Eisenträger gebrochen, der wie ein dicker schwarzer Zensurbalken durch die Blickachse der Zuschauer:innen geht und die historistische Einbildung verhindert. Alles scheint hier im Umbau und Übergang. Man erkennt noch die Spuren der Vergangenheit, das Neue hingegen wird vorerst nur als Verlust und Störung wahrgenommen. Die Schönheit ist aus diesem Raum geflohen, wie das von Elvira mit roter Farbe rasch an die Wand Geschriebene festhält. Kein Raum, der zum Verweilen einlädt, zeigt sich hier, sondern ein Transitraum, der seine Vorläufigkeit offen ausspricht.

Alle diese Räume tragen die Spuren der Geschichte an sich, d. h. an ihnen nagt der Zahn der Zeit. Sie evozieren nicht ferne Zeiten, sondern das Vergangene, das in unsere Zeit hineinragt und verweisen so auf die künftige Vergangenheit der Gegenwart. Unübersehbar sind die Insignien des Vergehens in den Räumen verteilt: die alten Stromzähler und die abgenutzten Briefkästen in La Sonnambula ebenso wie das verschlissene Sofa und das Buffet, die wie die Kittelschürzen und Sonntagskostüme des Chors noch irgendwo in Gebrauch sein könnten. Die elektrischen Leitungen, die in Norma an den Kirchenwänden entlanggeführt werden und die altersschwache Bahre, die aus der Vorkriegszeit zu stammen scheint. Sie alle sind Allegorien des Vergehens jedweder Gegenwart. Sie untergraben den Glauben an die Dauer des heute Bestehenden, ohne es sich im Vergangenen heimelig zu machen. Stattdessen werfen sie uns auf die Planken eines Floßes, das zwischen Gestern und Morgen, zwischen Nicht-mehr und Nochnicht dahintreibt.

4. Transitexistenz

Inwiefern kann man die historischen Schauplätze von Bellinis Opern als Historisierungen von Bellinis Gegenwart verstehen? Wirft man einen zweiten Blick auf die Konfliktfelder der Handlung, wird man gewahr, dass sie nicht so sehr in bestimmten abgegrenzten Epochen, sondern zwischen diesen angesiedelt sind. Die historischen Zeiten in Norma, La Sonnambula und I Puritani sind Zeiten des Übergangs. In Norma ist bereits im Inneren der gallischen Gemeinschaft die Zeit der Frauenherrschaft, die sich dem Frieden verschrieben hat, von der patriarchalischen Herrschaft des kriegerischen Irminsul bedroht. Beide stehen sie auf verlorenem Posten gegenüber der modernen Zweckrationalität der römischen Herrschaft. Auch die Konfliktparteien von I Puritani, Stuart-Royalisten und die Puritaner Cromwells, kämpfen in einer Zeit des Übergangs. Die Zukunft, kein Zweifel, wird denen gehören, die mit ihrer puritanischen Ethik den Geist des Kapitalismus entfesseln, während die reich ausstaffierten Kostüme der Royalisten zurückweisen auf die »buntscheckigen Feudalbande«6, von denen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest sprechen. Und auch in La Sonnambula wird die Geldherrschaft des reichen Elvino wohl über die persönlichen Bindungen der Dorfbewohner:innen an die alte Grundherrschaft siegen.

Man kann nicht sagen, dass die Libretti für die historischen Sieger Partei ergreifen. Sympathie kommt eher der Welt derer zu, die zum historischen Untergang verurteilt sind. Aber von einer Verklärung der alten Zeiten kann keine Rede sein. Glasklar werden von Bellini, Romani und Pepoli das Porös-Angreifbare, das Ambivalente und Missliche der überkommenen Ordnungen herausgestellt. Ausgerechnet die oberste Repräsentantin der Frauenherrschaft und Priesterin der unterworfenen Gallier, Norma, fühlt sich zum Oberhaupt der römischen Besatzer und Vertreter des Patriarchats hingezogen, der Royalist Arturo stellt in I Puritani die politische Loyalität über die Liebe und der »gute Herr«, wie die Dorfbewohner:innen den zurückgekehrten Rudolfo in La Sonnambula nennen, hat schändlich an der Mutter Elviras gehandelt. Gerade weil sie die Parteien im historischen Zwischenraum des Nicht-mehr und Noch-nicht nicht reinlich scheiden, sondern das Widersprüchliche und das Sowohl-als-auch im Handeln der Protagonist:innen zeigen, sind sie geeignet, die Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts, die Zeit Bellinis, zu historisieren, sie fremd zu machen und in Bewegung zu versetzen.

Auch Bellinis Gegenwart ist eine Zwischenzeit des Nicht-mehr und Noch-nicht. Catania, wo der junge Vincenzo aufgewachsen ist, und Neapel, wo er studiert hat, gehören von 1816 bis 1861 zum Königreich beider Sizilien, das unter der Herrschaft der spanischen Bourbonen steht. Sie waren in Folge der allgemeinen Restaurationsbewegung nach dem Wiener Kongress erneut an die Macht in Unteritalien gekommen. Mailand, der Uraufführungsort vieler Opern und Wirkungsstätte Bellinis, wird zu seiner Zeit von den Habsburgern regiert. Die nationale Befreiungsbewegung, das Risorgimento, zeichnet sich erst in einzelnen Aufständen ab. In I Puritani spielt das Bassduett Suoni la tromba zwischen Elviras zweitem Vater Giorgio und Elviras verschmähtem Liebhaber Riccardo, welches die Liebe zum und den Tod fürs Vaterland beschwört, auf die kommende Zeit des Risorgimento an. Die nationale Befreiung bildet den Horizont der neuen Zeit. Was sie aber bringt, ist ungewiss. Ebenso wie die Situation in Frankreich: Im rasanten Übergang von der Restauration zum Schwindel der finanzkapitalistischen Spekulation befindet sich Paris, Uraufführungsort von I Puritani und letzte Aufenthaltsstätte Bellinis, nach der Julirevolution von 1830.

Bellini muss die verschiedenen Zwischenzeiten – zwischen Fremdherrschaft und nationaler Befreiung, zwischen Absolutismus und demokratischer Partizipation, zwischen spätfeudaler Ordnung und ungezügeltem Kapitalismus – als Zeiten großer und grundsätzlicher Unsicherheit erfahren haben. In seinen Opern hat er diese Erfahrung historisiert. Ohne Parteinahme für das eine oder das andere Lager exponieren sie die Gefühle und das Handeln von Menschen im Raum eines reinen Dazwischens, das keinen verlässlichen Ursprung und keinen guten Ausgang mehr kennt. Bellinis Protagonist:innen sind ausgesetzt in einer Transitexistenz, die auf Dauer gestellt ist. Damit bereiten sie nicht nur für Bellinis Zeitgenoss:innen, sondern auch für die Heutigen einen Erfahrungsgrund, der an die Lebenswirklichkeit in Zeiten der Globalisierung heranreicht.

5. Trauerarbeit

Je unsicherer die Zeiten, umso mehr wächst die Sehnsucht nach Rückkehr in frühere, vermeintlich sichere und geordnete Lebenswelten. Restaurationsbestrebungen und fundamentalistische Bewegungen, die die Wiederkehr eines goldenen Zeitalters versprechen, sind die unvermeidlichen Reaktionsbildungen auf die Moderne. Bellinis Opern kennen den Sog, der vom Phantasma ursprünglicher Ordnungen ausgeht, aber sie ergeben sich ihm nicht. Man hat Bellini den Melancholiker unter den Opernkomponisten genannt und sich dabei auf die »melodie lunghe, lunghe, lunghe« bezogen, die Verdi an Bellini rühmt, auf jene lang ausgesponnenen lyrischen Kantilenen der Cantabile-Teile seiner Arien, denen die Trauer über einen Verlust eingeschrieben ist. Latente Trauer grundiert Normas Arie »Casta diva«, die zum Scheitern verurteilte Anrufung an die Göttin der Gynäkokratie, sie möge die »feurigen Herzen« mäßigen und der Erde Frieden schenken. Aber gerade weil es sich um Trauer handelt, wird der Begriff der Melancholie Bellini nicht gerecht. Denn der Melancholiker kann sich nicht abfinden mit dem Verlust dessen, was ihm als unwiederbringliches Ideal erscheint. In diesem Sinne beschreibt Sigmund Freud in Trauer und Melancholie die Melancholie als eine Haltung, in der die Objektbesetzung zwar aufgehoben, die Besetzungsenergie aber nicht auf ein neues Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen wird, um eine »Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen.« »Der Schatten des Objekts«, so Freud, fällt »so auf das Ich.«7 Objektverlust verwandelt sich so in Ichverlust und die kritische Auseinandersetzung mit dem Verlorenen in die Kritik des Ichs von Seiten des verlorenen Objekts.

Bellinis kompositorischer Umgang mit dem Phantasma idealer Gemeinschaft lässt sich besser mit Freuds Begriff der Trauerarbeit beschreiben. Der Trauerarbeit gelingt es, sich von dem idealisierten Objekt zu lösen und Abschied von ihm zu nehmen. Möglich wird das durch die Wiederholung »jede[r] einzelne[n] der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war«8. Sie werden durch die Wiederholung »überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen«9. Diese Wiederholung und Überbesetzung vollzieht sich im Belcanto Bellinis. Seine Melodien mit ihrer syllabischen Verbindung von Text und Musik, die Sprache und Empfindung eins werden lassen, erinnern von sich aus bereits an das Phantasma einer ursprünglichen Sprache bei Rousseau, die »singbar und leidenschaftlich« war.10 Weil die Erinnerung an das Phantasma einer ursprünglichen Sprach-Musik den Kantilenen Bellinis selbst inhärent ist, sind sie ein hervorragendes Medium für das Abschiednehmen von jedweder Vorstellung vergangener besserer Zeiten und Ordnungen. Bellinis »lange, lange, lange Melodien« (Verdi) ermöglichen die von Freud apostrophierte emotionale Wieder-Holung und Überbesetzung des entschwundenen Ideals und bereiten ihm den langen Abschied. Unterstützt wird er durch die Kontrastierung der elegischen Cantabiles mit der Entschlussfreudigkeit der anschließenden Cabaletten und ihren volkstümlich-bewegten Melodien. Sie fungieren als Elemente einer Realitätsprüfung und ermöglichen die emotionale Ablösung von dem geliebten, verlorenen Ideal. Bellinis Umgang mit der Sehnsucht nach Rückkehr und Restauration ist zukunftsweisend auch für die Allgegenwart fundamentalistischer Bewegungen. Die musikalische Trauerarbeit im Belcanto nimmt die emotionale Bindung nach einem nie existenten, gleichwohl als verloren imaginierten besseren Weltzustand ernst, sie evoziert durch die Wiederholung die Trauer über seinen Verlust und macht durch die Trennung von diesen Gefühlsbindungen den Weg frei für zukünftige Leidenschaften und Wünsche.

6. Traumarbeit

Elvira, die Heldin von I Puritani, ist in der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito gleich zweimal existent. Jedenfalls gibt es zwei Protagonistinnen in weißem Kleid und roter Schleife, die sich nahezu aufs Haar gleichen. Während die eine zu den Klängen der Ouvertüre die von den Puritanern abgehängten und verkehrt an die Wand gestellten Bilder von Königen und Adligen in all ihrem höfischen Glanz umdreht, um nach dem Bild ihres geliebten Mannes zu suchen, mit dem sie es bewahrend eins wird, berauscht sich die zweite, die, was hier nicht zu sehen ist, den Vorgang beobachtet, an den Abbildern der prächtigen Kavaliere. Was ihr, Elvira, der Tochter des puritanischen Gouverneurs, eigentlich verboten ist. Dass sie hier in Bewegung und Kleidung der ersten, Enrichetta, der Gattin des hingerichteten Königs und Gefangenen im Lager der Puritaner, in jeder Geste folgt, verweist nicht nur auf eine Identifizierung Elviras mit Enrichetta hin, sondern auf ein gespenstisches Double, das den Glauben an das Bild des historischen Konflikts untergräbt. Es setzt die Parteigrenzen überschreitende Logik der linear-kausalen Handlung außer Kraft und gibt andere, verborgene Geschichten frei.11 Hier ein Blick auf das Double: Enrichetta unten, Elvira mit dem Rücken zu uns oben auf der Balustrade. Hat man erst einmal damit angefangen, solches Doppelgänger:innentum zu entdecken, kann man sich kaum noch retten von den doppelten Vätern und Müttern, den doublierten Heldinnen, doppelten Bräuten und Liebhabern in Bellinis Libretti. Die Doubles in Norma, La Sonnambula und I Puritani gehen über Gattungskonventionen hinaus. Sie repräsentieren affektiv-libidinöse Doppelbesetzungen, die der Logik des Traums gehorchen.

Es macht den außergewöhnlichen Rang der Inszenierungen von Wieler und Morabito aus, dass sie den Spuren dieser Logik des Traums folgen und sie szenisch ausdeuten. Die durch die Trauerarbeit vom Zwang einer melancholischen Geschichte von Verlust und Untergang befreiten Handlungselemente und Figuren folgen in der Traumlogik einer Ökonomie des Wunschs. Seiner unmittelbaren Artikulation und Objektbesetzung wirkt die Zensur entgegen. In der Traumarbeit bahnt sich der Wunsch deshalb seinen Weg über eine Reihe von Verdichtungen und Verschiebungen, d. h. Gleichbesetzungen und Besetzungen eines Doubles, die den latenten Trauminhalt verbergen. Der Weg, den der Wunsch gegangen ist, muss nach Freud deshalb durch die therapeutische Traumarbeit wiederholt werden. Ohne individualpsychologische Prozesse und Verfahren eins zu eins auf künstlerische Praktiken anwenden zu wollen, kann man die Inszenierungsarbeit von Wieler und Morabito als reflektierte theatrale Rekonstruktion der unbewussten Traumarbeit verstehen. Sie wiederholt die alten Geschichten der Norma, Amina und Elvira und erzählt sie neu. Dabei verzichtet sie, im Unterschied zum therapeutischen Vorgehen, sehr bewusst auf eine endgültige Version der Geschichte. Es geht ihr nicht darum, ein eigentliches Wunschziel definitiv zu benennen. Stattdessen öffnet sie einen virtuellen Spielraum, in dem die Figuren und Elemente, von Wünschen und deren Verwerfungen bewegt und angetrieben, in immer neue Konstellationen treten können. So kann man die Geschichten mehrfach, die Versionen einander überlagernd und immer wieder anders erzählen.

Nehmen wir Norma: Natürlich ist die junge Priesterin Adalgisa im Fortschreiten der Handlung die Rivalin Normas im Beziehungsdreieck mit dem Römer Pollione. Aber sie ist auch das Alter Ego Normas, die gespenstische Wiederkehr einer jüngeren Norma, die noch einmal die Verlockung und Gefahr eines Lebens an der Seite Polliones mit sich führt. Und sie besetzt schließlich – im Zusammengehen mit Norma – den utopischen Ort einer Gemeinschaft der Frauen, die sich der Herrschaft der Männer entzogen haben. Mit Vehemenz verweigert sich deshalb die Inszenierung von Wieler und Morabito der Vorstellung eines gemeinsamen Liebestods von Norma und Pollione und hebt stattdessen die Rettung und Sicherung der Kinder als Pfand der mutterrechtlichen Gemeinschaft hervor. Polliones Wunsch nach einer neuen Liebe im Tod aber bleibt Wunschdenken. Er markiert lediglich die Projektion des (männlichen) Zuschauers auf Norma, der insofern Anteil nimmt, als dass er von ihrer Leidenschaft einen Teil für sich abzweigen möchte.12 Die traumhafte Überlagerung der Handlungselemente und die Mehrfachbesetzung der Figuren erzeugt eine Mehrdeutigkeit, die die Notwendigkeit des tragischen Ausgangs außer Kraft setzt. Sie bringt die fixierten Verhältnisse in die Schwebe und öffnet den Blick für die Entdeckung des Möglichen in der Gegenwart.

Nehmen wir La Sonnambula: Sie gehört der Gattung der opera semiseria an, die, zwischen seria und buffa angesiedelt, ernste und heitere Motive vermischt, immer in der Perspektive auf ein lieto fine, einen glücklichen Ausgang. Aber der letzte Spitzenton der Amina im Finale klingt bei der fabelhaften Ana Durlovski, der Stuttgarter Amina, wie ein Schrei: Nichts ist gut, solange nicht die ganze Geschichte ans Licht gekommen und aufgearbeitet ist. Die ist keineswegs so simpel, wie sie auf den ersten Blick erscheint: Eine mittellose Waise, die den reichsten Grundbesitzer des Dorfs heiraten soll, gerät in den Verdacht der Untreue, den sie durch eine unwillentliche Probe ihrer schlafwandlerischen Absenzen zerstreuen kann. Warum braucht es dazu zwei Mütter – die tote Mutter Aminas und deren Ziehmutter Teresa –, zwei Bräute – neben Amina Lisa, die bereits einmal mit Elvino verlobt war – und drei Liebhaber: Elvino, den in Lisa verliebten Alessio und den Grafen Rodolfo? Warum fühlt sich die zweifellos treue Amina zum Grafen hingezogen? Was entdeckt er an ihr jenseits der Komödie vom adligen Herrn, dem die jungen Frauen (Lisa, Amina) ins Bett flattern und der dennoch nicht zum Zug kommt? Und warum nimmt die Gespenstererzählung des Chors im 1. Akt eine so zentrale Stellung ein? Wieler und Morabito haben sich auf die Spur des Librettos und seiner Quellen gemacht und sind auf das von Bellini gestrichene Offensichtliche gestoßen: dass der Graf als junger Mann Aminas Mutter verführt und sitzengelassen und diese sich daraufhin umgebracht hat. Sie ist das Gespenst, das die Dorfbewohner:innen bis auf den heutigen Tag heimsucht. Amina ist die Tochter des Grafen. Das Trauma der Mutter hat diese an Amina in Gestalt des Nichtwissens über sich selbst und ihre Herkunft weitergegeben. In der Stuttgarter Inszenierung tritt Amina daher von Beginn an auf wie jemand, der nicht ganz bei sich ist: schlafwandlerisch. Die Inszenierung von Wieler und Morabito bringt die verdrängte Geschichte ans Licht, aber sie bleibt dabei nicht stehen. Sie folgt, über die Aufklärung hinausgehend, der Bahn der Wünsche in der Traumarbeit der Schlafwandlerin. Auf dieser Bahn verändern sich Distanz und Nähe, in der die Beteiligten zueinander stehen. Der reiche Elvino, die Ziehmutter Teresa und die Wirtin Lisa sehen sich durch die Macht des Geldes, der sie folgen, einander nahegebracht. Amina, von Rodolfo angezogen, sucht in ihm nicht nur den Vater, den sie nie gehabt hat, sondern auch einen Liebhaber, der nicht nur über das Kapital ihrer Schönheit verfügen will, sondern sie um ihrer selbst willen liebt. Die Aufklärung der Geschichte und die Traumarbeit stehen in der Inszenierung in einem Spannungsverhältnis. Wieler und Morabito spielen Aufklärung und Traum nicht gegeneinander aus, sondern überkreuzen die Erzählungen so, dass sie einander die Waage halten. Es gibt also kein Zurück Aminas zum Vater/Grafen, vielmehr birgt die nächtliche Wiederholung der Geschichte der Mutter mit Rodolfo durch Amina und Rodolfo ein Potential für die Zukunft, neue und andere Ansprüche an die gegenwärtige Beziehung zu stellen.

Nehmen wir I Puritani: Die Puritanerfestung ist mit Erdwall, Ringmauern, Türmen und einer Befestigungsanlage gesichert. Dass hier ein royalistischer Edelmann eindringen könnte, um die Tochter des puritanischen Gouverneurs zur Frau zu nehmen, hält der Realität kaum stand. Dazu braucht Elvira zumindest einen väterlichen Doppelgänger, Giorgio, der vom eigentlichen Vater, wie im Traum, die Erlaubnis zur Heirat Elviras mit einem Vertreter der bekämpften Gegenpartei erhält. Wieler und Morabito zeigen Giorgio, großartig gesungen und gespielt von Adam Palka, in seinem Bericht von der Unterredung mit Elviras Vater als Puppenspieler, der den Willen der väterlichen Puppe lenkt, als wäre es ein Kinderspiel. In seinem Koffer verfügt er außerdem über allerlei Requisiten, um die royalistischen Traumgebilde Elviras auszustaffieren. Ist das Realitätsgebot in dieser Szene, nicht zuletzt durch deren Komik, erst einmal außer Kraft gesetzt, kann auch der geliebte Arturo den Schauplatz betreten, wie aus dem Bild des royalistischen Galans herausgeschnitten, von dem Elvira zu Beginn die Augen nicht losreißen konnte. Mit Recht spricht Sergio Morabito im Programmheft der Aufführung von Elviras »Traumfabrik«13. Der Logik des Traums folgen Oper und Inszenierung auch weiterhin. Vom Double Elvira – Enrichetta war schon die Rede. Ihr entspricht das zweite Double Riccardo – Arturo. Beide sind, wiewohl politisch verfeindet, Liebhaber Elviras. Riccardo, von Elvira verschmäht, hat seine ganze Triebenergie fortan der puritanischen Sache verschrieben, die er mit leidenschaftlichem Hass, vor allem gegen Arturo, verfolgt. In der Hingabe an die Politik aber ist ihm Arturo nicht unähnlich. Dass er mit Enrichetta flieht, geschieht nicht der Liebe wegen, sondern zur Rettung des hingerichteten Königs. Elvira ist nicht nur von Puritanern umgeben, denen die Abstraktion des Politischen von allem Leben über alles geht – die Säuberungsrituale der Puritaner und das buchstabengetreue Buchwissen als Waffe deuten in der Inszenierung plastisch darauf hin. Sie ist auch von ihrem Geliebten um der (politischen) Sache willen verlassen worden. Elviras Identifizierung mit Enrichetta gilt der aus der Gefangenschaft des puritanischen Lebens Fliehenden, nicht der politischen Person der königlichen Witwe. Elviras Wunsch gilt, so banal ausgesprochen, so schwer zu realisieren, einem Liebes-Leben, das nicht politischer Ideologie unterworfen ist. In ihrem Wahnsinn, der im fortwährenden dramatischen Wiederdurchspielen der gescheiterten Hochzeit einer Trauerarbeit gleichkommt, verabschiedet sich Elvira vom royalistischen Wunschbild, nicht aber vom Wunsch selbst. Mit der Todesdrohung gegen Arturo als eine Art von Realitätsprüfung kommt ihre Trauerarbeit zum Ende. In einem puritanischen Zeitalter setzt Elvira erneut den Wunsch zu Wünschen frei, jenseits aller politischen Feindbilder und kultureller Grenzziehungen zu lieben und zu leben.

In den Bellini-Inszenierungen von Wieler und Morabito verschichten sich die Geschichte der Handlung, die politische Geschichte, die Zeit Bellinis und die Zeit unserer Geschichte in einer Raum-Zeit des Gleichzeitig-Ungleichzeitigen. Was gewesen ist, ist darin ebenso gespenstisch präsent wie das Gegenwärtige, das als das potenziell Gewesene erscheint. So sind die Räume der Stuttgarter Bellini-Inszenierungen Räume des Übergangs, Transiträume. Im Unterschied zu den realen Transiträumen, in denen eine brutale Wirklichkeit triumphiert, verwandeln die Transiträume des Stuttgarter Musiktheaters, indem sie der Trauerarbeit im Belcanto ebenso wie der Logik des Traums folgen, alles real Feststehende in das zukünftig Mögliche. Sie überschreiten die Grenzen zwischen den verfeindeten Parteien, Völkern und Kulturen im Inneren wie im Äußeren. Jenseits aller politischen Feindbilder und kultureller Grenzziehungen geben sie Zeit zu lieben und zu leben.

Endnoten

  • 1 Nachdem sich Bellini nach dem Misserfolg von Beatrice di Tenda (1833) mit seinem langjährigen Librettisten Felice Romani überworfen hatte, übertrug Bellini das Libretto für I Puritani dem Dichter Carlo Pepoli, der keine Bühnenerfahrung hatte. – Überarbeiteter Abdruck des Beitrags »Trauer und Traumarbeit im Belcanto«, in: Verwandlung. Oper Stuttgart 2011/12 bis 2017/18. Sieben Spielzeiten unter der Intendanz von Jossi Wieler, hrsg. von Sergio Morabito, Stuttgart 2018, S. 294 – 308.
  • 2 Siehe dazu die Ausführungen zur Grand Opéra in diesem Band; ebenso Heeg: »Reenacting History. Das Theater der Wiederholung«, S. 10 – 40.
  • 3 Siehe dazu Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992.
  • 4 Müller, Heiner: »Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am dramatischen Theater Sofia«, in: Explosion of a Memory. Heiner Müller DDR. Ein Arbeitsbuch, hrsg. v. Wolfgang Storch, Berlin 1988, S. 96 – 99, hier S. 96.
  • 5 Brecht: [Über experimentelles Theater], in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA), hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bd. 22.1, Frankfurt a. M. 1993, S. 540 – 557, hier S. 554 f.
  • 6 Marx/Engels: [Manifest der kommunistischen Partei (1848)], S. 28.
  • 7 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. 10, hrsg. von Anna Freud, Marie Bonaparte, Edward Bibring u. a., Frankfurt a. M. 1999, S. 435.
  • 8 Ebd., S. 430.
  • 9 Ebd.
  • 10 Rousseau, Jean-Jacques: Versuch über den Ursprung der Sprachen, Werke in vier Bänden, Bd. 3, München 1978, S. 162 – 221, hier S. 171.
  • 11 Zur Sichtbarmachung eines Latenten in den Geschichtsbildern durch Brüche, Fehlleistungen oder unvollkommene Nachahmungen (die Doublierung der historischen Figur der Königin durch Elvira) siehe Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011.
  • 12 Zur geschlechterspezifischen Identifizierung und Rezeption in der Oper siehe auch die Abhandlung zu Brecht »Die Oper als Herausforderung des epischen Theaters« in diesem Band.
  • 13 Morabito: »Elviras Traumfabrik«, in: Programmheft zu Vincenzo Bellini I Puritani, Stuttgart 2016, S. 4 – 6.
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