Theater der Zeit

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Vorhang zu für Betonköpfe

Vom Lockdown überschattet, aber trotzdem im Aufbruchsmodus – Barbara Mundels Intendanzstart an den Münchner Kammerspielen

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)

Assoziationen: Bayern Münchner Kammerspiele

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Wenn es stimmt, was manche sagen – nämlich, dass Geschichten am besten von ihrem Ende her erzählt werden sollten –, dann ist dies eine eher traurige Geschichte. Dabei handelt sie eigentlich von der Aufbruchsstimmung eines Anfangs. An den Münchner Kammerspielen ist Intendantin Barbara Mundel neu gestartet. Keine leichte Aufgabe als Nachfolgerin von Matthias ­Lilienthal, der nach zähem Beginn zuletzt große Erfolge feierte. Die Messlatte liegt entsprechend hoch. Doch daran verschwendet Mundel längst keine Gedanken mehr. Die neue Mannschaft an den Kammerspielen hat ein viel größeres Problem: Corona.

Falk Richter, als Hausregisseur Teil des neuen Leitungs­teams, sagt eine Woche vor Beginn der neuen Spielzeit: „Die mit Corona verbundenen Einschränkungen sind ein so schwerer Eingriff in die Kunstfreiheit, dass wir uns fragen müssen, wie wir überhaupt noch aufregendes Theater machen können? Das hat für mich die Frage nach Matthias Lilienthal so dermaßen überschattet, dass ich daran gar nicht mehr denke. Ehrlich gesagt, denke ich oft eher: Hoffentlich findet die Premiere statt!“

Immerhin, sie kann stattfinden, wie auch eine stattliche Reihe weiterer Premieren seit dem 8. Oktober, an dem Richter die Spielzeit mit einem eigens zu diesem Anlass geschriebenen Stück eröffnet. Ein vielversprechender Auftakt. Doch keine vier Wochen nach diesem Aufbruch folgt der vorläufige Abbruch der Saison. Lockdown! Das traurige Ende dieser Geschichte.

Aber von vorn: An jenem 8. Oktober, an dem es losgeht, steht Barbara Mundel im Foyer der Kammerspiele, um das hereintröpfelnde Publikum zu begrüßen. Normalerweise wäre bei so einer Eröffnungspremiere das Gedränge groß. Weil Abstandhalten aber das Gebot der Stunde ist, dürfen nur 200 Menschen ins Schauspielhaus mit seinen rund 650 Plätzen. Die Atmosphäre ist entsprechend gedämpft, fürs Erste aber hilft die Euphorie des Anfangs über die Tristesse des dünn besetzten Zuschauerraums hinweg.

Auf der Bühne tritt die Kunst die Flucht nach vorn an und macht die Situation zum Thema. Das verrät schon der Titel von Falk Richters Stück: „Touch“, also: „Berührung“. Zu erleben ist ein Patchwork aus gespielten und getanzten Szenen (Choreografie Anouk van Dijk), die die gängigsten Facetten der Gemüts- und Geisteszustände bündeln, die unser pandemiegebeuteltes Gemeinwesen beherrschen: Verschwörungstheoretisches und Untergangsprophetisches; Verunsicherung und Vereinsamung.

Auf der Spielfläche liegen künstliche Eisplatten, vereinzelt wie Schollen im Meer. Ähnlich verloren irrlichtern die Tänzerinnen und Tänzer, Schauspielerinnen und Schauspieler anfangs auf der Bühne umher, getrieben von frostigen Elektro-Sounds. Sie weichen einander aus, meiden die Begegnung. Das ist den geltenden Hygieneregeln geschuldet, hier aber auch plausibles Erzählprinzip. Später stecken mehrere Akteure in Plexiglashäuschen, wo sie gegen durchsichtige Wände anrennen, zuckend und zappelnd wie Fliegen unterm Glassturz. So machen van Dijk und Richter die Kehrseite der Berührungsangst sichtbar: eine ungestillte Sehnsucht nach Nähe.

Im steten Wechsel zwischen Tanz und Text entwickelt „Touch“ schnell einen ansprechenden Spielrhythmus, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Aufführung inhaltlich lange kaum vom Fleck kommt. Da ist vieles allzu bekannt und auch redundant (so zumindest der Eindruck bei der Premiere; wir kommen später darauf zurück).

Auf die gegenwartsdiagnostische Bestandsaufnahme im ersten Teil folgt in der zweiten, stärkeren Hälfte der Blick aus einer imaginierten Zukunft zurück auf diese Gegenwart. Die durch Corona getriggerte Angst vor dem sprichwörtlichen „Ende der Welt, wie wir sie kannten“ erweist sich aus dieser Perspektive als Sorge einer wohlhabenden, weiß dominierten Mehrheitsgesellschaft, die vor allem den Verlust ihres privilegierten Lebensstils fürchtet, der auf postkolonialer Ausbeutung und rassistischer Ausgrenzung basiert. Höhepunkt des Abends ist eine fulminant jelinekartige Suada, performt von Schauspielerin Anne Müller, die sich, ausstaffiert mit Reifrock und Perücke, als Kaiserin Marie-Antoinette selbstmitleidig über ein Volk erregt, das sie immerfort enthaupten will, und zynisch über Flüchtlinge echauffiert, die besser mal hätten schwimmen lernen sollen (dann würden sie nicht im Mittelmeer ertrinken), um sich schließlich, wie weiland Horst Seehofer, über die Abschiebung von 69 Asylbewerbern zum 69. Geburtstag zu freuen. Marie-Antoinettes gibt es eben immer wieder, damals wie heute. Touché!

Zudem erfreulich an dieser Inszenierung: Obwohl sie Corona offensiv thematisiert, fühlt sie sich in keinem Moment nach keimfreiem Theater an, allein schon, weil hier die stattliche Anzahl von 13 Menschen die Bühne füllt.

Mit großer Besetzung hat auch Jan-Christoph Gockel Ernst Tollers autobiografisches Buch „Eine Jugend in Deutschland“ ­adaptiert: zehnköpfiges Ensemble, dazu Puppen von Michael Pietsch. Toller selbst tritt als Marionette mit dunklen schwarzen Augen und fragendem Blick auf: hinreißend. Ansonsten aber entpuppt sich der Abend als uninspiriert zusammengestöpselte Kombination aus Schauspieler- und Puppentheater mit (Live-)Video- und Gesangseinlagen. Anything goes, aber nichts zündet. Auch der Versuch, Tollers Lebenserinnerungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Münchner Räterevolution von 1918/19 mit den Biografien der Schauspieler zu koppeln (der 81-jährige Walter Hess zum Beispiel wurde ein paar Monate vor Tollers Tod 1939 geboren), kommt über die Anfangsidee nicht hinaus.

Immerhin aber präsentiert sich auch hier ein Theater, das sich nicht auf pandemiekonformes Kleinformat zurechtstutzen lassen will. „Wir wollen uns weiterhin was trauen!“, sagt Barbara Mundel. Und: Sie will offen auf die Stadt zugehen. Auf die ganze Stadt wohlgemerkt. „Welche Form von Verdrängung findet hier statt? Wie divers ist München wirklich? Wer lebt an den Rändern?“ Das sind essenzielle Fragen, die sie beschäftigen. „Das ist nicht München-spezifisch, sondern in vielen Groß­städten ein Riesenproblem, aber in München ganz besonders. Es fehlen Freiräume. Darum fragen wir uns: Wie schaffen wir es, mit unserer künstlerischen Arbeit über das Zentrum dieser Stadt, in dem wir rein geografisch angesiedelt sind, hinauszuwirken?“

Eine Antwort darauf: Mundel möchte möglichst viele „Menschen in künstlerische Prozesse verwickeln“. Exemplarisch dafür: „Habitat / München“, eine Tanzperformance mit zwölf Münchnerinnen und Münchnern, deren nackte Leiber Choreografin Doris Uhlich zu den Techno-Beats eines DJs aufeinanderprallen lässt. Die zwölf klatschen sich auf ihre blanken Bäuche und Brüste oder lassen Schenkel und Pobacken auf den Bühnenboden platschen, dass es klingt wie beim Schnitzelklopfen. Ihre kollektive Nacktheit hat etwas Egalitäres: Alle setzen sich gleich ungeschützt den Blicken des Publikums aus. Andererseits treten die Unterschiede diverser Körperformen besonders offenkundig zutage.

Was an „Habitat / München“ darüber hinaus sichtbar wird: Barbara Mundel schreibt die performanceorientierte, postdramatische Linie von Matthias Lilienthal fort. Jan-Christoph Gockels Toller-Abend ist die einzige Inszenierung im Eröffnungsreigen, die auf den Text eines Autors aus dem Literaturkanon zurückgreift. Zudem ist Mundels Ensemble noch ein Stück diverser als das ihres Vorgängers, umfasst es doch nun auch Menschen mit Handicap. In „Touch“ zum Beispiel spielt der glasknochenkranke Erwin Aljukić mit. Die wegen einer neuromuskulären Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesene Lucy Wilke ist mitsamt ihrer Produktion „The Scores that shaped our friendship“ über Intimität und fragwürdige Körpernormen aus der freien Szene an die Kammerspiele gewechselt.

Und in „Ich bin’s Frank“ steht die mit Trisomie 21 geborene Julia Häusermann auf der Bühne. Deren Performance feiert die Kraft der Behauptung. Häusermann schlüpft mit Hingabe in verschiedenste Rollen, vom Schlagersternchen bis zum titelgebenden Seifenopernhelden Frank Lewinsky aus „Verbotene Liebe“, und bleibt doch auf bewundernswerte Weise stets ganz bei sich. Im jugendstilvergoldeten Rahmen des Schauspielhauses, das viele noch immer als Hort einer hehren Schauspielkunst herkömmlicher Art gewahrt sehen wollen, ist das eine starke Setzung.

Gleiches gilt für „Liebe. Eine argumentative Übung“. Das Stück der israelischen Autorin Sivan Ben Yishai, das als Stimmenchor angelegt ist, verhandelt unter anderem weibliche Körperscham. Regisseurin Heike M. Goetze macht daraus ein Solo für Schauspielerin Johanna Eiworth, die weite Teile des Abends in schambefreiter Nacktheit agiert.

Auf feministische Perspektiven legt Barbara Mundel als erste Frau an der Spitze der Münchner Kammerspiele besonderes ­Augenmerk. Eine der Nebenspielstätten, die ehemalige Kammer 2, hat sie in Therese-Giehse-Halle umgetauft. Zudem grüßt die legendäre Münchner Schauspielerin nun als Büste im Foyer des Schauspielhauses, das bisher ausschließlich männ­liche Theaterheroen bevölkert haben. Während die Herren aus Bronze gegossen sind, hat Künstlerin Kate Isobel Scott Giehses Charakterkopf aus Pappmaché geformt. In der Wahl des Materials steckt einiges an Symbolkraft: Flexibilität und Formbarkeit statt Starre und Sturheit.

Auch Barbara Mundel will als Theaterchefin definitiv kein Betonkopf sein. „Sie versucht“, berichtet Falk Richter, „Leute in flachen Hierarchien zusammenzubringen. Alle können und sollen sich einbringen. Vom leitenden Regisseur bis zum Hospitanten werden alle gehört.“ Corona hat diesen Austausch allerdings erheblich erschwert. Ensemble-Versammlungen zum Beispiel konnten bisher nur digital abgehalten werden: eine Hypothek für die Teamgeist-Findung. Mittlerweile wirkt das aber beinahe wie ein Luxusproblem.

Kurze Chronologie der sich zuspitzenden Lage: Durfte das Publikum anfangs die Masken während der Vorstellung noch abnehmen, wurde schon bald Mund-Nasenschutz für die gesamte Aufführungsdauer Pflicht. Es folgte in Bayern die Reduzierung der maximal zulässigen Zuschauerzahl von 200 auf lediglich 50. Und noch während Barbara Mundel gemeinsam mit anderen Intendanten in einem offenen Brief an die Staatsregierung gegen diese Verordnung protestierte, wurde in Berlin der neuerliche Lockdown beschlossen. Fatal, findet Mundel. Die Theater müssten offenbleiben – nicht trotz, sondern wegen der Pandemie, denn „die Corona-Krise ist nicht nur eine medizinische und wirtschaftliche Krise. Unsere Gesellschaft steht unter massivem Druck. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist gefährdet. Gerade deshalb brauchen wir jetzt kulturelle Angebote. Wir müssen über die Zukunft und das Zusammenleben unserer Gesellschaft sprechen.“

Am Abend vor dem Lockdown zeigen die Kammerspiele noch einmal „Touch“. Interessant, wie sich die Wahrnehmung seit der Premiere verändert hat. Erschienen Falk Richters Reminiszenzen an den Corona-Frühling damals ein wenig abgegriffen (weil seit den Lockerungen nach dem Lockdown bereits von neuen Erfahrungen überschrieben), wirken sie nun, die neuerliche Schließung vor Augen, fast schon kassandrahaft verstörend.

„Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“ hat Barbara Mundel als Motto für ihre erste Spielzeit ausgegeben. Die Realität zeigte ihrerseits kein Einsehen und verschonte das Theater nicht. Im Anschluss an die vorerst letzte Vorstellung von „Touch“ am 1. November gibt es noch einen Zuschlag: „Last Assembly“. Eine letzte Versammlung, bis Punkt Mitternacht die Lichter ausgeknipst werden. Eine Art Open-Stage-Programm. Lucy Wilke singt im Duo mit ihrer Mutter Bluesiges. Falk Richter liest einen Text über Europa. Lukas Karvelis aus dem „Touch“-Ensemble tanzt ein Solo. Es ist wie bei einem Leichenschmaus, fröhlich trotz des betrüblichen Anlasses. Dabei wird eine unerschütterliche Energie spürbar, die Optimismus weckt: Dass sich das Theater nicht unterkriegen lässt! So bekommt diese traurige Geschichte doch noch ihr hoffnungsvolles Ende. //

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