Theater der Zeit

!Stadttheater Greifswald Theaterstadt?

Erschienen in: !Stadttheater Greifswald Theaterstadt? – 100 Jahre Theater Greifswald (09/2015)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Akteure

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Dem Theater Greifswald in unterschiedlichster Weise seit Jahrzehnten verbunden, versuche ich sowohl meinen Erinnerungen Raum zu geben als auch den Gegenstand aus dem Blickwinkel des Theatergeschichtlers historisch umfassend und quellengestützt darzustellen. Ich bemühe mich, die oftmals arg strapazierte Beziehungsgeschichte zwischen dem Greifswalder Theater und der Stadt Greifswald unter dem Diktat wechselnder staatlicher Gewalten nachzuerzählen. Dabei werde ich manches mehr hervorheben, anderes wieder mehr in den Hintergrund verweisen und einiges anders gewichten, als es bisher in den schmalen historischen Erinnerungen und Darstellungen des Theaterlebens in Greifswald üblich war. Möglichweise komme ich so, und mit mir der Leser, dem zwar scheinbar zeitlosen und doch jederzeit hoch umstrittenen Phänomen „Deutsches Stadttheater“ auf seine Lebensspur.

Anekdotische Schnurren auf und hinter der Bühne, hochgetriebene Kantinenschwänke, sensationelle Enthüllungen merkwürdig erregender Amouren, wofür Theater bestimmt ein guter Nährboden ist, Garderobenklatsch aller Art sind nicht zu erwarten. Nicht, weil es derartiges nicht zu berichten gäbe – teilweise ist das andernorts nachlesbar –, sondern deshalb, weil all das den Blick verkleben würde für das Wichtige, den gnadenlosen Existenzkampf, der im und um das Theater Greifswald die längste Zeit seines Bestehens geführt wurde. Entgegen manch anderer Erfahrungen ist das Treiben des Ministeriums für Staatssicherheit in diesem Zusammenhang nicht weiter erwähnenswert. Vielleicht saß die Stasi mit in der Kantine, vielleicht nicht; vielleicht saß sie in manchem Büro, möglicherweise im allerheiligsten Büro, oder auch nicht. Hier gab es nichts zu verbergen und hier gab es keine Agentur des Klassenfeindes auszuheben. Die politische Geheimpolizei drangsalierte einige, vielleicht auch mehr als nur einige Mitglieder des Theaters in ihrer außertheatralischen, ihrer bürgerlichen Existenz, aber sie ließ im Theater selbst den Dingen weitgehend ihren Lauf. Individuelle Schicksale erschließen sich sowieso kaum aus den vorhandenen Archivalien, selten genug blitzt eines beunruhigend auf und lässt den Leser ratlos, mit unbeantwortbaren Fragen zurück. Zwei aus früheren Zeiten, vor 1945, sind mir besonders aufgefallen:

Da ist Kurt Brüssow, Inspizient und Schauspieler in den Spielzeiten 1933/34 bis 1935/36, dann aus Greifswald weggegangen, aber von der Theaterverwaltung gesucht und gemahnt, weil er einen Gagenvorschuss nicht zeitgerecht zurückgezahlt hat. – Eine minimale Summe, doch für Kurt Brüssow völlig unerschwinglich, denn er war inzwischen verhaftet und verurteilt aufgrund eines Vergehens nach § 175 des Bürgerlichen Strafgesetzbuches. Das Theater, davon informiert, besteht weiterhin nun bei den Eltern auf Rückzahlung und sucht zugleich unerbittlich den Haftaufenthalt von Brüssow zu erfahren. Die Kassenbeamten des Theaters und inzwischen auch der Stadtverwaltung, die sich mit auf die Suche gemacht haben, erfahren dann, dass Kurt Brüssow nach Verbüßung der Zuchthausstrafe in ein KZ weggesperrt ist. Sie zaudern nicht, auch dort Kurt Brüssow weiterhin mit ihrer Rückzahlungsforderung zu bedrängen. Nach vier Jahren wird Brüssow aus dem KZ entlassen, was dann mit ihm geschah, bleibt unbekannt. Es sollte uns interessieren. Das Theater enthüllt sich in seiner schrecklichen, in seiner zweiten, in seiner bürokratischen Natur als schlichter städtischer Betrieb in dunklen Zeiten, mitleidlos und gesetzestreu. Wir sollten es niemals übersehen: Am Theater arbeiten nicht die besseren Menschen.

Da ist Lotte Siemers, in der Spielzeit 1936/37 Hilfsspielleiterin. 1937/38 wird sie als Spielleiterin des Schauspiels und Dramaturgin geführt. Sie schreibt kluge theaterästhetische und -historische Miniaturen in der Theaterzeitschrift, aber vielleicht sind sie alle aus uns unbekannten Quellen abgeschrieben. In der nächsten Spielzeit ist sie wie das gesamte künstlerische Personal dem zweiten Intendantenwechsel in der Geschichte des Stadttheaters zum Opfer gefallen. Nur brauchte es damals gar nicht eines Intendantenwechsels, um die künstlerischen Mitarbeiter auszutauschen. Der erste langjährige Intendant Emanuel Voß tauschte von 1918 bis 1935 fast jede Spielzeit seine Spielensembles zu zwei Dritteln aus. Einjahresverträge waren die ungute Regel, Ensemblebildung blieb immer nur ein Zufall in den Theatern der Größenordnung von Greifswalds Stadttheater. Zurück zu Lotte Siemers: Sie hat dann in Berlin an der Schauspielschule des Deutschen Theaters als Schauspiellehrerin gearbeitet, einmalig oder mehrmals, fest angestellt oder gastweise – wir wissen es nicht. Wir wissen aber, dass der für uns nur kurzzeitig und fragmentarisch aufscheinende berufliche Werdegang von Lotte Siemers seiner Zeit höchst erstaunlich und selten ist. Wie gelang es ihr, in diese absolute Männerdomäne vorzudringen – und das in Greifswald?

Zwei Beispiele für eine kaum zu schreibende, aber immer mitzudenkende Theatergeschichte von unten. Die alltäglichen Kleinigkeiten haben in dieser Geschichte, die erst zu erzählen ist, ihren Platz: der Witz von einer Heizung, die mit schöner Regelmäßigkeit jeden Winter zusammenbrach, unmögliche Probenbedingungen in einem permanent übernutzten Theaterhaus, der allabendliche Kampf um das letzte Bier in einer überfüllten, überlauten, rauchgeschwängerten Kantine, Brüllarien, Weinkrämpfe. Das Unvermeidliche: Hast du nicht gesehen, der ging mit dem, der mit der, die mit der nach Hause, ins Hotel oder wer weiß wohin. – Oh ja, die unendliche Geschichte von den vielen Gästen, die immer herzlich begrüßt wurden, dann entsetzt ob der zugemuteten Unterkünfte aufstöhnten und all ihre Verschlagenheit bis zur Drohung mit sofortiger Abreise ohne Wiederkehr mobilisierten, um zu guter Letzt siegreich ins „Boddenhus“, Greifswalds damalige Nobelherberge, einzuziehen. Und trotz alledem, eine Konstante im ganzen Wirbel gab es: die merkwürdig selbstbewusst auf alles herabschauende, stoisch ihren Dienst verrichtende Truppe der Theatertechniker, die das entscheidende kleine bisschen Mehr, das was eben gutes Theater im Inneren ausmacht, Interesse an der Inszenierung und Verantwortung für die Vorstellungen, wohl dosiert und kenntnisreich einzusetzen wusste. So geriet alles wieder ins Lot. Das liegt alles zurück, in den 1970er und 1980er Jahren war es der alltägliche Stress und das alltägliche Glück. Glück, weil sie allesamt – aber hier beginnt vielleicht schon die gnädige Verklärung – in diesem Theater gern und wach probierten, wenn denn nur die Probebühne offen stand für das größte Risiko des Theaters: sich gegenseitig lustvoll auszuliefern in diesen tristen Räumen.

Die kurzen Zeiten künstlerischen Glücks, ästhetischen Schwungs, ungebremster Lust des szenischen Lebens, ästhetisch Gestalt gewinnend in herausragenden, weit über Greifswald hinauswirkenden Aufführungen, denen aber in Greifswald nur selten Erfolg vergönnt war, können nur angedeutet werden. Eine Reihe von Inszenierungen aller Sparten hätten eigene Beschreibungen verdient. Einige sind zumindest als Inszenierungsdokumentationen greifbar, andere werden sich immer mehr im künstlichen Nebel theatralischer Legendenbildungen, dem ersten und mächtigen Feind der Theatergeschichtsschreibung, zu unfassbaren und unerhörten Ereignissen verflüchtigen.

Ein Wort noch an den Leser, dem das Theater Greifswald fremd ist: Ein solches Theater steht in allen deutschen Klein- und Mittelstädten.

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