Theater der Zeit

Auftritt

Volkstheater Wien: Szenen einer Ehe

„Bullet Time“ von Alexander Kerlin – Regie Kay Voges, Bühne Michael Sieberock-Serafimowitsch, Videoart/Live-Kamera Manuel Bader, Anton Hammel, Eduardo Trivino Cely, Georg Vogler, Ulrike Schild, Live-Schnitt Max Hammel

von Michael Hametner

Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Dossier: Bühne & Film Alexander Kerlin Kay Voges Volkstheater Wien

Frank Genser, Lavinia Nowak, Elias Eilinghoff sowie unten Lavinia Nowak, Frank Genser, Uwe Schmieder, Evi Kehrstephan, Fabian Reichenbach in „Bullet Time“ in der Regie von Kay Voges am Volkstehater Wien. Foto Marcel Urlaub // Volkstheater
Frank Genser, Lavinia Nowak, Elias Eilinghoff sowie unten Lavinia Nowak, Frank Genser, Uwe Schmieder, Evi Kehrstephan, Fabian Reichenbach in „Bullet Time“ in der Regie von Kay Voges am Volkstehater WienFoto: Marcel Urlaub // Volkstheater

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Kay Voges hat mit der Uraufführung von „Bullet Time“ seine letzte Saison am Volkstheater Wien eröffnet und meinte, sie sei für ihn noch einmal eine zum Genießen. Ob er mit der bei seinem Chefdramaturgen Alexander Kerlin in Auftrag gegebenen Vorlage etwas hingestellt hat, dass zum Genießen ist, möchte ich bezweifeln. Voges und Kerlin sind vor drei Jahren auf einen Stoff gestoßen, der in der Tat dramatisches Potenzial besitzt, aber dass der Held dieses Stoffs wirklich ein „Scharnier der alten Welt und der Unseren“ war, wie über ihn im Programmheft zitiert wird, scheint ein ziemlich gewollter Blick. Es geht um Eadweard Muybridge, einem Pionier der Fotografie, der 1878 die Bewegung eines Pferds erst in Einzelbilder auflöste und dann im Schnelldurchlauf daraus die Anfänge des Films entwickelte. Das ergäbe den Stoff für ein Theaterstück über Wissenschaftsgeschichte, was „Bullet Time“ am Anfang auch mit einem großen Monolog über den Erfinder und seine Leistung zu Teilen bedient. Bedienen muss, denn ihn kennt ja so gut wie niemand. Aber da gibt es noch etwas, was Regisseur Voges und Autor Kerlin von diesem Stoff überzeugt hat. Muybridge hat den Liebhaber seiner Frau erschossen, vorsätzlich und kaltblütig. Dafür wurde er aus unklaren Gründen trotz Geständnis von den Geschworenen nicht schuldig gesprochen. Vielleicht hat Leland Stanford, Eisenbahn-Tycoon und gieriger Kapitalist, dazu beigetragen. Er hatte nicht nur das damals schnellste Pferd der Welt in seinem Rennstall, sondern auch den rastlosen Erfinder Muybridge unter Vertrag, weshalb er wollte, dass der das Pferd im Galopp fotografiert, um zu sehen ob es Momente gibt, in denen es fliegt. Was Muybridge schließlich mit 16 Fotoapparaten gelang. 1999 haben die Wachowski-Schwestern in ihrem Film „Matrix“ mittels 122 Kameras den Flug einer Pistolenkugel im Bild so verlangsamt, dass das Ziel ihr ausweichen konnte. Den Effekt nennt man seitdem Bullet Time.

Der Prozess gegen Muybridge gibt dem Abend den szenischen Rahmen. Links der Tisch der Richterin, rechts die Plätze von Staatsanwalt und Verteidigerin. Alles, was bei der Suche nach dem Urteil zur Sprache kommt, wird in der Mitte der Bühne als Film vorgeführt. Michael Sieberock-Serafimowitsch blieb die Aufgabe, sich in die Zwecke einzufügen, was ihm durchaus gelingt. Um in der Nähe der Erfindung des Angeklagten zu bleiben, wird als Medium der Livefilm benutzt. Das Publikum wird zum Zeugen, wie Film entsteht. Für eine Kutschfahrt im Winter wird ein Flockenwirbel mittels Ventilator erzeugt und die Kutsche gerüttelt und geschüttelt. Das schafft nicht unbedingt neue Perspektiven aufs Thema, ist aber mit vier Videokameras aufwendig und funktioniert technisch perfekt. Keine zu unterschätzende Leistung der Live-Kamera-Crew. Weil man gewissermaßen einen Historien-Film „dreht“, bleibt der Regie nichts anderes übrig, als dem Publikum sehr konventionelles Theater anzubieten. Dass dies mit voller Hingabe der Schauspieler geschieht, gleicht das Konventionelle der Szene ein wenig aus.

Frank Genser spielt den Foto-Pionier sehr genau im Zwiespalt von Genie und Wahnsinn. Sein Muybridge wirkt – schöne Figurenerzählung – etwas introvertiert, weil er offenbar mit dem Kopf nicht im Gerichtssaal, sondern in der Welt seiner Erfindungen steckt. Flora Muybridge wird von Lavinia Nowak nicht einfach als Betrügerin dargestellt – der Vater ihres Kindes ist nicht ihr Ehemann –, sondern als selbst Betrogene. Muybridge hat schon wenige Tage nach der Hochzeit alle Liebesversprechen gebrochen und ihr sein Gefühl zugunsten des Fotografierens entzogen. Als mit ihrer Liebe Alleingelassene wertet sie die Figur deutlich auf. Auch Elias Eilinghoff als Liebhaber bringt Pariser Flair mit in den Saloon, ohne die Figur dem Image des Frauenaufreißers auszuliefern. – Die Darsteller:innen des Abends entwickeln ihre Rollen aus den Dialogen, was im Volkstheater zugunsten stärker offener und grotesker Spielweisen rar geworden ist. Dabei ist das Material, das ihnen Alexander Kerlin mit den Dialogen in Sprache und Form anbietet, nicht besonders ergiebig. Der Held opfert die Liebe seiner wissenschaftlichen Obsession, die Ungeliebte holt sich ihr Frauenrecht mit feministischem Anspruch von einem Anderen, der Andere lässt nichts anbrennen, gibt sich dabei anarchistisch, weshalb er nebenbei gleich mal den Kapitalismus angreift usw.

Nun kann die Vorlage nicht allein auf die psychologischen Momente der dramatischen Geschichte blicken, sondern muss die Stufe darüber erreichen. Deshalb bekommt das Stück auch einen Untertitel: „Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders“. Sehr gewagte Zusammenführung, denn Liebhabermord und Geburt des Kinos haben wenig bis gar nichts miteinander zu tun. Kaum einleuchtend, warum dem Liebhaber folgender Satz in die Rolle geschrieben worden ist: „Stück für Stück wird die Fotografie unsere Welt auslöschen und durch ihre eigene Wahrheit ersetzen“. Auf diese Meta-Ebene bekommt Alexander Kerlin sein Stück nicht. Warum wird gegen Ende der Inszenierung das Thema des Verlusts von Wahrheit durch das Foto aufgegeben? Immerhin wurde es im Text als manipulative Ware, die unsere Köpfe überschwemmt, bezeichnet.  Warum erlebt der Zuschauer stattdessen eine Apotheose der Fotografie als Medium der Erinnerung, die ihm mit einer aufwendigen Collage aus ikonischen Fotomomenten geliefert wird?

Diese Mehrfachstrategie, Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Moderne und ihres ambivalenten Charakters und Drama der Individuen zu sein, steht die Vorlage nicht durch. Spielanlässe, die Kay Voges und seine Schauspieler genutzt haben, liefert sie durchaus. Am Ende stört der Eindruck, etwas zu viele Szenen einer Ehe gesehen zu haben.

Erschienen am 10.9.2024

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