Essay
Warum Zirkus?
Reflexionen über ein progressives Medium
von Thomas Oberender
Erschienen in: Theater der Zeit: Dickicht der Städte – Shermin Langhoff über die Dialektik der Migration (04/2017)
Assoziationen: Debatte
Ein Merkmal des deutschsprachigen Theaters ist in den Augen des australischen Zirkusregisseurs Yaron Lifschitz die permanente Produktion von Neuem, die bei Autorinnen, Schauspielern und Regisseurinnen von der Frage angetrieben wird, wer das Genie war, das gerade vor einem diese Bühnen geprägt hat und zu dem man selbst im Vergleich bestehen will. Das Neue entsteht aus der oft unbewussten Angst, so zu werden wie der bewunderte Vorgänger oder die bewunderte Vorgängerin – Harold Bloom nannte das „Einflussangst“. Der Zirkus hat dieses Problem nicht, sagt Lifschitz, denn er ist eine Kunst der wandernden Künstler, der reisenden Truppen.
Die Entwicklung des zeitgenössischen Circus ist eine Reaktion auf die Konventionen des eigenen Mediums und zugleich der Versuch, modernes Theater zu machen ohne „Theater“. Es handelt sich um eine bewusste Entscheidung für eine andersartige Erzählweise, die nicht textbasiert ist, kollektiv und interdisziplinär produziert wird und eine Form von Realität kreiert, die nicht dem Gebot der Repräsentation gehorcht, sondern der Andersartigkeit, des Magischen und Riskanten.
Vor einigen Jahrzehnten beschäftigte man sich vonseiten der Theaterwissenschaft mit dem Einfluss des Zirkus auf das progressive Theater. Heute wird der zeitgenössische Circus zunehmend zum gleichberechtigten Studiengegenstand – er entwickelte sich zu einem progressiven Medium, das Techniken des Theaters, Elemente des...