Bericht
Der breite Theaterbegriff
Das zehnte Schweizer Theatertreffen 2023 in Fribourg
von Daniel Mezger
Assoziationen: Schauspiel Schweiz
Die Politikerreden zum Auftakt zeigen es bereits: Da wird mit Stolz auf die Vielsprachigkeit dieses Landes verwiesen, gerade hier in Fribourg, einer der wenig echt zweisprachigen Städte in einem der wenigen zweisprachigen Kantone der Schweiz, und dann, als man aus Unterstreichungsgründen kurz in die Nichtmuttersprache wechselt, stolpert dann doch Redner nach Redner über jedes zweite Wort. Die Schweiz hat viele Sprachen, aber man bleibt am liebsten in der eigenen. Was fürs Theater heißt: Es ist zwar möglich, in kurzer Fahrtzeit die meisten Spielstätte des Landes zu erreichen, aber den sogenannte Rösti- beziehungsweise Polentagraben (die gedachte Linie, die die Deutschschweiz von der französischen, bzw. italienischsprachigen trennt) überquert man dafür dann eben doch nie. Man ist sich fremd, was die auf dem Theater gesprochene Sprache, aber auch was die Theatersprache selbst anbelangt. Die Orientierung richtet sich zum jeweils sprachverwandten Ausland. Und so kann man in der Westschweiz auch nach Übersetzung nicht recht verstehen, was das sein soll, dieses „Stadttheatersystem“ und in der Deutschschweiz fragt man sich, wo denn die Ensembles sind, die zu all den Häusern gehören.
Eine, die das Land bereist hat, um Brücken über besagte Gräben zu bauen, ist Julie Paucker, Alleinjurorin und Kuratorin dieses Festivals. Sie hat die Aufgabe, nicht nur die besten Stücke des letzten Kalenderjahres mitzubringen, sondern auch, eine ausgewogene Auswahl bereitzustellen, etwas Deutschschweiz, etwas Westschweiz, etwas freie Szene, und wehe, wenn schon wieder das Tessin zu kurz kommt … Dazu kommt ein wechselnder Gastgeberkanton, plus will dieser dann auch bitte nicht nur den jeweiligen Hauptort bespielt wissen. Und so wird aus dem Festival bisweilen ein Branchenabstecher in Schulfahrtmanier ins vermeintliche Theaterniemandsland.
Das Theatertreffen hat also zwar den Namen mit dem großen Geschwister aus Deutschland gemein, will und soll aber anderes. Und besitzt, das fällt sofort auf, einen deutlich breiteren, vielseitigeren Theaterbegriff.
„A Game of Nibelungen“ von Laura Gambarini und Manu Moser, Compagnie du Botte-Cul – ein Solostück, so klein, es hätte für Berlin keine Chance. Aber das ideal für Fribourg. Ein Schulzimmer. Die Lehrerin will die Nibelungen besprechen. Hat natürlich niemand gelesen. Also gibt es eine Lektion in Völkerverständigung. Den als französischsprachig angenommenen Schüler:innen wird auf Deutsch der deutscheste aller Stoffe erklärt. Und weil das schwierig ist – die Fremdsprache, die Verwicklungen – braucht es Hilfe von allem, was herumliegt. Die Handyhülle wird zu Kriemhild, die Thermosflasche Siegfried. Und Hagen ist ein Waschlappen. Ein großer Spaß, der in den besten Momenten das kann, was Objekttheater so gut gelingt: Brutalität auf eine Weise darstellen, die sich gerade durchs Abstrahieren einbrennt. Hier: Der Lappen, der den Wandtafelzirkel Brünhilde vergewaltigt.
Apropos Schule: Klassenfahrt nach Bulle. Aussteigen vor einer Veranstaltungshalle im Nirgendwo. Darin der italienischsprachige Beitrag. Und der leise Verdacht: War das schlicht das einzige, was im kleinen Kanton jenseits der Alpen dieses Jahr zu finden war? „Le relazioni pericolose“ in der Regie von Carmelo Rifici, LAC Lugano Arte e Cultura. Der Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ wird als Krieg zwischen den Egos interpretiert. Krieg als Wort-Bild-Installation. Man kennt solcherlei teils aus dem französischen Theater. Alles schön, aber als Abend trägt es nicht.
Das Publikum diskutiert im Anschluss dennoch interessiert. Was daran liegt, dass es vollständig mitgebracht wurde: Ein Projekt für junge Menschen namens „die Voyeure“, das den niederschwelligen Zugang zu Theateraufführungen ermöglicht, ist zu Gast. Und auch dabei: das „Forum junger Theaterschaffende“, die eingeladen sind, das Festival zu begleiten und die den eigentlichen Festivalkern ausmachen. In den persönlichen Gesprächen mit Leuten aus der Gruppe findet er dann auch statt, der Dialog über die Sprach- und Theaterherkunftsgräben hinweg.
Zum Beispiel bei „Rendez-vouz“ von Eugénie Rebetez. Mehr Tanz- als Theaterstück. Ein Solo mit Gästen. Und ein Abend der kleinen Zeichen, des feinen Humors. In bezaubernden Vignetten wird die Unzulänglichkeit des eigenen Daseins thematisiert, nein, angedeutet. Wer hier keine leuchtenden Augen bekommt, hat kein Herz. – Oder hat eine andere Theaterherkunft. Wo bleibt das Handwerk?, fragt eine aus dem Forum. Während bei „Ödipus Tyrann“, Regie Nicolas Stemann, vom Schauspielhaus Zürich dann das Publikum angetan ist und der Kritiker abwinkt. Diese Idee der Kanonauffrischung ist durch. Anhand von Ödipus etwas über Klimawandel sagen wollen, weil doch auch in Theben eine Seuche war? Viel Turnen, Chorsprechen, von dem trotz beachtlicher Kraft der Spielerinnen wenig bleibt außer dem Ärger über eine etwas gar einfache politische Message. (Ach, wir sind schuld am Klimawandel?)
Klassenfahrt zwei. Fahrt nach Romont. Eine Halle am Rande des Orts. Hier: „Biais aller-retour“, Text und Inszenierung Steven Matthews, Cie Don't Stop Me Now, Théâtre Am Stram Gram, Genf, ein Stück für junges Publikum, denn ja, auch das gehört hier dazu. Aber dieses Stück wünscht man vielen. Der Junge, der den Goldtopf am Ende des Regenbogens sucht, um der Oma das Pflegeheim zu ersparen. Überdreht, hochgetaktet und mit einer Flut an Einfällen, wie man sie in der Dichte kaum je gesehen hat. Die Gedanken des Jungen als streitende Fische, sprich weiße Handschuhe im Schwarzlicht, werden zum Mummenschanz-Gesicht, schnelle Schnitte, jede Sekunde ist unterhaltend. Aber, und das macht das Stück zum Highlight, es duckt sich keineswegs weg oder zieht einfache Lösungen aus dem Hut. Die Oma bleibt alt, wird ins Pflegeheim müssen. Dafür bekommen wir einen Regenbogen auf die Bühne gezaubert. Sprühregen im Gegenlicht.
Fürs Schweizer Treffen gibt es auch die Schweiz als Thema. „EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz“ , der letztjährige Publikumsrenner des Neumarkttheaters Zürich (Konzept und Regie Piet Baumgartner und Julia Reichert), zeigt, dass Politik als Thema nicht automatisch zu politischem Theater wird. Eine launige Revue um die Nichtwiederwahl von Rechtsaußenpolitiker Christoph Blocher. Hier führen die Nummern zu wenig echten Theatermomenten. Ja, man erinnert sich an so einiges (die Details wurden damals medial breit und lang besprochen), ja, man langweilt sich nicht, aber wirklich hängen bleibt bloß die Verelffachung der Protagonistin mal mit weniger, mal mit bestechender Ähnlichkeit. Wurde nicht ein Thriller versprochen?
Die Setzung des letzten Stücks als Abschluss ist hingegen brillant. „The Ghosts are returning“ von GROUP50:50, Inszenierung Christina Tabaro, Eva Maria Bertschy, Michael Disanka und Elia Redinger. Nach viel Innenschau zeigt diese, was eben auch zur Schweiz gehört: die Verstrickungen in Machenschaften jenseits der Landesgrenzen. Im Fokus hier sind Skelette des Mbuti-Volks, die in den Fünfzigern exhumiert und in die Schweiz gebracht wurden. Der Abend ist vielstimmig, mehr Konzert als Stück. Und auch wenn künstlerisch nicht alles gelingt, so ist das Erzählengagement hier glaubwürdig, wo viele ähnliche Abende schnell in Stoff-Ausbeutungs-Verdacht geraten (man denke an den Thementourismus eines Milo Raus). Die Länderübergreifende Gruppe begibt sich in die echte Auseinandersetzung. Und ein weißer Schauspieler im kongolesischen Dorf ist eben auch selbst einer dieser Geister, der zurückkehrt. Und der Abend macht klar: Über diese Knochen kann man reden, an ihnen kann man etwas zeigen, aber eine Rückgabe von Knochen ergibt kein Happyend. Das Thema ist größer, die Verantwortung der Schweiz, die sich gerne als klein und unschuldig gibt, ist es auch.
Erschienen am 4.7.2023