Stück
Island. Als Freunde sind wir erbarmungslos
Eine Farce für drei ältere Schauspieler, eine ältere Schauspielerin und einen Sprecher
von Gornaya
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater ist kein Wettrennen – Barbara Frey am Schauspielhaus Zürich (01/2018)
Assoziationen: Dramatik Bühnen Bern
Personen
Grantler, der Präsident
Sanders/General Dentz, ein Major (eine Frau)
Blomberg-Pappenheim/General Wilson, ein Minister Kolschitzky, Grantlers Sekretär, „Mädchen für alles“, mit Buckel
Sprecher Marylin, eine Puppe
Hinweis: Grantler singt aus Paul Abrahams Operette „Die Blume von Hawaii“ (1931).
PROLOG
Major Sanders und Blomberg-Pappenheim beugen sich über eine Spielanlage, die den Syrisch-Libanesischen Feldzug von Juni 1941 nachstellt, der auch unter dem Namen „Operation Exporter“ bekannt ist.
SANDERS Wie lange spielen wir schon?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich kann mich nicht erinnern.
SANDERS Hauptsache, wir langweilen uns nicht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht, solang wir spielen. Sie sind an der Reihe!
SANDERS Solang wir spielen, amüsieren wir uns, General Wilson.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Können wir nicht mal tauschen, General Dentz?
SANDERS In all den Jahren haben Sie nie General Dentz gespielt! Ihre Chancen stehen schlecht. 45‘000 Mann gegen 34‘000 Mann.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Letzte Woche haben meine Bomber den Flugplatz zerstört.
SANDERS Nichts als heiße Luft. Ihre Panzer haben Sie nach Libyen verlegt. Ihre Niederlage dort wird in die Geschichte eingehn und Sie den Kopf kosten. Was sagt das Wetter?
BLOMBERG-PAPPENHEIM (würfelt) ’S regnet seit Tagen. Der Boden ist schlammig.
SANDERS ’S ist der 2. Juni!
BLOMBERG-PAPPENHEIM So sind nun mal die Regeln, General Dentz. 4 Augen: ’S regnet seit Tagen.
SANDERS Als ob’s im Juni 1941 in Syrien geregnet hätte. Mir ist schwindlig.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Hier steht: Beginnen Sie mit einem Angriff gegen die Vichy-Kavallerie. Wie soll das bei dem Sauwetter gelingen? Meine Einheiten in Feld 22.06 gegen Ihre Kommandos in 23.06 …
SANDERS Sie müssen zuerst Ihre Bomber überholen, sie sind nicht aktiviert. Das kost’ was.
BLOMBERG-PAPPENHEIM 2 Jetons.
SANDERS Das ist kein Jeton, sondern der „Stern der Völkerfreundschaft“.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ein lästiger Orden, immer ist er im Weg.
SANDERS Wollen Sie nicht für Verstärkung sorgen? Sie sind ein erbärmlicher Feldherr. Würfeln Sie!
1. Akt, erste Szene
GRANTLER (hat sich mit der Fahne zugedeckt) Kolschitzky!
KOLSCHITZKY Herr Präsident?
GRANTLER Sehn Sie was?
KOLSCHITZKY Nichts.
GRANTLER Nichts?
KOLSCHITZKY Nichts.
GRANTLER Nachts wird man von Alpträumen geplagt, kaum macht man die Augen auf, sieht man Gespenster.
KOLSCHITZKY Ich seh nichts.
GRANTLER Der Vater steht vor mir, in Wehr und Harnisch.
KOLSCHITZKY Der General?!
GRANTLER Er streckt mir eine Lanze hin. Als hätten wir nicht genug Tote am Hals.
KOLSCHITZKY Ein böser Traum war’s, mehr nicht.
GRANTLER ’S böse Erwachen folgt auf dem Fuß.
KOLSCHITZKY Sie sollten nicht an Krieg denken. Schließlich feiern wir heute den 50. Jahrestag der Völkerfreundschaft mit Island.
GRANTLER Dann schon lieber Krieg.
KOLSCHITZKY Hoch lebe Präsident Erikson!
GRANTLER Was reden Sie da? Hören Sie, Kolschitzky, man sollte die Exzellenzen, bevor man sie empfängt, rechtzeitig abfangen. Und mit ihnen auch die Reykjavíker Verträge.
KOLSCHITZKY Wie Sie meinen. Sie haben sich mit der Fahne zugedeckt? (singt, angesichts der Flagge) „Aufgestanden aus der Zukunft –„
GRANTLER „Auferstanden“ muss es heißen, Kolschitzky! ‘S geht in der Hymne nicht um Ihre Morgentoilette.
KOLSCHITZKY Seit Tagen such’ ich die Fahne.
GRANTLER Der einzige Fetzen Stoff in diesem Land, der noch was taugt. Her mit der Hose!
KOLSCHITZKY Der Flicken ist durchgescheuert. Dumme Stelle … (das Loch ist am Hintern)
GRANTLER Am Ende steht man nackt da.
KOLSCHITZKY Die Pusteln sind entzündet.
GRANTLER Lieg ich auf der rechten Seite, jucken die Pusteln, lieg ich auf der linken Seite, jucken die Pusteln nicht weniger. Liegt der Mensch aber auf dem Rücken, starrt er in die Luft und muss zwangsläufig denken. Kolschitzky! Lieber denk’ ich nicht.
KOLSCHITZKY Herr Präsident?
GRANTLER Sie haben meine Rede verschlampt.
KOLSCHITZKY Aufgeräumt hab’ ich.
GRANTLER Jetzt muss ich mir was Neues ausdenken. Davon kriegt der Mensch ein Kopfweh.
KOLSCHITZKY ’S gibt leider keine Neuigkeiten.
GRANTLER Seit Jahren nichts als Aschewolken und Rauchschwaden. Mit der Hose stimmt was nicht.
KOLSCHITZKY Niemand weiß, wo Erikson bleibt. Der isländische Botschafter hat sich angekündigt.
GRANTLER Besser, ich leg’ mich wieder hin.
KOLSCHITZKY Das Volk ist auf der Straße. Die Ersten sind im Morgengrauen gekommen.
GRANTLER Viel Lärm um nichts. Wo ist Hamlet, der Hund?
KOLSCHITZKY Verschwunden.
GRANTLER Wie klug von ihm. Die Hosennaht ist schon wieder gerissen, völlig grundlos.
KOLSCHITZKY Schon bei Ihrem Vater hab’ ich mich mit den Maßen abgeplagt.
GRANTLER Die Plagen der Endzeit.
KOLSCHITZKY Herr Präsident?
GRANTLER Zuerst sind’s Geschwüre. Schlimme Geschwüre, bei jenen, die das Zeichen des Tieres tragen. Dann wird Meerwasser zu Blut, später auch Flüsse und Quellen, bevor uns die Sonne versengt, der Euphrat austrocknet und sich das Reich des Tiers verfinstert.
KOLSCHITZKY Sie trinken zu viel.
GRANTLER So sieht Gottes Rache aus.
KOLSCHITZKY Davon versteh’ ich nichts.
GRANTLER Weil Sie ein Leben lang auf dem Boden rumkriechen und ihn nach Krümeln absuchen. ’S fehlt Ihnen der Sinn für Höheres.
KOLSCHITZKY Ich räum’ auf.
GRANTLER ’S ist Gottes Wille, Kolschitzky. Sieben Plagen sind’s, die uns in der Endzeit erwarten. Zuletzt rächt sich Gott mit einem Erdbeben. Die Erde tut sich auf und verschluckt Sie.
KOLSCHITZKY Mich, Herr Präsident?
GRANTLER Die achte Plage ist der Vater. Davon steht nichts in der Bibel. Erik-son. Sohn des Erik. Man ist ein Leben lang ein Vateranhängsel. Wie wär’s mit Musik? (summt „Ein Paradies am Meeresstrand“ aus der Operette „Die Blume von Hawaii“) (Kolschitzky ab)
1. Akt, zweite Szene
BLOMBERG-PAPPENHEIM Gibt’s was Neues von Erikson, Herr Präsident?
GRANTLER Nichts.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was denkt er sich dabei? Sie sehen schlecht aus.
GRANTLER Die Reykjavíker Verträge liegen mir auf dem Magen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir haben keine Wahl. Sie wissen, die Geschäfte laufen schlecht …
GRANTLER ’S bleibt einem nichts erspart. Zu allem Übel hat Kolschitzky die Rede verschlampt.
(Kolschitzky auf)
KOLSCHITZKY Ist’s wahr, die Erde verschluckt mich allein?
GRANTLER Sie schon wieder!? Haben Sie wenigstens Marylin mitgebracht?
KOLSCHITZKY Das steht so nicht in meinem Vertrag. (Kolschitzky ab)
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was ist los mit ihm?
GRANTLER Er sieht Gespenster. Heut’ Nacht ist mir der Vater erschienen, Blomberg.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der General? Vor dem General verbeug ich mich.
GRANTLER Wenn ich für die Rede wenigstens einen Anfang hätt’ …
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wie wär’s mit Adenauer? „Große Vergangenheit verpflichtet“. Ein schöner Satz.
GRANTLER Davon wird mir schlecht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM „Seine Pflicht erkennen und tun, das ist die Hauptsache.“ GRANTLER Von wem stammt der Unsinn?
BLOMBERG-PAPPENHEIM FRIEDRICH DER GROSSE. Vielleicht etwas von Jelzin?
GRANTLER Ein Säufer, um diese Uhrzeit?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie zerbrechen sich ganz unnötig den Kopf.
GRANTLER Von wegen! Selbst eine völlig unbedeutende Rede ist voller Fallstricke. Sag’ ich etwas, kommt es zu Missverständnissen, sag’ ich nichts, kommt es erst recht zu Missverständnissen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Na bitte, wenn’s keinen Unterschied macht ... Wo ist der Major? Sie müsste längst hier sein.
GRANTLER Wir kennen Sanders. Sie gibt keine Ruh’, bis sie was gefunden hat.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht dass sie mir ins Handwerk pfuscht! Als ich heut früh aufgewacht bin, fiel’s mir wie Schuppen von den Augen: Wir müssen die Sitzordnung ändern! Wenn wir à l’anglaise sitzen, komm ich mit dem isländischen Botschafter nicht ins Geschäft. Besser wär’ à la française. Sie hätten den Major zu Ihrer Linken, Erikson zur Rechten, mich vis-à-vis.
GRANTLER Ich mag’s nicht, wenn ich beim Essen in ein dummes Gesicht schauen muss.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir könnten Sie ans Tischende setzen.
GRANTLER Ob wir am Tischkopf oder am Tischende sitzen, wir sitzen immer mit dem Rücken zur Wand.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Dann verlängern wir die Tafel, sodass alle nebeneinandersitzen können.
GRANTLER Der Gedanke an eine lange Tafel, bei der ich mich zuerst nach links, dann nach rechts wenden muss, nur um mich im nächsten Moment wieder meinem linken Tischnachbarn zuzuwenden, lässt meinen Nacken schon jetzt steif werden. Ich werd’ mir den Hals verrenken, weil ich nach links den regenreichen Sommer beklage und nach rechts die Dürrezeit, während wir in Wahrheit einen mittelmäßigen Herbst erleben. Jetzt versteh’ ich, warum man von einem Wendehals spricht.
(Kolschitzky auf, mit einer Puppe unterm Arm, Nagellack)
GRANTLER Und was ist mit der Musik, Kolschitzky? Soll ich vielleicht selber singen?
(singt) „Ich hab ein Diwanpüppchen süß und herzig wie du. Das hat ein Seidenkleid und kleine goldene Schuh, das hat so schöne weiße Zähne und im Aug die falsche Träne und im Herzen Sägespäne, so wie du. Wenn man sie niederlegt, macht sie die Augen zu, wozu, wozu?“
BLOMBERG-PAPPENHEIM Herr Präsident, Sie sollten ans Jubiläum denken!
GRANTLER Tu’ ich, aber es fällt mir nichts Gescheites dazu ein. Marylin hingegen inspiriert mich. Was für ein trauriger Anblick. Wir müssen sie herrichten!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Heut’ Nacht ist Ihnen also der General erschienen?
KOLSCHITZKY Ein böser Traum.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich träume nie, aus Prinzip. Ein traumloser Schlaf ist gut für die Verdauung.
GRANTLER Kolschitzky glaubt, dass der Mechanismus klemmt, dabei ist nur eine Schraube locker. Hier, halten Sie –
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie haben die Stimme der Vergangenheit vernommen.
GRANTLER Stumm wie ein Fisch war der General. Er hat mir eine Lanze entgegengestreckt. Das Bein gehört hier rein, jetzt drehen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ein wahrer Held!
GRANTLER Ein Haudegen. Steroide. Anabolika.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Unerschrocken.
GRANTLER Ein gewissenloser Draufgänger. Und für Geld dazu. Sie sind nicht bei der Sache, Sie drehen das Bein in die falsche Richtung.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Zielstrebig. Voller Tatendrang war er.
GRANTLER Ehrgeizig ohne Sinn und Verstand. Wenn Sie so weitermachen, ruinieren Sie Marylin. ’S braucht Gefühl.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Denken Sie an die Schlacht bei Ennetbergen! Ein Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit.
GRANTLER Sie verausgaben sich zu früh. Wollen Sie nicht warten, bis Sie Publikum haben?
BLOMBERG-PAPPENHEIM „Ein Mann muss leben wie eine große, lodernde Flamme.“ Jelzin – vielleicht.
GRANTLER Schon wieder der Russe. Irgendwo muss noch eine Flasche sein. Jetzt die Nägel. Beginnen Sie mit dem rechten Fuß, von innen nach außen. Nehmen Sie Rosa!
(Das Telefon klingelt, Grantler nimmt ab)
GRANTLER Der Major ist nicht hier. (zu Blomberg- Pappenheim) Was haben Sie mit dem Fuß gemacht?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Mir schien er von Anfang an locker. Sie haben da ein Loch. Dumme Stelle –
GRANTLER Kolschitzky!
KOLSCHITZKY Ich hab das Loch gestopft. Zum Dank wird man vom Erdboden verschluckt.
(Kolschitzky ab)
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was für ein Lärm draußen. Wie soll man dabei vernünftig rechnen?
GRANTLER Passen Sie auf, sonst verschmiert’s!
1. Akt, dritte Szene
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major!
SANDERS (auf) Immer noch keine Spur von Erikson?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nein, nichts.
SANDERS Nichts?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nichts.
SANDERS Ich behalt’ Sie im Auge.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Warum setzen Sie sich nicht?
SANDERS Sie sitzen auf meinem Stuhl.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Tatsächlich? (bleibt sitzen)
SANDERS Schläft der Präsident?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er schläft.
SANDERS Wie kann er jetzt schlafen?
GRANTLER Sie täuschen sich: Während das Land nicht aus dem Tiefschlaf zu rütteln ist, mach ich’ seit Jahren kein Auge zu. Blomberg, wo waren wir stehen geblieben?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Im Festsaal ist alles bereit: Blumen. Schafe aus Gips. Die Büste des Generals.
GRANTLER Der General hat Ohren wie ein Schwein.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Vor dem General verbeug’ ich mich.
SANDERS Dass er sich immer aufspielen muss. Mich beeindrucken Sie damit nicht. (über Marylin) Mit ihren Augen stimmt was nicht.
GRANTLER Kolschitzky musste das rechte Auge austauschen. Nehmen Sie besser Rot, Blomberg!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major, haben Sie meinen „Stern der Völkerfreundschaft“?
SANDERS Sie haben den Orden schon wieder verlegt!? Zuletzt lag er neben Ihren Einheiten bei Aleppo.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie haben mich dort in einen Hinterhalt gelockt.
SANDERS Sie sind eben ein erbärmlicher General.
GRANTLER Reden wir nicht von Aleppo!
SANDERS Herr Präsident, verstecken Sie was vor mir?
GRANTLER Ein Loch in der Hose führt bei mir zur schlechten Laune, bei Ihnen zu einem Missverständnis. Am Schluss wird eine Kriegserklärung draus.
SANDERS Krieg? Wo? Sprechen Sie lauter!
GRANTLER Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen! ’S ist bloß eine Hypothese, ganz wie der Vater.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Heut Nacht ist ihm der General erschienen.
SANDERS Der General? Was will er hier?
GRANTLER Kolschitzky sagt, ein böser Traum. Er hat mir eine Lanze entgegengestreckt.
SANDERS Wer, Kolschitzky? Als ob er wüsste, wie man mit einer Lanze kämpft. Handeln Sie neuerdings mit Lanzen?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Radschützenpanzer, Hand- und Faustfeuerwaffen, Laserzielgeräte. Keine Lanzen. ’S ist alles korrekt abgewickelt. A propos, Major: A l’anglaise sitzt der Botschafter mit dem Rücken zur Wand. Das ist schlecht. Wir sollten à la française stuhlen. Dann sitzt er neben mir, mit Blick auf die Schlacht bei Ennetbirgen.
GRANTLER Der alte Schinken.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S ist unser bestes Stück! Die Geschütze schimmern im schönsten Abendrot.
GRANTLER Blut, Blomberg. Das verdirbt mir den Appetit.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Kolschitzky kann’s durch ein Schäferidyll austauschen.
GRANTLER Kein Schäferidyll. ’S gibt hier Schafe genug. ’S fängt schon an …
SANDERS Eine Migräne, Herr Präsident?
GRANTLER Kolschitzky hat meine Rede verschlampt. Jetzt müssen wir uns eine neue ausdenken.
(Kolschitzky auf, mit einem Tablett)
GRANTLER Kolschitzky, was wird aufgetischt?
KOLSCHITZKY Wein, Brot –
GRANTLER Das letzte Abendmahl? Gestern haben Sie von Braten gesprochen.
SANDERS Was hat er gerochen?
GRANTLER Sie sollten zum Arzt. Anderseits bringt Sie Ihr Ohrensausen der Wahrheit näher. Kolschitzky?
KOLSCHITZKY Wein, Brot, Schweinswurst.
GRANTLER Nichts Süßes, kein Obst?
KOLSCHITZKY Ananas aus Pappmaché.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Das ist kein heimisches Gewächs.
GRANTLER Die Isländer werden’s schlucken. Schon aus Gründen der Völkerfreundschaft.
KOLSCHITZKY ’S ist die Tischdekoration. Das Ehrengeleit für Erikson wartet draußen auf Anweisungen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Dresscode Frauen: Kostüm, kurzes Kleid, Hose auch zulässig; Männer: nur lang. Auch keine Schottenröcke.
SANDERS Warum Schottenröcke?
GRANTLER Trägt man da was drunter?
SANDERS Mit Schottland sind wir nicht befreundet! Sie haben da einen Staub auf der Nase.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nein? Schade. Mit Schottland könnte man ins Geschäft kommen. Und – Afrika?
SANDERS Wie können Sie das vergessen?!
GRANTLER ’S ist offenbar an der Zeit, unser Wissen zu überprüfen! Üben wir das ABC der Völkerfreundschaft. Wo ist der Geschenkkorb?
(Das Telefon klingelt)
GRANTLER Kolschitzky!
SANDERS Sie können die Schweinswurst unmöglich auf die Reykjavíker Verträge absetzen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Und schon gar nicht auf das Schlachtfeld! Neben den Stapel mit den Toten, ja, aber nicht auf das Schlachtfeld.
GRANTLER Schauen Sie ihn an …
SANDERS Ein Krüppel.
KOLSCHITZKY (am Telefon) Für den Major.
SANDERS (am Telefon, hört zu) Beobachten Sie ihn unauffällig! Codewort: Auf der richtigen Seite der Grenze schimmern die Kreuze im Licht der Abendsonne. Das ist nicht kompliziert! (legt auf) Ein Fremder, an der Grenze.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie scherzen.
SANDERS Mir ist nicht zum Scherzen zumute.
GRANTLER Der eine Fuß rot, der andre rosa. Sie haben gepfuscht, Blomberg!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major, was hat ein Fremder an unsrer Grenze zu suchen? Ich dachte, wir hätten alle ausgeschafft und seit Jahren komme keiner mehr rein.
SANDERS Wir werden’s herausfinden!
GRANTLER Was mich angeht: Ich brauch’s nicht zu wissen. Schon die Reykjavíker Verträge machen mir ’S Leben schwer.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Die Kassen sind leer. Ohne Reykjavíker Verträge keine neuen Geschäfte.
GRANTLER Nicht so laut, Blomberg. Sie wollen der Öffentlichkeit doch nicht reinen Wein einschenken?
SANDERS Der Preis ist zu hoch. Wer soll all die Fremden überwachen, die uns die Reykjavíker Verträge ins Land spülen?
GRANTLER Das Volk wird die Verträge nicht schlucken.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie werden unterschreiben müssen, Herr Präsident. Artikel 2: Neue Handelsverträge gibt’s nur, wenn wir die Grenzen öffnen. Erikson wird kein Jota nachgeben. Major, vielleicht ist’s ein Landstreicher?
SANDERS Sie halten ihn für harmlos? Im besten Fall ist’s ein Störenfried, im schlimmsten Fall ein Schädling. Ein Verräter.
GRANTLER Worauf warten Sie, Kolschitzky?
KOLSCHITZKY Der Geschenkkorb, Herr Präsident –
GRANTLER Was reden Sie daher? Niemand braucht einen Geschenkkorb.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht doch, Geschenke erhalten die Freundschaft!
GRANTLER Und was ist’s diesmal?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Erikson bekommt ein Jagdgewehr. Beste Qualität, aus heimischer Produktion. Und ein signiertes Porträt von Ihnen.
GRANTLER Da lob’ ich mir die guten alten Zeiten. Das waren noch Staatsgeschenke! Bären aus Gold und Bären aus Sibirien.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir handeln nicht mit Bären. Wie lange wollen Sie das Ehrengeleit noch warten lassen, Kolschitzky!?
SANDERS Rollen Sie den roten Teppich aus! Dem Krüppel fehlt die Disziplin.
(Kolschitzky ab)
1. Akt, vierte Szene
GRANTLER Der rote Teppich stinkt zum Himmel. Ein Mensch mit Verstand braucht eine Nasenklemme, wenn er seinen Fuß drauf setzt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Weil der Teppich jahrelang zusammengerollt im Keller liegt.
GRANTLER Sie irren sich. Er stinkt, weil der Mensch drüber geht. Aber die Leute hinter der Absperrung atmen den Gestank ein, als wär’s frische Bergluft.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich hätte zuerst den Litani überqueren sollen …
GRANTLER Das ist nicht neu. Warum nehmen Sie sich nicht mal eine andre Schlacht vor? Die Landung in der Normandie zum Beispiel.
SANDERS Solang es uns Spaß macht.
GRANTLER Wir alle wollen uns amüsieren.
SANDERS Der Minister wird die Schlacht einmal mehr verlieren.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie bluffen. Der General hätt’ auf dem roten Teppich eine gute Figur abgegeben.
GRANTLER In Wehr und Harnisch?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Hat nicht schon Klytaimnestra dem siegreichen Agamemnon bei der Rückkehr den roten Teppich ausgerollt? Eine Römerin.
GRANTLER Und ihm, kaum war er vom Teppich runter, mit der Axt den Garaus gemacht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S war nicht recht. Schließlich war’s ein fairer Handel zwischen Agamemnon und der Göttin der Jagd.
SANDERS Was wissen Sie über diese Klytaimnestra, Herr Minister? Haben Sie Verbindungen zu ihr?
(Das Telefon klingelt)
GRANTLER Bitte, Major!
SANDERS Codewort? (Sie hört zu) Die Anweisungen sind klar. Achten Sie auf Mundwinkel und Ohren. Sie verraten alles. Ein spitzes Ohr bedeutet, dass Sie einen machthungrigen und durchtriebenen Menschen vor sich haben. Oberer Ohrrand stark abgeflacht: Neigung zur Depression.
(sie legt auf)
BLOMBERG-PAPPENHEIM Gibt’s Probleme, Major?
SANDERS Auf den Grenzschutz ist Verlass.
GRANTLER Wo waren wir stehengeblieben?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wenn ich neben dem isländischen Botschafter sitzen soll, müssen wir umstuhlen.
SANDERS Bitte, Herr Minister, wir waren beim roten Teppich! Sie haben ein Loch in der Hose … dumme Stelle.
GRANTLER Kolschitzky sagt, er habe es geflickt. ’S muss lange her sein. Jetzt: In der Hauptsache Loch, drumherum ein wenig Stoff als Dekor.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie werden die Visitenkarte verlieren.
SANDERS ’S gehört sich nicht, die Visitenkarte in der Gesäßtasche zu tragen. Immerhin sind Sie das oberste Staatsorgan.
GRANTLER Als Staatsorgan bin ich Organverwalter des staatlichen Organismus. Das schlägt selbst einem gesunden Menschen auf den Magen. Haben Sie gehört, Kolschitzky?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der Major hat ihn weggeschickt.
GRANTLER Er verpasst seine Lektion, dabei bin ich noch nicht am Ende: Als Staatsorgane hängen wir schon lange am Tropf der Illusion und verrichten unsre Geschäfte notdürftig. Nur unsre Notdurft verrichten wir verlässlich. Schreiben Sie das für Kolschitzky auf, Blomberg!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wollen Sie wirklich mit dieser löchrigen Hose unsre Gäste empfangen?
SANDERS Man sieht Ihren – Hintern …
GRANTLER Worüber regen Sie sich auf? Die Leute gehen über den roten Teppich und lassen dabei die Hosen runter. Sie sagen Dinge, an denen Sie sich am Morgen noch verschluckt hätten.
BLOMBERG-PAPPENHEIM „Wir müssen die Kraft haben, Afrika sich selbst zu überlassen.“ Ist das Adenauer?
GRANTLER Adenauer oder nicht – als Begrüßung eignet es sich nicht. Erikson reist schließlich nicht aus Afrika an.
SANDERS Lieber tot als rot?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Im Namen Gottes, des Allmächtigen.
GRANTLER Das wirft zu viele Fragen auf. Wollen Sie, dass Erikson schon auf dem roten Teppich ins Grübeln gerät? Was wissen wir über Island?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ein friedliches Land.
SANDERS So scheint es Ihnen, Herr Minister. Sie sind zu gutgläubig. Aber wenn man das Gute retten will, muss man vom Schlimmsten ausgehen.
GRANTLER Wenn Kolschitzky nur endlich die Musik bringen würd’. Noch was, Blomberg?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ewiges Eis und rauchende Vulkane, umspült von den Wellen des Ozeans. Fischer, die ihre Netze auswerfen, Hirten, die die Schafe eintreiben …
GRANTLER Stumpfe Wiederholung, nichts als Natur.
SANDERS Was soll ich damit anfangen?
GRANTLER Besser, wir lassen Island außen vor.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wie wär’s mit einer Prise Geschichte?
SANDERS Ich schlage vor: eine Schlacht. Schlachten eignen sich immer.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich dachte eher an Jelzin.
SANDERS ’S muss einen Grund haben, dass dem Präsidenten ausgerechnet heute der General erschienen ist.
GRANTLER Ich war drauf und dran, es zu vergessen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wenn’s eine schöne Moral gibt, wenn uns die Schlacht erhöht – von mir aus.
SANDERS Schauen wir zurück. „Ein Gemetzel“ –
GRANTLER Zurückschauen!? Sollen wir wie Lots Frau zur Salzsäure erstarren?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Selber schuld. Als sie sich nach Sodom umgedreht hat, hat sie sich dem Engel widersetzt. Das hätte sie nicht tun sollen.
SANDERS Die Frau wurde bestraft? Recht so. Wer das Gute verrät, ist ein Schuft.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Lot hingegen war klug. Und gerecht.
GRANTLER Er hat seine Töchter geschwängert.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht doch.
SANDERS Hat er das? So ein Schwein.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wer gerecht sein will, muss vorwärtsschauen. Der Blick zurück aufs Grauen lähmt uns. Das können wir uns volkswirtschaftlich betrachtet nicht leisten.
GRANTLER Na bitte.
SANDERS Wer spricht denn von Grauen? (erinnert sich, zitiert einen Quellentext) Ein Gemetzel … mit Hellebarden abgeschlachtet … – wenn ich mich nur erinnern könnt.
GRANTLER Der Mensch ist ein Vieh.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Das ist politisch nicht korrekt.
GRANTLER Das Vieh ist ein Mensch?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Herr Präsident, das ergibt keinen Sinn. Wie soll uns das Vieh erhöhen?
SANDERS Wer erhört uns?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Gott erhört uns, das Vieh nicht.
SANDERS Dass Sie immer mit Adenauer kommen müssen.
GRANTLER Man ist ein Leben lang von Verrückten umgeben.
(Das Telefon klingelt)
GRANTLER (nimmt ab) Blomberg!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Für mich?
GRANTLER Sie scherzen. Für Sie, Major.
SANDERS (am Telefon) Er ist entwischt? Finden Sie ihn!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich hasse Überraschungen, Major.
SANDERS Von einem, der an der Grenze steht, ist nichts Guts zu erwarten. ’S ist ein Halunke, ein Schuft. Das haben Sie in Ihrem Protokoll nicht geregelt.
1. Akt, fünfte Szene
(Kolschitzky auf)
GRANTLER Hab ich Sie gerufen, Kolschitzky?
KOLSCHITZKY Der isländische Botschafter ist unterwegs.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Das trifft sich gut. Unter vier Augen lässt sich besser verhandeln. Geben Sie uns Bescheid, wenn er hier ist.
SANDERS Was ist das für ein Lärm, Kolschitzky? Der Lärm ist schlecht für mein Ohrensausen.
KOLSCHITZKY Man demonstriert. Sie haben Transparente.
SANDERS Das geht seit Wochen so. Nestbeschmutzer! Konnten Sie das nicht verhindern, Herr Minister?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was steht auf den Transparenten?
KOLSCHITZKY „Der Präsident ist ein Schwein.“
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S fehlt Ihnen jegliches Taktgefühl, Kolschitzky!
KOLSCHITZKY Sie sind auch ein Schwein. „Weg mit Blomberg-Pappenheim, dem Schwein!“
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wenn ich ein Schwein bin, entscheidet der Präsident darüber.
GRANTLER Wussten Sie, Kolschitzky, dass es in Frankreich verboten ist, sein Schwein Napoléon zu nennen? Nein? Man nimmt offenbar an, dass die Leute Napoléon für ein Schwein halten.
KOLSCHITZKY Sicher, Herr Präsident. Ich wollte –
GRANTLER Hören Sie zu, wenn man Ihnen was beibringt! Noch was, Kolschitzky?
KOLSCHITZKY „Stopp den Reykjavíker Verträgen! Stopp Erikson! Keine neuen Kontingente! Für Freiheit und Unabhängigkeit!“
SANDERS (über Kolschitzky) Seine Haltung ist unter aller Sau.
GRANTLER Was erwarten Sie?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Gibt’s was Neues von Erikson?
KOLSCHITZKY Nichts. Aber die Musiker sind da.
GRANTLER Warum „aber“, Kolschitzky?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wollen Sie mit uns diskutieren?
SANDERS Wir diskutieren nicht. ’S ist ein Krüppel und ein Idiot dazu.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Im Streichquartett spielt neu ein Hornist mit.
GRANTLER Was macht ein Hornist im Streichquartett?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der Cellist hat sich erhängt.
SANDERS Wie ärgerlich, so kurz vor dem Jubiläum. Hätte man das nicht voraussehen können?
GRANTLER Nichts einfacher als das. Seit fünfzig Jahren importieren wir aus Island ausschließlich Lammfleisch. Ist keine Schafsseuche in Sicht, wird sich an diesem trostlosen Zustand nichts ändern.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wenn sich der Cellist an die Noten gehalten hätt’, hätt er keinen Grund gehabt, sich zu erhängen. So aber … jetzt hat der Hornist seinen Part übernommen.
GRANTLER Muss ich mir das anhören?
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S ist nur eine Kostprobe. Damit wir wissen, womit wir zu rechnen haben. Ich bin fürs Ökonomische, aus Prinzip. Sie spielen Mozart.
GRANTLER Als ob das ein Trost wäre. Seit Jahrzehnten spielt man Mozart.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ein Russe? Nein.
GRANTLER Ein Österreicher.
SANDERS Ein Bläser …
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der Österreicher?
SANDERS Wenn schon ein Bläser dabei ist, sollten sie Marschmusik spielen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Beim Empfang?
KOLSCHITZKY Verstehe: Marschmusik zur Suppe.
GRANTLER Die Suppe haben Sie vorhin unter den Tisch gekehrt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Den Marsch spielen sie bei Eriksons Ankunft.
GRANTLER Doch nicht das Streicherensemble?
SANDERS Hauptsache, aus der Unterhaltungsmusik wird im richtigen Moment ein Marsch. Am besten wär’ ein Sturmmarsch.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Hoffen wir, dass sie nicht wieder zu hitzig spielen. Ein gesunder Mensch will nicht ins Schwitzen geraten, nur weil er Musik hört. (am Spieltisch) Warum sind meine Bomber noch nicht aktiviert?
SANDERS Sie sind blank, General Wilson. Sie wollten die Rechnung mit dem „Stern der Völkerfreundschaft“ begleichen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Und wo ist der Orden jetzt?
GRANTLER Ersparen Sie mir Aleppo. Was gibt’s denn noch, Kolschitzky?
KOLSCHITZKY Der General stinkt.
GRANTLER Das ist nicht neu. Wir mästen den Leichnam seit Jahrzehnten mit Karbol. Davon profitieren allein die Würmer und die Maden, die sich längst an den neuen Speiseplan gewöhnt haben. Was geht mich das an?
SANDERS Der General gehört zum Protokoll: Militärische Ehren, Roter Teppich, Nationalhymne, Empfang, Gang zum Mausoleum.
KOLSCHITZKY Die Wissenschaftler haben versucht, wenigstens die Wangen wiederherzustellen. Aber ’S nützt nichts; der General verfault.
GRANTLER Was sagen Sie dazu, Blomberg?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der General? Treu ergeben bin ich.
SANDERS Sie wollen sich schon ergeben? Die Schlacht ist noch nicht verloren.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wie kommen Sie darauf? Ich ergebe mich nicht!
SANDERS Er übergibt sich? Ekelhaft.
GRANTLER Der General gehört endlich beerdigt. Ein Grabhügel ist ein sicherer Wert. Ich kann’s nicht haben, wenn sich an meinem Schreibtisch ein Gespenst zu schaffen macht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Davon rate ich ab. Das Mauseoleum ist nicht nur ein fester Bestandteil des Protokolls, sondern auch ein Pilgerort für das Volk. Wir brauchen schließlich Visionen.
GRANTLER Dazu braucht’s kein Mausoleum. Als wären wir nicht ständig von Toten umgeben.
SANDERS Jetzt fällt’s mir wieder ein – ’S ist die Mutter aller Schlachten! „Sie stürzten mutig und beherzt, in ihren Händen Mordinstrumente, Hellebarden genannt“ – ’S gefällt mir nicht, wie mich die Dame anschaut.
GRANTLER ’S fehlt Ihnen der Blick fürs Wesentliche, Sanders. (singt) „Vor meinem Haus am Silbersee, da blüt ein Mangobaum, in meinem Haus am Silbersee, träum ich den Tangotraum. Ein Paradies am Meeresstrand, das ist mein Heimatland. Es duftet süß ein buntes Meer von Blüten ringsumher. Dort wo die schlanke Palme rauscht, mein Herz dem Banjo lauscht – „
SANDERS Ich seh nichts. „Sie stürzten mutig und beherzt …“
KOLSCHITZKY Sein Herz schlägt allein für Marylin.
GRANTLER Wollen Sie hier Wurzeln schlagen?
KOLSCHITZKY Der General –
GRANTLER Ananas aus Pappmaché, ein modernder General – was wollen Sie!? Als Freunde sind wir erbarmungslos.
(Kolschitzy ab, das Telefon klingelt)
GRANTLER Sanders!
SANDERS (am Telefon) Major Sanders! Wie, auf der nichtigen Seite der Grenze? Ich versteh Sie schlecht. Das macht sehr wohl einen Unterschied! Auf der richtigen Seite der Grenze – richtig, nicht nichtig. Nichtig ist nicht richtig. Überhaupt, was soll das sein: die nichtige Seite der Grenze? (zu Grantler, Blomberg-Pappenheim) Jetzt stottert der Kerl auch noch … (hört zu) Schaffen Sie ihn beiseite! (legt auf) Sie haben ihn. Leider haben sie ihn nicht lebend erwischt. Er ist tot.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Gut, jetzt können wir uns aufs Protokoll konzentrieren.
SANDERS Es ist Erikson.
2. Akt, erste Szene
BLOMBERG-PAPPENHEIM Eine peinliche Geschichte.
GRANTLER Dass der Mensch so rücksichtlos sein kann!
SANDERS Herr Präsident?
GRANTLER Nur jemand ohne das geringste Feingefühl wagt es, eine so niederschmetternde Nachricht zu überbringen, und dazu noch auf nüchternem Magen. Wie schön wär’s jetzt, mit Marylin plaudern.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Marylin spricht?
GRANTLER „Ach, ach.“
BLOMBERG-PAPPENHEIM Mehr nicht?
GRANTLER Mehr braucht’s nicht und mehr erträgt man nicht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Für eine Konversation, die sich bezahlt macht, langt’s nicht. Für die Verhandlungen mit dem Botschafter muss ich mir mehr einfallen lassen.
SANDERS Schwätzer.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir müssen von vorn anfangen. Hauptsache, ich sitz’ neben dem Botschafter.
GRANTLER Das dürfte nicht schwer sein, jetzt, wo der Ehrengast fehlt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major, gab’s Anweisungen, eine Order?
SANDERS Der Grenzschutz tut nur seine Pflicht. Er ist darin geübt, in fremden Gesichtern zu lesen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich lass’ mir von Ihnen nicht ’s Geschäft versauen. Diesmal hat er den Falschen erwischt.
SANDERS Auch der Falsche ist potentiell der Richtige. Wer weiß, was einer ausbrütet? Wenn nicht im Innern, dann draußen. Irgendwo verbirgt sich immer ein Schuft. Zudem, Herr Minister, noch wissen wir nicht, was passiert ist. Oder täusche ich mich? Hier zieht’s …
GRANTLER Vielleicht hat sich Erikson ein Späßchen erlaubt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Herr Präsident?
GRANTLER Aber wenn ich dran denk, was mich beim Empfang erwartet, hätt’ sich Erikson das Späßchen für später aufheben sollen. Noch ehe ich gefrühstückt habe, ist sowohl die Laune wie auch der Appetit verdorben.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir sollten eine Kommission bilden, um den Vorfall an der Grenze zu klären.
GRANTLER Ich hab’ mich von der letzten Kommission noch nicht erholt.
SANDERS Als ob das Volk einen Sinn dafür hätte, was notwendig ist.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wollen Sie uns nicht aufklären, Major?
SANDERS Ich weiß nicht mehr als Sie.
GRANTLER Das reicht mir vollkommen. Gibt’s noch Fragen? Wenn nicht, sollten wir an der Rede weiterfeilen. Wo waren wir stehengeblieben?
(Auftritt Kolschitzky)
GRANTLER Sie schon wieder! Vom ewigen Auf und Ab wird’s einem schwindlig.
KOLSCHITZKY Das Ehrengeleit wartet. Die Leute frieren.
GRANTLER Weil ihnen der Wind unter die Schottenröcke fährt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Keine Schottenröcke, hatten wir gesagt.
SANDERS Keine Schottenröcke!
KOLSCHITZKY Sie tragen keine Schottenröcke.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Haben Sie den roten Teppich aus dem Keller geholt?
KOLSCHITZKY Im Keller stinkt’s.
GRANTLER Haben Sie einen Bückling gemacht, als Sie in den Keller gegangen sind? Die Deckenhöhe ist so gering, dass sich selbst ein Krüppel noch bücken muss. Wir haben die Decke bewusst tiefer gehängt, denn nur Sie sollen die Kellertreppe heruntergehen.
SANDERS Es ist human, wenn wir einen Krüppel einen Bückling machen lassen. Schließlich kann er sich nicht recken. Sehen Sie das nicht auch so, Kolschitzky?
KOLSCHITZKY Im Keller stinkt’s, als läg’ da einer tot.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major, wissen Sie etwas?
SANDERS Ich erinnre mich nicht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der Major hat ein gutes Gedächtnis, was die Toten angeht, Kolschitzky.
SANDERS Der Krüppel gräbt und denkt, er findet was. Wer soll da unten liegen, Kolschitzky?
GRANTLER Brauchen Sie Ihren Verstand! Ist der Keller etwa das Paradies?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Haben Sie Beweise, archäologische Gewissheit? Sie haben eine zwanghafte Phantasie.
GRANTLER ’S muss am Buckel liegen, der ja schon die Organe in eine ungesunde Stellung zwingt.
KOLSCHITZKY Es stinkt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er ist stur. Das bringt nichts ein. Biegsam müssen Sie sein!
GRANTLER Halten Sie sich die Nase zu.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie selbst sind’s, der stinkt.
SANDERS Disziplin und eine kalte Dusche, das ist alles, was Sie brauchen.
GRANTLER Was stehn Sie noch rum, Kolschitzky?!
KOLSCHITZKY Der isländische Botschafter steht im Vorzimmer. ’S ist ein Bär von einem Menschen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Im Vorzimmer? Das steht so nicht im Protokoll, obwohl das Protokoll alles regelt. Die Regeln verhindern, dass es zu einem diplomatischen Eklat kommt. ’S hat was mit dem Weltfrieden zu tun, verstehn Sie das? Selbst Ihre Aufgaben sind darin festgelegt. Oder auch – nur als lehrreiches Beispiel, Kolschitzky – wer Zutritt zur Schlafkammer von Louis XIV hat.
KOLSCHITZKY Ich kenn’ ihn nicht, diesen Louis XIV.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wär’ ja noch besser! Ein Krüppel, der am Hof verkehrt.
GRANTLER Schon wieder wissen Sie nichts!
Merken Sie sich: Nur Auserlesene wurden zum Lever von Louis XIV empfangen! Heutzutage blättert die halbe Welt im Schlafzimmer der gekrönten Häupter.
SANDERS Wer ist gehörnt?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Louis XIV.
SANDERS Ein Zivilist. Das ist unappetitlich.
GRANTLER Louis XIV? Denken Sie an Marie Jeanne, Diane Francoise, Louise de La Vallière … allerdings, im Vergleich zu Marylin – Leider wackelt seit neustem der Kopf.
BLOMBERG-PAPPENHEIM „Ein Mann muss leben wie eine große, lodernde Flamme.“ Jelzin. Oder der Russe. Ich kümmre mich um Marylin …
GRANTLER Sie haben heut’ schon genug gepfuscht.
KOLSCHITZKY Der isländische Botschafter möcht’ mit Erikson sprechen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie stören! Sehen Sie nicht, dass wir beschäftigt sind?
(Kolschitzky ab)
2. Akt, zweite Szene
GRANTLER Das Kopfweh ist da, aber von einer brauchbaren Rede sind wir weit entfernt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Gibt’s hier eine undichte Stelle, ein Loch?
GRANTLER Reden wir nicht schon wieder von meiner Hose. Sieht man was?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nichts. Major!?
SANDERS Keine undichten Stellen! Was schauen Sie mich an?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir sind hier unter uns.
SANDERS Ihre Machenschaften sind uns bekannt, Herr Minister.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Die Lage ist ernst!
GRANTLER Leider. Keiner beherrscht mehr die Kunst der leichten Unterhaltung. Heutzutage ist ein Begräbnis eine weitaus geselligere Angelegenheit als ein Fest.
SANDERS Herr Präsident, wollten wir nicht mit dem Gemetzel beginnen?
GRANTLER Mit dem Gemetzel runden wir das Ganze ab, Sanders, als Einstieg eignen sich Schlachtengräuel nicht. Ich weiss, dass es irgendwo einen Ersatzkopf gibt … Irgendwelche Ideen?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Eine Rede aus dem Nichts heraus, Herr Präsident? Beginnen wir mit dem Anfang.
SANDERS Mit dem Ende kann man schlecht beginnen!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Weil’s dann nichts mehr zu sagen gibt.
SANDERS Vor allem, Herr Minister, bleibt am Ende nichts mehr übrig! Wenn alles läuft wie geplant, ist der Feind am Ende erledigt und das Terrain geklärt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Am Ende ist alles abgewickelt, auch der Anfang. Also fangen wir am besten mit dem Anfang an.
SANDERS Vom Anfang hängt alles ab, Herr Präsident. Wenn man den richtigen Moment verpasst, ist die ganze Operation für die Katz’.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Vor allem ist’s Geld futsch. Warum beginnen wir nicht mit dem General? Er inspiriert die Menschen …
GRANTLER Der General stinkt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Vor dem General verbeug ich mich. Ein Hauch von rosarotem Schimmel liegt auf seinen Wangen.
GRANTLER Sie meinen den Schimmel.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Die Menschen stehen Schlange, um ihn zu sehen.
GRANTLER Sie stehen in der Schlange, weil die andern auch in der Schlange stehn. Beim General nicht anders als beim Metzger. Würde man die Schweinswurst einbalsamieren und den Menschen sagen, dass die Schweinswurst die Botschaft verkörpere, sie würden zur Schweinswurst pilgern wie andre nach Mekka oder Santiago de Compostela. Und die Schweinswurst andächtig kauen, weil sie denken, dass darin die Offenbarung verwurstet ist. In Wahrheit macht’s keinen Unterschied, ob sie an den General glauben oder an die Schweinswurst.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie sollten wieder mal ins Mausoleum, Herr Präsident! ’S gibt keinen bessren Ort, um dem Lärm der Welt zu entfliehen und sich zu besinnen.
GRANTLER Als ich das letzte Mal im Andachtsraum war und mich sammeln wollt’, erschien mir Marylin, ohne Unterleib, und statt der Andacht kam die Ohnmacht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Mit dem Unterleib hab’ ich nichts zu schaffen, ich hab’ bloß die Nägel lackiert. An manchen Tagen spricht der General zu mir.
GRANTLER Sie ziehen ihm die Würmer aus der Nase, Blomberg.
KOLSCHITZKY (auf) ’S gibt ein Gerücht. Es heißt, Erikson sei tot! Man habe ihn noch an der Grenze um die Ecke gebracht.
GRANTLER Und damit behelligen Sie uns? Die Leute reden, Kolschitzky. Sie reden, weil ihnen langweilig ist.
SANDERS Sie verstehen nicht, dass es besser wär’, zu schweigen.
KOLSCHITZKY Ist es wahr? Ist Erikson tot?
SANDERS Sie wissen es nicht? Ihnen ist nicht zu helfen. Wissen ist Macht, aber bringen Sie das mal einem Krüppel bei.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Einem Idioten dazu. Wo lebt er, auf dem Mond? Er hat den Anschluss verpasst. Heute wissen alle irgendetwas, von irgendjemand, von irgendwoher.
GRANTLER Offenbar versteht er uns nicht – was uns nicht wundert. Nehmen wir also an, Erikson sei tot. Was wär’ damit gewonnen, Kolschitzky?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Könnte man das nicht auch anders sehen? ’S ist alles eine Frage der Interpretation. Für die einen ist’s der Ruin, was unterm Strich rauskommt, für die andern der Hauptgewinn. Wir sind längst über Richtig und Falsch hinweggekommen. Die Wahrheit ist bunt.
GRANTLER Das gehört zum Spiel.
SANDERS Sie müssen die Informationen richtig handeln und entscheiden, ob sie Ihnen nützlich sind oder nicht. Alles löst sich auf, wenn man es nur lang genug unter die Lupe nimmt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Brauchen Sie noch mehr Fakten zum Verbleib unseres Völkerfreunds? Suchen Sie sich was aus, was Ihnen gefällt. Ist er vielleicht über den Grenzzaun gestolpert und unglücklich gefallen? Hat ihn der Schlag getroffen?
SANDERS Herr Minister, vollkommen unerwartet?
GRANTLER Angesichts des Jubiläums war gerade das zu erwarten. Irgendwelche Alternativen?
SANDERS Er hat sich an einer Fischgräte verschluckt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Warum isst er Fisch?
GRANTLER Isländer essen nun mal Fisch.
KOLSCHITZKY Herr Präsident!? Draußen steht der Botschafter …
GRANTLER Was wollen Sie!? Wir erfinden uns unsre Wirklichkeit. Die Welt, nach der Sie fragen, gibt’s tatsächlich gar nicht. Sie bilden Sie sich nur ein. Sie denken sich, dass Sie Kolschitzky, der Krüppel, sind, aber sind Sie’s wirklich? Selbst wenn wir sagen, Sie sind Kolschitzky, der Krüppel, ist das gleichzeitig wahr und falsch, weil es ja nichts Wahres gibt. Es ist sinnlos, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden, zu glauben, es gäbe einen Unterschied zwischen Realität und Einbildung. Wir sind dank unsrer Einbildungskraft. Ist Erikson tot, ist er nicht tot? Ich bitte Sie, Kolschitzky, wo ist der Unterschied?
(Eine Scheibe klirrt)
SANDERS Was war das?
KOLSCHITZKY Eine Fensterscheibe. Sie haben sich mit Steinen bewaffnet.
SANDERS Und warum stopfen Sie das Loch nicht? Der Zug ist schlecht für mein Ohrensausen, das wissen Sie. Sie arbeiten so schlampig, dass man es als Böswilligkeit auffassen könnte.
KOLSCHITZKY Das alles ist ungerecht, auch wenn es Gottes Wille ist.
SANDERS Von Gott steht nichts im Protokoll. Militärische Ehren, Roter Teppich, Nationalhymne, Empfang, Gang zum Mausoleum.
(Kolschitzy ab)
2. Akt, dritte Szene
SANDERS Herr Minister –
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major?
SANDERS Falls sich herausstellt, dass Sie Ihre schmutzigen Finger im Spiel haben, sind Ihre Tage gezählt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wie schade, dass sich Ihre wilde Phantasie nicht zu barer Münze machen lässt. Unsre Kassen wären voll.
GRANTLER Kommen Sie endlich auf den Boden der Tatsachen zurück!
SANDERS Wollen Sie nicht wissen, was an der Grenze passiert ist?
GRANTLER Wozu? Ich hab’ schon jetzt eine ausgewachsene Migräne. Wo sind wir stehengeblieben?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wollten wir nicht mit dem Ende beginnen?
SANDERS Die Schlacht von Ennetbergen – die Mutter aller Schlachten –
GRANTLER Die Mutter erscheint mir nie. Hatten wir nicht gesagt: keine Schlacht?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ist’s nicht zumindest ein Versuch wert? Die Mutter aller Schlachten – schön. Und was ist ihr Erbe?
SANDERS Dukatenscheißer. (versucht, sich an einen Quellentext zu erinnern, zitiert) Sie stürzten mutig und beherzt … in ihren Händen … sehr schreckliche Instrumente, mit welchen sie auch die bestbewehrten Gegner wie mit einem Schermesser spalteten und in Stücke hieben …
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S FEHLT NOCH DER GROSSE Zusammenhang, die Moral von der Geschicht’.
SANDERS (zitiert) In Stücke hieben …
GRANTLER Von der Wiederholung werd’ ich müd.
SANDERS (zitiert) Ein Abschlachten des Volkes durch jene Bergbewohner… gleich einer zur Schlachtbank geführten Herde … War da was?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich seh nichts.
GRANTLER Sie sehen Gespenster.
SANDERS (zitiert) Sie zogen den Getöteten die Waffen aus, plünderten auch ihre übrige Habe und bereicherten sich sehr an Waffen und Geld.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S war sicher korrekt abgewickelt.
SANDERS (zitiert) Und sie beschlossen …?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie beschlossen ohne Zweifel, dem lieben Gott zu danken.
SANDERS Das ist unnötig.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Eine schöne Geschichte, ihr wollen wir glauben.
GRANTLER Nur dass die Völkerfreundschaft nicht ins rechte Licht gerückt wird. Denken Sie an den isländischen Botschafter.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Der Esel spielt sich unnötig auf.
GRANTLER So kommen wir nicht weiter. Wir brauchen eine Metapher, an der wir alles aufhängen können. Wir hängen die Völkerfreundschaft auf wie der Metzger das geschlachtete Schwein.
SANDERS Helfen Sie mir, Herr Präsident.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ein Sinnbild, Major. Wir suchen etwas, das einen Sinn ergibt.
GRANTLER Im Nebel herumstochern. Im Trüben fischen.
SANDERS Kanonenfutter?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Das Blaue vom Himmel herunter lügen.
SANDERS Jemandem auf die Schliche kommen. In die Mangel nehmen. Einen Kopf kürzer machen.
GRANTLER Schön und gut, aber die Metaphern sind nicht zweckmäßig.
SANDERS Nein?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Kein Grund, verschnupft zu sein, Major.
GRANTLER Am besten eignen sich Metaphern aus der Tierwelt. Von Tieren lässt man sich rühren, während einen die Artgenossen bis zuletzt abstoßen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Auf den Hund gekommen?
SANDERS Eine Hundsverlochete.
GRANTLER Wir brauchen mehr Pathos.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Draußen ist Hamlet. Er sieht aus, als hätt’ er was ausgefressen.
GRANTLER Lassen wir das mit den Tieren. Was sehen Sie noch, Blomberg?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Blomberg-Pappenheim, bitte, Herr Präsident! Der Kosmos schaut aus wie immer.
GRANTLER Endlich eine brauchbare Idee! Was sehen wir, wenn wir aus dem Fenster schauen? Den Kosmos. Den Kosmos als Sinnbild der Existenz schlechthin. Und insbesondere der staatlichen Existenz.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie haben die Anrede vergessen.
GRANTLER Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste, liebe Mitbürger –
SANDERS Wer jetzt auf der Straße steht und lärmt, gehört nicht dazu.
GRANTLER Sanders! Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste, liebe Mitbürger. Was sehen wir, wenn wir aus dem Fenster schauen? Den Kosmos. Den Kosmos als Sinnbild der Existenz schlechthin. Und insbesondere der staatlichen Existenz. Sind denn nicht die Staaten allesamt Planeten, von denen sich die meisten mit bloßem Auge gar nicht erkennen lassen?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wie wär’s mit Adenauer?
GRANTLER Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste, liebe Mitbürger. Was sehen wir, wenn wir aus dem Fenster schauen? Den Kosmos. Den Kosmos als Sinnbild der Existenz schlechthin. Und insbesondere der staatlichen Existenz. Freilich gleicht kein Stern dem andern! Unterscheiden wir doch zwischen Wandelsternen und Fixsternen, zwischen Riesen und Überriesen, zwischen Zwergen und Unterzwergen …
BLOMBERG-PAPPENHEIM Die Metapher führt über kurz oder lang in die Katstrophe.
GRANTLER Ich hab’s ja gesagt: lauter Fallstricke.
SANDERS Was sagt er?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nichts von Bedeutung.
SANDERS Seit wann entscheiden Sie das, Herr Minister?
GRANTLER Ruhe! Was sehen wir, wenn wir aus dem Fenster schauen? Immer wieder den Kosmos. Den Kosmos als höchst zweifelhaftes Sinnbild der Existenz schlechthin. Und insbesondere der ebenso zweifelhaften staatlichen Existenz. Wie der Planet aber nicht aus sich selbst heraus leuchtet, so leuchtet auch der einzelne Staat nur durch die Solidarität der Völkerfreundschaft. (freut sich) Und so leuchten – meine Damen und Herren – unsere Staaten am Himmelszelt der Nationen, gleich Kometen, die in die Erdatmosphäre eintreten.
(Ende der Freude) – Der Kosmos ist ein einziges Desaster.
2. Akt, vierte Szene
KOLSCHITZKY (auf) Die Leute sind außer sich; man will Erikson sehen. Sie wollen einen Beweis.
SANDERS Wie Sie aussehen … Ist das hier die Bourbaki-Armee?
KOLSCHITZKY Der Botschafter hat mich am Kragen gepackt.
GRANTLER Warum gehen Sie ihm nicht aus dem Weg? Er soll sich seine Zeit mit einem Spiel vertreiben. Als Botschafter hat er Phantasie genug.
(Kolschitzky ab)
GRANTLER Major, Herr Minister, bis hierher und nicht weiter! Die Völkerfreundschaft kostet uns Kopf und Kragen. Ich hätt’s wissen müssen, schon heut Nacht, als mir der Vater die Lanze entgegengestreckt hat. Die Müh’, dem Kosmos einen Sinn abzugewinnen, hätt’ ich mir sparen können. Wie wir’s auch drehen und wenden: Wir kommen über ’s Gemetzel nicht hinaus. Es ist offenbar leichter, eine Begräbnisrede zu halten als eine Rede zur Völkerfreundschaft. Nüchtern betrachtet können wir uns weder die Völkerfreundschaft noch eine Rede leisten. Erikson ist tot, das Volk lärmt. Was helfen da Worte? Weitere Worte sind nicht notwendig, geschweige denn nützlich. Drum: Genug der Worte! Halten wir uns lieber an Marylin. Irgendwo muss der Ersatzkopf sein … Was die Staatsräson uns jetzt gebietet, sind Taten. Sonst müssen Sie am Ende die Hosen runterlassen. Das Volk will Erikson sehen? Dann soll es ihn zu sehen bekommen! Brot und Spiele, darum geht’s. Werfen wir dem Volk Erikson zum Fraß vor.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wollen Sie dem Volk eine Leiche präsentieren?
GRANTLER Wir feiern in effigie. ‘S hat Tradition. Wenn der Verbrecher auf der Flucht ist, wird sein Bild verurteilt und dann verbrannt … oder geköpft? Oder wie beim toten Kaiser: Man bildet ihn als Wachspuppe nach und beerdigt ihn zwei Mal: zuerst den Kaiser, später die Puppe.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie wollen Erikson wirklich zum Schein auftreten lassen?! SANDERS Die Tarnung hat sich als Methode des Widerstands bestens bewährt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Aber wer soll Erikson spielen?
SANDERS Ich werd’ als Major gebraucht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Da wir à la française stuhlen, sitze ich dem Präsidenten gegenüber. Soll der Platz leer bleiben? Zudem muss ich mit dem Botschafter verhandeln.
GRANTLER Dann Kolschitzky.
SANDERS Der Idiot.
BLOMBERG-PAPPENHEIM „Ein Mann muss leben wie eine große, lodernde Flamme.“ Adenauer! Er ist ein Krüppel.
SANDERS Wer?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Oder doch Friedrich II.?
GRANTLER Jelzin, ein Russe, Blomberg! Kolschitzky ist die einzige vernünftige Lösung.
BLOMBERG-PAPPENHEIM DRAUSSEN WIRFT MAN mit Steinen. Die Steine werden ihm um die Ohren fliegen und ihn vielleicht sogar treffen.
GRANTLER Ihre Skrupel sind unnötig. Erikson ist bereits tot. Schaffen wir endlich klare Verhältnisse.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich red’ von Kolschitzky.
GRANTLER Wissen Sie, woher Kolschitzky ursprünglich kommt? Nein? Sehen Sie: Wir wissen wenig, aber was wir wissen, genügt vollkommen, damit wir sagen können: Er hat bei uns kein Bürgerrecht.
SANDERS Wir allein bestimmen, wer drinnen ist und wer draußen bleibt. Darin sind wir uns einig, nicht wahr, Herr Minister? Unsre Grenzen sind unantastbar, das Recht auf ihre Unversehrtheit ist unveräußerlich.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major, bezieht sich das nicht auf die Menschen?
SANDERS Ich glaube an das Gute, drum bin ich ein Humanist. Aber als Humanist muss man über Leichen gehen, wenn man das Gute retten will. Erst die Leiche macht den Humanisten.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Schön gesagt, Major. Ich bin zwar grundsätzlich fürs Ökonomische, aber Ideale haben ihren Preis.
SANDERS Wenn man nicht zum Heuchler werden will, darf man keine leeren Worte verlieren.
GRANTLER Wir sind uns also einig? Die Zeit drängt, wir müssen Kolschitzky ins Bild setzen!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Vor allem sollten wir ihn auf die Probe stellen. Wir dürfen uns keinen Pfusch erlauben.
2. Akt, fünfte Szene
(Kolschitzky auf)
GRANTLER Wo bleiben Sie denn, Kolschitzy?! Zeit für uns alle, unser Wissen zu überprüfen.
KOLSCHITZKY Jetzt?
GRANTLER Die Zeit drängt.
KOLSCHITZKY Draußen drängt der isländische Botschafter darauf, eingelassen zu werden.
SANDERS Nur ein Anfänger geht so plump vor. Er hat keine Ahnung von Taktik.
GRANTLER Beginnen wir mit dem ABC der Völkerfreundschaft. Dem Gewinner winkt wie immer ein Geschenkkorb. Erste Frage: Wie hoch ist der Anteil an Fremden in der Bevölkerung? A: 14%, B: 23%, C: 39%?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Woher kommen auf einmal die Ausländer?
GRANTLER Kolschitzky?
KOLSCHITZKY A, B, C …?
SANDERS Will er uns ’s Alphabet beibringen?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wo wir mühelos das Wort Völkerfreundschaft vor- und rückwärts buchstabieren können.
KOLSCHITZKY Die Aufgabe ist schwer. Ich möcht’ einen Joker.
GRANTLER Sanders, Blomberg?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich schliesse D aus.
SANDERS D ist unmöglich richtig.
KOLSCHITZKY C?
GRANTLER Falsch, Kolschitzky! Der Anteil beträgt weniger als 1%.
SANDERS Dabei haben wir ihm geholfen.
KOLSCHITZKY Wie soll ich da eine Chance haben?
SANDERS Er denkt, er hätt’ Anspruch auf den Hauptgewinn.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Als gäb’s Aussichten für einen wie ihn. Wir verstehen Sie, Kolschitzky, der Blick in den Spiegel muss eine Qual sein. Aber wir ertragen es noch viel weniger, einen Krüppel anzuschauen.
SANDERS Wir müssen ihn leider ans Messer liefern, auch wenn wir ihm freundlich gesinnt sind.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Und auch Afrika.
SANDERS Mit Afrika sind wir nicht befreundet!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich red’ aus Prinzip, Major. Alles muss schließlich eine Ordnung haben. ’S ist den Elenden nicht geholfen, wenn wir ihnen helfen und sie dann später ohne unsre Hilfe umkommen. Wir sind dem Elend der andern ausgeliefert. Das ist unsre Tragödie.
SANDERS Sie spielt sich auch bei uns ab. Denn wenn einer an der Grenze steht, muss man ihn an der Einreise hindern, weil er, ist er erst einmal eingereist, wieder ausreisen muss. Nur so bleiben wir human. Das verstehen Sie doch, Kolschitzky?
GRANTLER Schauen Sie sich den Minister an! Ein Mensch wie Blomberg wälzt sich nachts von einer Seite auf die andre, er rauft sich aus Verzweiflung die Haare, er kämpft sich aus dem Bettlaken, steht auf, rennt mit dem Kopf gegen die Wand, weil er nicht weiß, wie er die Kraft aufbringen soll, Afrika sich selbst zu überlassen. Erst in den frühen Morgenstunden, wenn überhaupt, weint er sich vor Erschöpfung wie ein kleines Kind in den Schlaf. Nichts erscheint ihm so schwer wie die Aufgabe, Afrika sich selbst zu überlassen. Ist es nicht zum Heulen, Kolschitzky?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Weint er?
SANDERS Mitleid hilft keinem. Schütteln Sie es von sich ab.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Schon fühl’ ich mich leichter.
GRANTLER Kommen wir zur letzten Frage im ABC der Völkerfreundschaft: Wer hat das Mädchen unsittlich angefasst?
KOLSCHITZKY Welches Mädchen?
SANDERS Er fragt tatsächlich, welches Mädchen.
KOLSCHITZKY Marylin?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Das hier ist kein Spiel.
GRANTLER Also, Kolschitzky, wer hat das Mädchen angefasst?
SANDERS Als ob’s verschiedene Möglichkeiten gäb’. Das muss er wissen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM DAS WEISS JEDER. Auch ein Analphabet.
KOLSCHITZKY Unser Freund?
SANDERS Was hat er gesagt: Freund oder Feind? Warum schließt er nicht endlich die Fenster?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er hat den Verstand verloren.
GRANTLER Wer ist unser Freund, Kolschitzky?
KOLSCHITZKY Sie haben vorhin von der letzten Frage gesprochen.
GRANTLER Sanders, Blomberg?
SANDERS Den Schuft erkenn’ ich blind.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Freund – Feind, sollte man nicht pragmatisch denken? ’S könnte von Vorteil sein, mit Schottland befreundet zu sein.
SANDERS Ich hör’ wohl nicht recht! Sie denken wirklich, Sie können mit dem Feind ins Geschäft kommen?!
GRANTLER Genug! Der Geschenkkorb geht heute an Kolschitzky.
KOLSCHITZKY Ach – ’S liegt nur ein Knochen drin.
GRANTLER Das ist Hamlets Knochen. Wo der Hund nur bleibt? Übrigens, Kolschitzky, haben Sie Erikson aufgetrieben?
KOLSCHITZKY Herr Präsident?
GRANTLER Nein? Was sollen wir machen, Kolschitzky? Da alle Welt Erikson sehen will, dürfen wir dem Volk und vor allem auch dem Botschafter den isländischen Präsidenten nicht länger vorenthalten. ’S ist höchste Zeit, dass er sich zeigt.
KOLSCHITZKY Ist er hier?
GRANTLER Sie haben sich im ABC der Völkerfreundschaft gut geschlagen, drum betrauen wir Sie mit einer besonderen Aufgabe. Sie selbst werden als Erikson auf den Balkon treten und das Volk begrüßen.
KOLSCHITZKY Ich seh’ nicht aus wie Erikson.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir werden mit Ihnen üben. Den Rest überlassen Sie der Maske.
KOLSCHITZKY Das steht so nicht in meinem Vertrag. Aufräumen, die Papiere ordnen – von Erikson steht nichts drin.
SANDERS Dem Kerl gehören die Flügel gestutzt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S ist eine Auszeichnung!
SANDERS Sie bekommen das Porträt des Präsidenten.
KOLSCHITZKY Ich seh’ den Präsidenten jeden Tag.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Stellen Sie’s auf den Nachttisch. Wir legen noch einen Orden drauf.
KOLSCHITZKY Wenn ich Erikson bin, was geschieht dann mit mir?
SANDERS Denken Sie an den General!
KOLSCHITZKY Der General stinkt.
GRANTLER Was ist mit dem isländischen Botschafter? Lang werden Sie’s nicht mehr machen.
KOLSCHITZKY Ich kenn’ meine Rechte.
GRANTLER Außergewöhnliche Situationen verlangen außergewöhnliche Maßnahmen. Das ist die wichtigste Lektion, die Sie je zu lernen hatten. Sicher haben Sie einen Vertrag. Aber er gilt für den Normalfall, wenn Sie auf dem Boden rumkriechen und meine Rede verschlampen. In einer Situation, wie sie jetzt herrscht, gelten andre Gesetze. ’S ist eine Frage der Staatsräson. Wir müssen das Volk besänftigen, den Frieden wahren. Wir verlangen also nichts Unrechtes von Ihnen, wenn Sie als Erikson nach draußen gehen. Wir erwarten von Ihnen lediglich, dass auch Sie wollen, was für das Land nützlich und notwendig ist. In einer solchen Situation ist alles möglich, Kolschitzky! Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Und jetzt ab in die Maske. (Kolschitzky ab)
2. Akt, sechste Szene
(Kolschitzky auf, nackt)
GRANTLER Kolschitzky!
SANDERS Er sieht blass aus.
GRANTLER ’S liegt an der Maske.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie stehn krumm, Kolschitzky.
KOLSCHITZKY Ich steh schon lange so.
GRANTLER ’S ist seine Natur, durch jahrelange Übung perfektioniert. Tagaus tagein hält er seinen Nacken hin, damit andre bequem ihren Fuß drauf setzen können.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ein trostloser Anblick.
KOLSCHITZKY Der Botschafter hat mich nicht erkannt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wir müssen ihn besser herrichten.
SANDERS Nehmen Sie die Schultern zurück.
GRANTLER Damit das Volk den Kopf nicht hängen lässt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Vergessen Sie nicht, dass Sie eine bedeutende Persönlichkeit darstellen.
SANDERS Die Form ist alles.
GRANTLER An der Form erkennt man den Krüppel.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Stehn Sie grade! Soll das Volk in die Knie gehn, damit es Ihnen ins Gesicht schauen kann?
GRANTLER Was gibt’s denn da zu sehen?
SANDERS Kann sein, ein Schuft gibt sich zu erkennen.
KOLSCHITZKY In die Knie …
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht Sie! Tölpel.
SANDERS Das Körpergewicht gehört gleichmäßig verteilt. Zentrieren Sie sich!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er hat noch nie was von Grounding gehört.
SANDERS Gleich fällt er hin.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Will er sich niederwerfen? ’S ist keine Messe.
GRANTLER Auch wenn lauter Schafe vor Ihnen stehn. Was ist das für ein Lärm?
KOLSCHITZKY Das Volk. Sie werfen mit Steinen.
SANDERS Unverschämter Kerl, wo schauen Sie hin?! Der Blick geht nur bis zur Schulter.
GRANTLER Gibt’s da was zu sehen?
KOLSCHITZKY Ich seh nichts.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wo ist die Schulter, Kolschitzky? Hoch die Augen!
KOLSCHITZKY So?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Den Himmel hab ich nicht gemeint.
SANDERS Als ob’s da oben etwas zu sehen gäb’.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht für einen Krüppel. Will er sich als Märtyrer gebärden? Der Buckel muss weg.
KOLSCHITZKY Jetzt?
GRANTLER Früher oder später wird der Mensch melancholisch.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Keine Gymnastik. ’S muss von innen her kommen.
KOLSCHITZKY Ich friere.
SANDERS Stehen Sie gefälligst stramm!
BLOMBERG-PAPPENHEIM GRÖSSE. STOLZ. Schauen Sie über die Menge hinweg. So schwer ist das doch nicht.
KOLSCHITZKY Ich seh’ keinen. Jetzt hab’ ich mich verrenkt.
GRANTLER Er wirkt bekümmert.
SANDERS Der Blick muss fest und siegesgewiss sein. Vor Ihrem innern Auge sehen Sie die Schlachten.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Reell. Sie schauen abstrakt.
GRANTLER Er ist kurzsichtig.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ihnen fehlt jegliches Talent zur Größe. Richten Sie sich auf!
GRANTLER Kolschitzky denkt, Sie wollen ihn aufrichten, in Wahrheit richten wir ihn hin. Hinter jedem Herrscher steht ein Krüppel.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er sieht angestrengt aus, zu wenig staatsmännisch.
SANDERS Dabei ist’s ein Kinderspiel. Schauen Sie ernst drein, aber nicht gequält.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Aber auch nicht so, als hätten Sie nichts Bessres zu tun. Nehmen Sie das Volk fest in den Blick!
SANDERS Jetzt blickt er starr, als hätte er eine Gräte verschluckt. Nehmen Sie sich ein Beispiel an – am General.
GRANTLER Am General fressen sich die Würmer satt.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Dann eben an Erikson.
KOLSCHITZKY Das bin ich – oder nicht?
GRANTLER Adenauer. Friedrich II. Jelzin.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Alles Russen …?
KOLSCHITZKY Russisch kann ich nicht.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie stehen auf dem Balkon. Lächeln Sie!
KOLSCHITZKY Ich steh’ nicht gern auf dem Balkon, ich hab’ Höhenangst.
GRANTLER Wär’ Kolschitzky kein Krüppel, so wär’ er doch ein Hund und würd’ den Schwanz einziehen.
SANDERS Der Hund stammt vom Wolf ab. Wenn man ihn nicht abrichtet, wird er zur Bestie.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Lächeln Sie! Der Mensch will, dass man ihn anlächelt.
KOLSCHITZKY Jetzt freue ich mich.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie übertreiben, wie es schlechte Schauspieler immer tun. Man serviert Ihnen keinen Gänsebraten. Vergessen Sie später nicht den Bruderkuss.
GRANTLER Schon der Vater sitzt mir im Nacken, da brauch ich nicht noch einen Bruder am Hals.
KOLSCHITZKY Wen muss ich küssen?
GRANTLER Von der Diplomatie wird einem früher oder später übel.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was haben Sie in all den Jahren hier bei uns eigentlich gelernt?
SANDERS Was wird das?
KOLSCHITZKY Ich muss –
SANDERS Stillgestanden!
KOLSCHITZKY Aber ich muss mal.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht auf dem Balkon!
SANDERS Denken Sie an Ihre Größe. Wollen Sie übers Geländer urinieren?
KOLSCHITZKY Mir gleich.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nicht auf dem Balkon! Sagen Sie ein zwei Worte zur Begrüßung.
KOLSCHITZKY Grenzen zu. Zugrenzen. Nein – abgrenzen?
GRANTLER Das ist zu kompliziert.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Finden Sie ein paar nette Worte. Denken Sie an die Öffentlichkeit.
KOLSCHITZKY GRÜSS GOTT?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Keine Fragen.
GRANTLER Machen Sie einen hübschen Kotau vor der Öffentlichkeit, aber nicht so, dass Sie auf die Nase fallen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Winken Sie.
SANDERS Sie winken mit der rechten Hand, als würden Sie’s Scharnier beim Helm öffnen. Vergessen Sie nicht, ’s ist eine Geste des Friedens!
KOLSCHITZKY Kann ich mich setzen?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Die Welt erwartet von Ihnen, dass Sie stehen. Aber nicht irgendwie. ’S hilft alles nichts: Jetzt hängt er wieder in den Knien.
SANDERS Lieber wollen wir stehend sterben als kniend leben.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Still … Man spielt die Nationalhymne.
GRANTLER Haben Sie noch was zu sagen, Kolschitzky? Letzte Worte?
KOLSCHITZKY ’S steht so nicht in meinem Vertrag.
3. Akt, erste und einzige Szene
SPRECHER Jetzt steht er auf dem Balkon.
SANDERS Wer? Können Sie lauter drehen?
GRANTLER Erikson.
SANDERS Der Krüppel ist draußen?
SPRECHER Seine Augen sind in die Ferne gerichtet.
GRANTLER Kolschitzky ist kurzsichtig.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S fehlt ihm der Weitblick. Er wird nichts erkennen.
SANDERS Schon gar nicht den Schuft unter uns. Dafür braucht’s ein geübtes Auge.
SPRECHER Aus der Menge weht Erikson ein rauer Wind entgegen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was für ein Lärm! Wie soll man sich dabei konzentrieren?
SANDERS Mir ist schwindlig – und wo ist der Sessel? Auf den Krüppel war nie Verlass! Jetzt wissen wir, dass er von Anfang an böswillig war.
SPRECHER Der Wind, der Erikson aus der Menge entgegenweht, ergreift eine Perücke. Erikson streckt die Arme aus, aber vergeblich. Er hat keine Chance, die dahinschwindende Perücke zu fassen. Er sieht traurig aus.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Haben wir ihm nicht beigebracht, freundlich zu lächeln?
SANDERS Ich spür’, dass sein Blick die zulässige Höhe bereits verlassen hat und nach unten wandert. Der Blick des Humanisten richtet sich aber auf die Schulter, niemals wandert er unter die Schulter. Der Humanist braucht die Schulter zum Ausweinen. Auch wenn ich nie weine.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er wird doch nicht vergessen, das Volk zu grüßen?
SPRECHER Erikson schaut gequält.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S ist ein Versager.
SPRECHER Der raue Wind, der ihm entgegenweht, hat sich zu einem Orkan ausgewachsen. Die ersten Steine fliegen. Sie fliegen Erikson um die Ohren.
SANDERS Bestimmt hängt der Ellbogen. Aber ich hab’s von dem Schuft nicht anders erwartet.
GRANTLER Weil dem Krüppel die Kraft fehlt, seine Faust zu erheben, wird er früher oder später den Gruß machen. Ein Gruß kostet weniger und bringt mehr ein.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Er wird sich hoffentlich nicht entblöden, eine Rede zu halten.
SPRECHER Erikson öffnet den Mund, langsam, bedächtig, als wüsst’ er im Vornherein, dass seine Worte kein Gehör finden werden. Das Volk steht den Reykjavíker Verträgen bekanntlich ablehnend gegenüber. Ja, sein Mund offenbart, noch ehe ein Wort gesprochen ist, schon die Vergeblichkeit des Versuchs.
SANDERS Reden bringt nichts. Man muss den Schuft ohne billige Worte hinrichten.
SPRECHER Die Erde bebt. Leider fliegen die Steine Erikson nicht mehr nur um den Kopf, jetzt treffen sie besagten Körperteil auch. Er schützt mit den Händen, die eben noch zum Gruß erhoben waren, seinen Kopf, so gut es ihm möglich ist.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Was war das?
SANDERS Ein Schuss, Herr Minister.
SPRECHER Auf dem Balkon ereignet sich eine Tragödie. Aus der aufgebrachten Menge hat sich ein Schuss gelöst! Erikson hat mit den Händen zwar den Kopf geschützt, der Leib aber war schutzlos. Der Schuss hat ihn getroffen.
GRANTLER Er ist getroffen!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ist der Krüppel tot?
SPRECHER Er macht keinen Wank mehr.
GRANTLER Jetzt kommt jede Hilfe zu spät.
SANDERS Das Terrain ist also geklärt, der Feind erledigt. Sie haben da einen Staub auf der Nase.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Schon wieder? Wir brauchen uns nichts vorzuwerfen, ’s ist alles korrekt abgewickelt.
GRANTLER Ein Schuss aus dem Volk hat unsern Völkerfreund getötet. Wir werden den Schuldigen finden und ihn zur Rechenschaft ziehen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Nach Kolschitzky wird niemand fragen.
GRANTLER Wie auch? Er hat noch nicht einmal einen Bückling zustande gebracht. Dass Sie daran überhaupt einen Gedanken verschwenden. Was sehen Sie?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Chaos, Krieg.
GRANTLER Nichts Neues also. Was machen wir mit dem Knochen?
(das Telefon klingelt)
GRANTLER Major!
SANDERS (am Telefon) Was sagen Sie? Die Anweisungen für die Grenzposten waren klar! Sind Sie schwerhörig? Die Zeitung können Sie später lesen. Als ob da was drinstände. Und was ist dann passiert? (hört zu, legt auf)
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major?
SANDERS Der Gefreite, der Erikson verfolgt hat, ist gestolpert. Dabei hat sich ein Schuss gelöst.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wenn’s weiter nichts ist. Warum war er auch in geheimer Mission unterwegs? Sieh an, der „Stern der Völkerfreundschaft“! Er lag unter dem Stapel mit den Toten.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Still! Ist das nicht – ?
GRANTLER Klingt wie ein Trauermarsch.
SANDERS Die Nationalhymne?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Erheben wir uns! Reichen wir den Völkern unsre Hand. „Große Vergangenheit verpflichtet.“ Jelzin. Adenauer. Friedrich II. Alles Russen.
GRANTLER Ihre Russen hängen mir zum Hals raus, Blomberg! Wenn der Vater heut’ Nacht wieder vor mir steht, werd’ ich ihm mit seiner Lanze den Garaus machen.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie spielen schon wieder zu hitzig, dabei brauch’ ich einen kühlen Kopf. ’S wär jetzt an der Zeit, eine Traueransprache zu halten, Herr Präsident. ’S ist eine Frage des Anstands.
GRANTLER Wenn der Mensch eine Migräne hat, gehört er ins Bett und das Licht aus. Sehr verehrte Damen und Herren, sehr verehrte Gäste –
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie vergessen das Volk!
SANDERS Wollten wir nicht mit dem Gemetzel beginnen?
GRANTLER Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste –
BLOMBERG-PAPPENHEIM Das Volk, Herr Präsident!
GRANTLER Kommen Sie mir nicht mit dem Volk, Blomberg! Eine Rede ist schon aberwitzig genug. Sehr geehrte Damen und Herren, sehr verehrte Gäste – gestrichen! Streichen wir den Rest auch.
EPILOG
BLOMBERG-PAPPENHEIM Major, wie ist die Lage?
SANDERS Der Angriff erfolgt von Westen. Die ersten Zerstörer erreichen in wenigen Stunden die Küste.
BLOMBERG-PAPPENHEIM ’S ist ein einfaches Gelände, das bedeutet wahrscheinlich leichtes Spiel.
SANDERS Haben Sie Ihre Einheiten verlegt, General Wilson?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Wie kommen Sie darauf?! Die Panzereinheiten standen schon vorher auf Feld 24.11.
SANDERS Das ist wider die Regeln! Sie haben die Panzer nicht aufgetankt. Zudem dürfen Sie mich in Feld 25.11 gar nicht angreifen. Hat sie was gesagt?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Sie wissen doch, dass Marylin nicht spricht. „Ach, ach“, mehr nicht.
SANDERS Und wenn, ich trau ihr nicht über den Weg. Wie laufen die Geschäfte?
BLOMBERG-PAPPENHEIM Radschützenpanzer, Flugabwehrkanonen, Munition – aus Schottland kommen jetzt fast täglich neue Bestellungen. Die Kassen füllen sich.
SANDERS Achten Sie auf Ihr Versorgungsnetz!
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich hab’ den Brückenkopf noch nicht gesichert. Andererseits sollte ich mit dem Angriff nicht zuwarten. Wie stehen die Chancen für Island, Major?
SANDERS ’S sieht schlecht aus. Die Isländer sind den Schotten schon rein zahlenmäßig unterlegen. Und wenn man unser Kriegsmaterial dazurechnet …
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ich werd’ die Kampfstärke verdoppeln; wer wagt, gewinnt. Nur gut, dass die Reykjavíker Verträge vom Tisch sind. Die Straßen sind leer.
SANDERS Endlich hat’s ein Ende mit dem Lärm. Wie wär’s mit der Landung in der Normandie? Wir sind schon zu lange mit der Invasion in Syrien beschäftigt. Durch die vielen Unterbrechungen hab’ ich den Spaß verloren.
BLOMBERG-PAPPENHEIM Ach, würfeln wir ein letztes Mal in Syrien!
© Hartmann & Stauffacher 2017 Ein Auftragswerk für das Konzert Theater Bern in Zusammenarbeit mit Stück Labor.