Landvermessung: der Norden
Das letzte Stadttheater vor New York
Wie das Theater in Bremerhaven zwischen Containerumschlag und Karaokebar zum Generator für Sehnsüchte und Geschichten wird
Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)
Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Stadttheater Bremerhaven
Und endlich wirft jemand die Discokugel an. Kurze Auszeit vom Elend. In der philippinischen Karaokebar kreisen die Sterne. Glitzer auf der schäbigen Theke. Glitzer auf dem Rücken des Seemanns. Glitzer auf Mandys Gesicht. „I am sailing“, grölt sie ins Mikro dieser abgerockten Kneipe, die Regisseur Jens Poth hier ins Kleine Haus des Bremerhavener Stadttheaters gesetzt hat. Was auch sonst. Bloß fort, fort, fort. Vielleicht wird es anderswo besser. Ihr rotsträhniges Haar schwingt vor einer sonnenuntergangsroten Tapete: Palmen, das Meer, nur von ein paar Fotos überpinnt. Männer aus Übersee vor einer Wand aus Containern. „Anderswo“, vielleicht liegt das für diese Männer ja genau hier?
Bremerhaven, ja, das ist ein heißes Pflaster. Umschlagplatz des Lebens. Motor der Region. Mit seinen kilometerlangen Hafenanlagen, Schiffsterminals und Containerkränen, die wie gierige Gliedmaßen allzeit bereit in den Himmel staken, wirkt die Stadt wie eine gigantische Güter-, Menschen- und Geld-Verteilungsmaschinerie. Ständig in Bewegung – und doch halb erstarrt. Nach dem Niedergang der Hochseefischerei brach dem einst größten Fischereihafen Europas ein wichtiger Wirtschaftszweig weg. Auch die weltweite Werftenkrise traf die Hansestadt hart. Die Arbeitslosigkeit stieg Ende der Neunziger auf westdeutsches Rekordniveau, von dem sich die Stadt durch Investitionen in die Off- Shore-Industrie und den Tourismus nur langsam erholt. Was jedoch blieb, ist der Containerumschlag. Ein ständiges Kommen und Gehen, das dem Leben hier etwas Flüchtiges verleiht – wie damals, als sich von Bremerhaven aus Zehntausende auf den Weg in die Neue Welt machten.
Der Berliner Dramatiker Dirk Laucke hat sich hier auf Einladung des Bremerhavener Stadttheaters monatelang herumgetrieben. Ließ sich von dem gnadenlos auf Effizienz getrimmten Hafenbetrieb mitreißen, saß in Reedereibüros und Mannschaftsmessen oder hörte dem dumpfen Brüten der nur für Stunden an diesen Ort gebundenen Seeleute in der Seemannsmission zu. Entstanden ist daraus ein Auftragswerk, „Cargonauten“, ein wild-wucherndes Stadtporträt, inszeniert von Jens Poth, das Bremerhaven so zeigt, wie es ist: ungeschminkt, rau, ruppig und doch auch auf hemdsärmelige Art lebensklug, fast philosophisch. „Die letzte Kneipe vor New York“ heißt hier die berühmteste Bar am Ort. Das klingt nach Hafenromantik, klar, aber auch nach einem Möglichkeitsraum, nach einem Blick, der weiter geht als bis zur hiesigen Waterkant. Bremerhaven – das ist eben auch ein Generator für Sehnsüchte und Geschichten.
Das Stadttheater Bremerhaven hat sich seit der Intendanz von Ulrich Mokrusch zu einem Experten für diese Geschichten entwickelt. Oder besser gesagt: Es ist selbst zu einer Geschichte geworden, zu einer Metaerzählung, die zahlreiche Geschichten dieser Stadt vereint, vielleicht gar selbst Stadt ist, eine Geschichtenstadt, eine Stadt der Leute, deren Grenzen zwischen drinnen und draußen längst verschwimmen. Natalie Driemeyer jedenfalls, Chefdramaturgin und ehemalige Assistentin von Amelie Deuflhardt auf Kampnagel, hält nicht viel davon, ihre Zeit ausschließlich im Haupthaus zu verbringen. Ausschwärmen, Leute kennenlernen, an Türen klopfen, lautet vielmehr ihre Devise, mit der sie den ganzen Schauspielbetrieb auf Trab hält. Oder vielmehr: im Galopp.
Gleich in der ersten Spielzeit kurvten sie und der Berliner Regisseur Jörg Lukas Matthaei durch die Stadt, besuchten türkische Männercafés, Wohngruppen für minderjährige Mütter sowie die Kantine des North-Sea-Terminals Bremerhaven und sammelten Geschichten, Geschichten, Geschichten, die später in das Wahnsinnsprojekt „Verzögerte Heimkehr. Einige reisen nach Eldorado“ einflossen. Es gab Projekte im Schifffahrtsmuseum („Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny), im Auswandererhaus (Kafkas „Amerika“ in einer Fassung von Nora Mansmann) und im Hafen: „Die Filchner-Barriere“ in Koproduktion mit der Künstlergruppe Das Letzte Kleinod, die an der Columbuskaje spielte, wo 1958 Elvis Presley als GI das erste Mal deutschen Boden betrat.
Mit Dirk Laucke schließlich sollte es auf See gehen: eine Woche auf einem Containerschiff. Doch die Reederei ging vorher pleite, der Reeder hatte sich verzockt. Auch das ist Bremerhaven. Nicht fortkommen können. Gestrandet sein. Wie die illegalen Flüchtlinge, die in Lauckes „Cargonauten“ in einem der Schiffsbäuche hocken und nicht wissen, wohin. Ein Ereignis, das sich 2002 hier zugetragen hat und die kalte Ökonomie im Hafen für Tage unterbrach. „Weißt du, was das eigentliche Problem bei der Seefahrt ist?“, sagt Hafensanitäter Jakob. „Der Mensch. Der Mensch, der einfach mal nicht für nach dem Fahrplan von irgendwelchen geldgierigen Hirnis und für nach nix als Strom aus der Dose gierigen Rechner funktioniert. Und dieser Fahrplan ist für plus minus 30 Minuten genau, weltweit. Die Schwächen sind menschlich, die Schwachpunkte in der Seefahrt sind das Unkalkulierbare der Menschen, wofür es Hunderte für Beispiele für gibt. Hunderte für Beispiele. Hunderte.“
Die philippinische Karaokebar aus Lauckes „Cargonauten“ gibt es tatsächlich. Draußen auf der Lessingstraße: Bremerhavens größter Puff. Monoton, fast seriell reiht sich hier Schaufenster an Schaufenster, darin strapsbeinige Mädels, die sich verführerisch räkeln. Doch von all dem sehen wir zunächst einmal nichts. „Rufen Sie an, wenn Sie wieder zurückwollen“, hatte uns der Fahrer noch zugeraunt, als wir wenige Minuten zuvor in seinen Wagen gekraxelt waren. Aber da ging es auch schon los, in einem Affenzahn durch die Stadt. Rechts um die Kurve, links um die Kurve, vielleicht auch mehrmals um den gleichen Block. Jedenfalls vermuteten wir das, denn unsere Augen waren die ganze Fahrt lang verbunden.
„Verzögerte Heimkehr. Einige reisen nach Eldorado“ war das bislang radikalste Projekt des Bremerhavener Stadttheaters unter Ulrich Mokrusch. Und eines der flüchtigsten, zartesten zugleich, weil es, zumindest im ersten Teil, rein aus erzählten Erinnerungen bestand. In Ecken schaute, in die man sonst nicht guckt. Luftschlösser baute, von denen man hier sonst nur träumt. Das Hotel Naber, vis-à-vis dem Stadttheater gelegen, ist ein solches Luftschloss, ein Traum aus alter Zeit: Im Nachkriegsdeutschland als Zentrum einer sich als weltstädtisch verstehenden Stadtgemeinschaft errichtet – Bundespräsidenten gingen hier ein und aus, Howard Carpendale schlurfte durchs Foyer, in den Clubräumen trafen sich Vereine, im Restaurant die Gourmets der Stadt –, ist heute davon nur das Gebäude erhalten: ein nüchterner Zweckbau aus den fünfziger Jahren, leerstehend, aber nicht verlassen. Es zischelt aus allen Ecken und Gängen.
„Herein!“ Ich schlucke. Zimmer 7. Ausgerechnet. Doch drinnen wartet kein Geist, sondern ein Mann mit dem Namen Hans-Jürgen. „Nehmen Sie Platz“, sagt er freundlich und beginnt dann auch gleich zu erzählen, von der Werft, die pleiteging, und seinem Zweitjob als Koch. Ein Menschenleben zieht vorbei, ein Bremerhavener Leben, wiedergegeben von einem Double, das selbst Bremerhavener ist. Von diesen gab es viele im März 2011, als das alte Hotel Naber zur „Verzögerten Heimkehr“ für wenige Wochen wieder öffnete, Erwachsene und Kinder, die sich Geschichten angeeignet hatten, die nicht ihre waren und doch irgendwie in die Stadt und dieses Hotel gehörten. Von der Tänzerin, die hier auf Kongressen tanzte. Oder der Bediensteten der Fish-Food-Kette Nordsee. Im Badezimmer stehend, auf Betten hockend oder durch Schlüssellöcher linsend wurde der Zuschauer dabei zum Voyeur, bis er sich selbst heillos verstrickt in einer dieser Geschichten wiederfand. Ausgesetzt nach einer rasanten Fahrt durch die Stadt. Im türkischen Männercafé oder einer Hafenkantine. Mit einem Zuschauer an der Seite, den die Reise, ebenso wie einen selbst, per Losverfahren getroffen hatte.
Und so sitzen wir dann da in der philippinischen Bar Mabuhay, mit Bier in der Hand und Glitzer im Gesicht. „Home again ’cross the sea“, geht Mandys Zeile in Lauckes „Cargonauten“ weiter. Ja, vielleicht muss man erst das Meer überqueren, um wirklich anzukommen. //